Ursula K. Le Guin – Die linke Hand der Dunkelheit

„Die linke Hand der Dunkelheit“ ist ein Klassiker von 1969, neu aufgelegt in |Heynes| wunderbarer Jubiläums-Edition. Hauptfigur ist der Gesandte Genly Ai, einziger Vertreter der Ökumene auf dem fernen Planeten Gethen. Die Ökumene ist ein Verbund aus 83 Welten für den wirtschaftlichen und vor allem kulturellen Austausch. Politische Macht wird jedoch nicht ausgeübt, jede Welt regiert sich selbst.

Genly Ai soll die Bewohner für einen Beitritt zur Ökumene gewinnen, doch seine Mission ist nicht leicht, denn Gethen unterscheidet sich sehr von Terra, der Heimat Genlys.

Zum einen ist da das harte Klima, Gethen steckt fest im Griff einer längeren Eiszeit, weshalb der Planet von Außenweltlern auch „Winter“ genannt wird. Ein viel grundlegenderer Unterschied ist jedoch die Natur der Gethianer. Sie sind nämlich androgyn und haben daher kein festgelegtes Geschlecht. Einmal im Monat kommt für sie die Paarungszeit, die Kemmer. Dann wandelt sich der Gethianer vom Neutrum zum männlichen oder auch weiblichen Wesen. Jeder kann dort also Kinder zeugen und empfangen, es gibt keine Rollenkonflikte oder Geschlechterkämpfe. Als Mann hat es Genly dort schwer, denn kaum jemand erkennt die Bedeutung seines Angebots, manche halten ihn gar für eine sexuelle Abnormität, einen Perversen.

Genly bleibt also Außenseiter, die Mentalität der Gethianer bleibt ihm fremd. Was hat es zum Beispiel mit dem |shifgrethor| auf sich, jener seltsamen Mischung aus Ehrenkodex und Prestige, die in den Beziehungen zwischen den Menschen, Familien und Staaten eine so große Rolle spielt? Warum macht es einem Gethianer trotz |shifgrethor| nichts aus, in der Öffentlichkeit zu weinen?

Jahrelang hat Genly schon sein Glück im Königreich von Karhide versucht, doch nur eine Audienz erhielt er beim König/der Königin. Dann wurde sein(e) bisherige(r) Fürsprecher(in) Estraven ins Exil verbannt, und sein Anliegen ist in Karhide gescheitert. Nun macht Genly sich auf in die benachbarte Nation Orgota, denn dort gehen die Uhren anders. Orgota ist ein zentralistisch regierter Staat mit einer straffen Verwaltung. Dort geht es zivilisiert zu, man wird ihm Gehör schenken …

„Die linke Hand der Dunkelheit“ ist kein feministisches Pamphlet oder eine politische Kampfschrift, es ist ein Buch der leisen Töne, still wie eine Winternacht und poetisch wie der erste Schnee. Dieser Eindruck entsteht durch die einfühlsamen Schilderungen Le Guins, deren Stil jene einzigartige Welt so lebendig erscheinen lässt. Der Bericht des Gesandten Genly wird zum Beispiel ergänzt durch Auszüge aus der Mythologie und Religion Gethens. So erfährt der Leser nicht nur etwas über das abweichende Äußere der Bewohner von Gethen, sonder erhält auch Einsicht in ihre Kultur, ihr Seelenleben. Obwohl die Autorin im Vorwort den Roman als Gedankenexperiment beschreibt, hat er doch so gar nichts von der klinischen Sterilität eines Versuchsaufbaus, im Gegenteil, das Buch steckt voller Leben.

Doch trotz dieser Poesie spielt das Buch nicht im luftleeren Raum, es sagt durchaus etwas über unser Leben, unsere Gesellschaft aus. Wie bei vielen Begegnungen enthüllt auch hier der Blick auf das fremde Wesen einiges über unsere eigene Natur. Sei es der Konflikt zwischen der altertümlichen Monarchie und dem ach so fortschrittlichen Zentralstaat, sei es das ewige höher-schneller-weiter bei uns, während auf Gethen der Verkehr mit geruhsamer Langsamkeit durch die ewigen Schneemassen gleitet.

Dieses Buch berauscht den Leser nicht mit einer Woge von Sex, Crime, Action und Gewalt, es entführt uns still und heimlich in eine andere Welt. Dort kommt dann langsam aber sicher die Frage hoch, ob wir wirklich in der besten aller Welten leben, frei und gleich in jeder Beziehung?

Es gibt sicher viele mögliche Interpretationen, Erklärungen, Philosophien und sonstiges zu diesem Buch. Im Vorwort wird dem Leser jedoch ganz zu Recht empfohlen, den Roman so zu nehmen, wie er ist. Jeder sollte sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Man wird nicht durch vordergründige Botschaften gelangweilt, sondern erlebt eine ferne Welt, die uns vielleicht doch nicht so fremd ist. Weniger hektisch, kühl und klar wie die Luft nach dem Schneefall.

Ein Roman, der nicht nur Science-Fiction-Fans gefallen hat und gefallen wird – das ist eine Eigenschaft wirklich guter SF, zu der sicher auch „Die linke Hand der Dunkelheit“ zählt.

Taschenbuch: 347 Seiten
www.heyne.de

Ralf Hoffrogge
Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins buchrezicenter.de veröffentlicht.