Ursula K. Le Guin – Die wilde Gabe. Phantastischer Roman

Eine Geschichte vom Erzählen und Befreien

In einem abgelegenen Hochland verfügen die Menschen über unheimliche magische Begabungen. So auch der junge Orrec, der andere mit seinem Blick töten kann. Doch Orrec hat die Gabe nicht unter Kontrolle. Bis eines Tages ein geheimnisvoller Fremder im Dorf auftaucht und Orrec erkennt, dass das Rätsel der Gabe und sein bisheriges Leben auf einer Lüge beruhen …

Die Autorin

Ursula Kroeber Le Guin, geboren 1929 als Tochter des berühmten Anthropologen Kroeber, ist meiner Ansicht nach eine bessere Schriftstellerin als C.S. Lewis (was etwa Jugend-Fantasy angeht), mit einem klareren Stil als Alan Garner (GB), origineller als Susan Cooper oder Joy Chant und schreibt flüssiger als alle ihre amerikanischen Nachahmer. Ihr Stil zeichnet sich durch anmutige Eleganz aus. Sie gehört zu den höchstdekorierten amerikanischen Schriftstellern überhaupt.

Am bekanntesten wurde sie durch ihren – verfilmten – Erdsee-Zyklus in dessen Universum sie immer neue Romane spielen lässt. Aber da sie von Haus aus einen anthropologischen Hintergrund hat (s. o.), spielen ihre frühen SF-Geschichten verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung des Menschen oder von alternativen Kulturen durch. Dazu gehört der frühe Hainish-Zyklus, der Roman „Die Geißel des Himmels“ und die preisgekrönten Romane „Die linke Hand der Dunkelheit“ (1969) sowie „Der Planet der Habenichtse“ (1974). In „Linke Hand“ beschreibt sie eine Kultur, die nicht von zwei verschiedenen Geschlechtern und deren determinierter Sexualität beherrscht wird. „Habenichtse“ entwirft die große Utopie der Anarchisten: keine Herrschaft, keine sozialen Unterschiede, nur Nächstenliebe und Freiheit – in Armut.

In zahlreichen Storysammlungen hat sich Le Guin sowohl in der Fantasy wie auch in Mainstream und SF als scharfsinnige Theoretikerin und Beobachterin erwiesen. Zu diesen Collections gehören besonders „Die zwölf Striche der Windrose“, „Die Kompassrose“, „Ein Fischer des Binnenmeeres“, „Four Ways to Forgiveness“ und zuletzt „Changing Planes“ (2005).

Le Guin hat auch Gedichte und Kinderbücher geschrieben, mit der Norton-Anthologie zur Science-Fiction erwies sie sich als wichtigste – und umstrittene – Initiatorin weiblicher Science-Fiction in den siebziger Jahren. Eine interessante und aktuelle Würdigung ihres Werks findet sich in Thomas M. Dischs Sachbuch „The dreams our stuff is made of. How science fiction conquered the world“ (1998). Diese kritischen und kenntnisreichen Essays werden sukzessive im „Heyne SF Jahr“ veröffentlicht. Relevant zu Le Guin sind die Kapitel „Can girls play too? Feminizing science fiction“ und „The third world and other alien nations“.

http://www.ursulakleguin.com/

Ursula K. Le Guin bei Buchwurm.info:
Die Geißel des Himmels
Rückkehr nach Erdsee
Hainish
Die Erzähler
Die linke Hand der Dunkelheit

Handlung

Das Hochland ist die Heimat von Orrec, dem fünfzehnjährigen Ich-Erzähler mit den verbundenen Augen, und seiner Vertrauten Gry. Beide sind Erben von Brantors, den Herrscherrn einer Domäne im Hochland: Orrec von Caspromant und Gry von Roddmant. Die Brantors verfügen über magische Begabungen, um ihre Domäne damit verteidigen zu können.

Die Gabe

Jedes Domänengeschlecht hat eine andere Gabe und sie wird nur innerhalb der Sippe vererbt, vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter. Als Orrec erwähnt, er habe seine Gabe von Canoc, seinem verwitweten Vater, geerbt, lässt sich daraus folgern, dass Orrec ein Mann und Erbe ist, obwohl er diese Tatsache zunächst nie erwähnt.

Orrec trägt eine Binde über den Augen. Er fürchtet seine eigene Gabe, die er nicht kontrollieren kann. Denn die Caspromanter haben die Gabe des Auflösens: Er braucht das Ziel nur anzusehen, eine Handbewegung zu machen und vielleicht noch etwas zu rufen – schon verwandelt sich das Ziel in tote Masse, sei es ein Hund, eine Waldlichtung – oder gar ein Mensch. Weil Orrec seine Gabe nicht kontrollieren kann, nennt er sie die wilde Gabe. Und um seine Angehörigen zu schützen, unterdrückt er diese Fähigkeit durch die Augenbinde.

Der Fremde

Doch darüber spricht Orrec nicht zu Emmon, dem geheimnisvollen Fremden, der im Winter aus dem Tiefland gekommen ist. Emmon stellt viele Fragen und will alles über die Hochlandbewohner und ihre Gaben wissen. Und er ist ein Dieb und Lügner, der schon bald wieder zur nächsten Domäne zieht. Sie sei froh, den Mann los zu sein, meint Gry, denn er habe einfach zu viele Fragen gestellt.

Doch Emmon hat Orrec ein Buch geschenkt: „Verwandlungen“ von Denios. Denn insgeheim, wenn er allein ist, nimmt Orrec seine Binde ab und liest Bücher, jene seiner Mutter, jetzt das von Denios. Denn Orrec hat noch eine weitere Gabe: Er ist ein Geschichtenerzähler. Dass dies sein besonderer Wert ist, macht ihm erst Emmon bewusst. Er könnte im Tiefland mit Geschichten Geld verdienen. Und weil seine gestorbene Mutter aus dem Tiefland stammte, könnte er dort sogar Verwandte finden, oder?

Der Feind

Das Verhängnis beginnt genau ein Jahr vor dem Tod von Orrecs Mutter und fast zwei Jahre vor der Ankunft des Tiefländers. Die Feinde der Caspromanter geben keine Ruhe. Nachdem sich Ogge, der Brantor von Drummant, schon einige andere Ländereien einverleibt hat, hat er es nun auf das Land der Caspro abgesehen. Ogge verfügt über die Gabe des Dahinsiechens, das heißt Krankheit zu verbreiten. Er hat sie auch schon mehrfach ohne Skrupel eingesetzt. Mit tödlichem Ergebnis.

Canoc Caspro ist daher äußerst vorsichtig, als er Ogges Einladung annimmt und ihn mit seiner Familie besucht: ein Anstandsbesuch, aber noch etwas mehr. Orrec ist schon vierzehn Jahre alt und soll ein Mädchen aus Drummant zur Frau bekommen. Doch die kleine Vordan, so stellt sich zu seinem Bedauern heraus, ist schwachsinnig. Canoc darf seine Entrüstung über diese Beleidigung nicht offen zeigen, aber nimmt die zwei weißen Kälber, die ihm Ogge gestohlen hat, wieder mit nach Hause.

Schon am Tag vor der Abreise ist es Orrecs Mutter Melle ständig kalt, und sie wird allmählich krank. Sie verliert sogar ihr Ungeborenes. Hat sich Ogge Drummant an ihr dafür gerächt, dass sie ihm die kalte Schulter gezeigt hat? Was ist in jener Nacht geschehen, als sie an dem Bett der kleinen Vordan wachte? Orrec erfährt erst allmählich, dass Melle ein Raunen gehört hat, als sie im Halbschlaf war. Vielleicht war es Ogge selbst, der seine Gabe gegen sie einsetzte.

Eines ist sicher: Sobald die Leute in Drummant ihre Familienfehde beigelegt haben, werden sie sich an Caspromant und Roddmant rächen wollen. Doch wird dann Orrec an der Seite seines Vaters reiten, um sein Land zu verteidigen, oder wie gewöhnlich in der warmen Asche des Kaminfeuers hocken und über seine tote Mutter sinnieren?

Mein Eindruck

Der Roman ist vieles zugleich, aber in erster Linie ist er die Geschichte einer Selbsterkenntnis, die das Ende einer Lebenslüge bedeutet. Und die Selbsterkenntnis bringt mit sich eine Freiheit, auf die Orrec drei Jahre lang freiwillig verzichtet hat. Es hieße, zu viel zu verraten, worin die Lebenslüge besteht oder wie sie zustande gekommen ist. Interessanter finde ich die Art und Weise, wie es zu der Enttarnung der Lebenslüge kommt. Dies gelingt Orrec nur durch den ständigen Dialog mit seiner lieben Freundin Gry, aber auch durch die Begegnung mit dem Tiefländer Emmon.

VORSICHT SPOILER
Die Lebenslüge wurde nicht böswillig erzeugt, so ist anzunehmen, sondern entstand aus einer Notwendigkeit heraus. Orrec als Sohn eines Brantors musste unbedingt eine der Gaben besitzen, sondern hätte er sein Land verloren. Und selbst eine wilde Gabe ist besser als gar keine Gabe; deshalb auch die Augenbinde. Innerhalb des sozialen Gefüges der Hochländer ist er deshalb keine Gefahr mehr, aber auch weder Machtfaktor noch produktives Mitglied einer Bauernwirtschaft. Objektiv gesehen ist er nutzlos, außer durch die Funktion als eine Art Vogelscheuche.
ENDE SPOILER

Die zweite Ebene der Geschichte ist die der Familie Caspro. Die Autorin erweckt alle zentralen Mitglieder der Caspros in allen Einzelheiten und all ihren Verwandlungen zum Leben, so dass man glaubt, dem Leben einer echten Familie zu folgen. Melle Aulitta, Orrecs Mutter, ist eine Tiefländerin, die Canoc mit Hilfe seiner Gabe sozusagen als Lösegeld für die Verschonung der Stadt Dunet erhielt. Doch Melle ist nicht nachtragend, sondern erweist sich als wahrer Schatz, und sie liebt ihren Sohn wie sich selbst.

Deshalb reicht sie an ihn ihren ureigenen Schatz weiter: alle Geschichten, die sie kennt. Diese Gabe macht Orrec im Laufe der Zeit zum Geschichtenerzähler, und als Geblendeter hat er viel Zeit, um sie zu vervollkommnen. Im Hochland haben nur er und Gry die Gabe des Lesens. Er kann Melles Geschichtstücher – statt Papier musste sie feinstes Leinen verwenden – also lesen und in sein Gedächtnis aufnehmen. Emmons Buch von Denios erweitert seinen Geschichtenvorrat beträchtlich.

Orrecs Beziehung zu seinem Vater ist etwas ganz anderes. Die Anforderungen an den Sohn sind hoch und führen schließlich zu der Entstehung der Lebenslüge, deren Opfer Orrec wird. Über der Familie liegt das Andenken an den Brantor Caddard, der ebenfalls die wilde Gabe hatte, doch sie bezähmen konnte. Dass Orrec nach Caddard gerät, wird dadurch symbolisiert, dass Orrec seinen Wanderstock nimmt und benutzt, während er selbst „blind“ ist.

Zu guter Letzt geht es um das Erzählen von Geschichten. Es sind nicht nur die Geschichten an sich, die Orrec in eine andere Dimension entführen – nicht buchstäblich –, sondern es ist der Vorgang des Erzählens, des Geschichtenspinnens an sich, der ihn befreit, aus seinem Selbstbetrug, aus seiner seelischen Gefangenschaft, aber letztlich auch aus dem Hochland selbst.

Die Prosa, in der diese komplizierten Verhaltensweisen und vielschichtigen Stimmungen erzählt werden, ist trügerisch simpel, und die Worte sind so einfach gewählt, dass sie jedes Kind verstehen kann. Es sind jedoch die Zusammenhänge und ihre Folgen, die etwas mehr Nachdenken erfordern, vor allem aber Einfühlungsvermögen. Die Versuchung ist groß, schnell zu lesen, doch das zahlt sich nicht aus, denn dann versteht man nur die Hälfte dessen, was die Autorin sagen und ausdrücken will.

Unterm Strich

Schon im ersten Roman ihrer Erdsee-Trilogie demonstrierte Ursula Le Guin, welche Macht sie einem Wort, einer Geschichte beimisst. In „Die wilde Gabe“ ebenso wie in „Die Erzähler“ zeigt sie, dass das Erzählen sowie die Geschichten in die Freiheit führen können. Denn jede Geschichte ist Sinngebung, und um Sinn geben zu können, muss es zuvor eine Erkenntnis gegeben haben. Diese Erkenntnis betrifft auch den Geschichtenerzähler selbst. Sie befreit ihn, wenn er bereit ist, auf die Geschichte zu hören und sich selbst zu verändern.

„Die wilde Gabe“ entwirft eine interessante und nachvollziehbare Kultur des Hochlandes, das von den langen Rhythmen und Erfordernissen der Landwirtschaft geprägt ist. Das neue Element, das man der Fantasy zuschreiben könnte, sind die Begabungen bestimmter Angehöriger der Blutlinien. Diese Gaben besitzen mittlerweile, nach Jahrhunderten, ebenfalls eine soziale Funktion: Sie dienen der Abschreckung, aber sie können auch anderen in Dienst gestellt werden. Dass jede Gabe eine positive wie auch negative Seite hat, gewissermaßen „vorwärts und rückwärts wirken“ kann, ist Grys große Erkenntnis und ihr elementarer Beitrag zu Orrecs Befreiung. Dass sie zusammen mit ihm eine Zukunft wagen will und kann, ist der befriedigende Schluss des Romans.

Der Verlag hat den Roman sehr kompetent und sprachlich einfühlsam von Florian F. Marzin übersetzen lassen. Marzin ist selbst Schriftsteller („Das Voynich-Rätsel“, 2006) und weiß mit Sprache vielseitig umzugehen. Die Druckfehler stören deshalb kaum, und den meisten Lesern werden sie eh nicht auffallen. Die Umschlaggestaltung finde ich passend. Das Titelbild zeigt Orrec mit seiner Freundin Gry und seinem Blindenhund Coaly.

Taschenbuch: 294 Seiten
Originaltitel: Gifts, 2004
Aus dem US-Englischen von Florian F. Marzin.
ISBN-13: ‎978-3492701099

www.piper.de

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