Wieder erzählt Ursula Le Guin eine Geschichte aus ihrem „Hainish“-Universum, dem Universum der Liga, die hier Ökumene¹ heißt. Die junge Terranerin Sutty arbeitet als Beobachterin der Ökumene auf Aka, einem Planeten, der zweiundsiebzig Jahre vor der erzählten Zeit zum ersten Mal angeflogen wurde – von einem terranischen Schiff. Die Umstände des Besuches bleiben lange im Dunklen, aber die Folgen liegen sofort klar vor Augen: Die Körperschaft (die herrschende Beamtenschicht Akas) propagiert den rückhaltlosen Fortschritt, macht aus der Wissenschaft eine Quasireligion und aus der Mitgliedschaft in der Ökumene das Paradies; andererseits dürfen sich nur vier Fremdweltler auf Aka aufhalten, noch dazu in ihrer Bewegungs- und Informationsfreiheit sehr eingeschränkt.
Doch nicht nur deshalb ist Sutty unglücklich: Sie wollte auf dem Planeten als Linguistin und Historikerin arbeiten, aber die Zeugnisse der alten, hochentwickelten Kultur Akas wurden vernichtet, ihr anzuhängen gilt als Verbrechen; die offizielle Sprache ist nur noch Dovzanisch, das Idiom der Zentralregion; die alte Ideogramm-Schrift ist verboten, ebenso bestimmte Wörter, die an früher erinnern. Sutty trifft das doppelt hart, da sie gehofft hatte, hier ein Stück ihrer Vergangenheit zu überwinden – sie wuchs auf einer Erde auf, die von den Unisten beherrscht wurde, gläubigen Fundamentalisten, die im Namen des Einen Wortes und des Einen Buches Kunst und Wissenschaft bekämpften (gleich auf den ersten Seiten wird die Kongressbibliothek in Washington dem Erdboden gleichgemacht und dem Vergessen überantwortet). Fundamentalismus da, Fundamentalismus hier; Sutty, die aus einer Familie verfolgter Intellektueller stammt, erlebt nun auf Aka Methoden, die fatal an die chinesische Kulturrevolution, die kulturelle Gleichschaltung in der Sowjetunion und die Aktionen der Nazis erinnern: Parolen, Hetze, Spitzel, Verfolgung und Lager für Künstler und Gelehrte – und eine staatlich geförderte Pseudokunst. Doch dann scheint sich das Blatt zu wenden: Sie erhält als erste Fremdweltlerin die Erlaubnis, Dovza zu verlassen, in Richtung einer kleinen Gebirgsstadt, wo sie Reste der alten Kultur der Erzähler, der Maz, entdeckt …
Wie seit vielen Jahren, so erzählt Ursula Le Guin auch dieses Buch ruhig, ohne spektakuläre Höhepunkte, mit Psychologie und Philosophie. Die Geschichte lebt von zwei Spannungsmomenten: Einmal muss Sutty ihre Vergangenheit verarbeiten und mit sich selbst in ein Gleichgewicht kommen, zum anderen bewegt den Leser die Frage, ob die alte Kultur doch noch einmal eine Chance erhält. Hinzu kommt eine beachtliche „Komplexität in Andeutungen“: Auf knappem Raum (nicht einmal 230 Seiten) kann die Autorin vor uns nicht nur das Innenleben der Protagonistin glaubhaft erstehen lassen, sondern auch ein Stück irdischer Geschichte, Akas Entwicklung und vor allem die Kultur der Erzähler (die kaum zu beschreiben ist, aber in vielem an östliche Weisheit und Ganzheitlichkeit erinnert). Doch nicht genug damit: Auch knappe, aber lebendige Landschafts- und Stadtschilderungen befördern das Entstehen eines Bildes jener fremden Welt, und die Nebenfiguren, wenngleich meist nur in wenigen Zügen beschrieben, passen sich in dieses hervorragend ein. Der Leser ist eingeladen zur Kooperation, seine Phantasie ist gefragt, er füllt die Skizzen mit Details, mit Farben; wenn man bereit ist, sich auf den Text einzulassen, entsteht die Vorstellung eines Landes, das an Nepal erinnern mag, an Tibet, an abgelegene Winkel der Alpen, wo in Klöstern das Wissen gehütet wird – wer weiß …
Natürlich ist – wie stets – die Position der Autorin erkennbar. Zum einen schreibt sie gegen jeden Fundamentalismus: Aller Fundamentalismus ist Terrorismus, heißt es an einer Stelle. Zum anderen plädiert sie für die Verständigung zwischen Menschen, die trotz ihrer verschiedenen Biographien und Überzeugungen zueinander kommen können, wenn sie nur ihre Geschichten einander erzählen. Auch hier ist der Titel Programm: Als Sutty einen Maz fragt, warum sie sich mit einem „Monitor“ (einem hohen Beamten, einem „Feind“) unterhalten solle, antwortet dieser: „Um zu hören, was er zu erzählen hat.“ Zuhören und erzählen – dieses Paar, „die Zwei, die Eines sind“ bewegt den gesamten Text, dessen mir angenehme Haupteigenschaft, ich kann es nicht anders sagen, philosophische Gelassenheit ist; und er strahlt Hoffnung aus. Ursula Le Guin hat die Terraner nicht aufgegeben.
¹ Da ich den Originaltext nicht kenne, weiß ich nicht, ob Le Guin selbst eine andere Bezeichnung wählte oder ob die Übersetzerin sich für den Wechsel entschied; jedenfalls gibt es einige Unterschiede zur Liga der frühen |Hainish|-Romane, speziell zu deren Geschichte.
Taschenbuch: 236 Seiten
Originaltitel: The Telling
www.heyne.de
Peter Schünemann
Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins buchrezicenter.de veröffentlicht.