Lee Child – Night School (Jack Reacher 21)

Brisante Altlasten des Kalten Krieges, mitten in Hamburg

Zuerst ist es nur ein belauschter Satz: „Der Amerikaner verlangt 100 Millionen Dollar.“ Für was, von wem? Anno 1996 sind die Russen längst keine Gefahr mehr. Jack Reacher von der Militärpolizei, zwei Leute von CIA und FBI werden in der titelgebenden Schule zusammengeführt – und dann vom Nationalen Sicherheitsberater nach Hamburg geschickt. Wegen der 100 Mio. Dollar. In Hamburg wurde der Satz gehört. In einer Wohnung, in der drei Saudis leben und ein Iraner. Der Iraner arbeitet nämlich für die CIA…

Der Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte und arbeitete dann viele Jahre als TV-Produzent. Heute lebt er mit Frau und Tochter im US-Bundesstaat New York. Mit seinen Jack-Reacher-Thriller hat er sich eine große Lesergemeinde erobert und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Anthony Award. Aktuelle Infos: http://www.fantasticfiction.co.uk/c/lee-child/

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. Night School (2016)

Handlung

Militärpolizist Jack Reacher hat 1996 gerade einen Einsatz erfolgreich zu Ende gebracht, als er bei seiner eigenen Ordensverleihung den Auftrag erhält, sich in der sogenannten Night School einzufinden. Hier solle er zwischenbehördliche Zusammenarbeit lernen. Das Gebäude scheint verlassen zu sein, bis er schließlich auf einen anderen Mann trifft. Der Typ ist noch besser gekleidet als Reacher selbst, aber ebenso ein Geheimnisträger. Schließlich rückt er mit seinem Namen heraus: Waterman, FBI. Ein weiterer Mann trifft: White, CIA. Es geht also um eine Kooperation zwischen CIA, FBI und Militärpolizei.

Was das Ganze soll, erfährt Reacher, als eine Wagenkolonne vorfährt: der Nationale Sicherheitsberater des Präsidenten. Ratcliffe sagt wenig, dafür bleibt seine Assistentin. Dr. Marian Sinclair. Die Schule sei natürlich gar keine, sondern lediglich eine Fassade für eine Einsatzbesprechung.

Die CIA hat in Hamburg einen Iraner in eine Wohngemeinschaft von drei Saudis eingeschleust, um diese zu überwachen. Der Iraner hat einen Satz aufgeschnappt, kann ihn aber nicht zuordnen: „Der Amerikaner verlangt 100 Millionen Dollar.“ Für was, von wem? Anno 1996 sind die Russen längst keine Gefahr mehr, aber 1994 gab es einen arabischen Anschlag auf die Tiefgarage des World Trade Centers, der gerade noch eingedämmt werden konnte. Ist Deutschland die Ausgangsbasis für einen erneuten Anschlag oder steckt mehr dahinter? Reacher war schon mal in Deutschland stationiert und kennt die braune Vergangenheit dieses Landes.

Bevor er nach Hamburg fliegt, richtet Sinclair eine supergeheime Einsatzzentrale ein. Hier sollen CIA und FBI Aufklärung betreiben. Reacher bekommt Lt. Neagley, mit der er schon einige Male bei Einsätzen der Militärpolizei zusammengearbeitet hat (siehe dazu „Without Fail / Tödliche Absicht“). Neagley ist nicht seine Freundin, wie Sinclair vermutet, noch hat er je mit ihr geschlafen; Neagley hat nämlich eine Phobie vor körperlicher Berührung.

Hamburg

Vor Ort wendet sich Reacher an Kommissar Griezman von der Kripo. Der zeigt ihm die schöne neue Polizeizentrale, die sogar über ausgeklügelte Labore verfügt, in der aber auch die Verkehrspolizei untergebracht ist. Beides erweist schon bald als verhängnisvoll und nützlich. Griezman mag zwar übergewichtig sein, aber er ist berechenbar: Er befolgt Regel Nummer eins – rette deinen eigenen Arsch – bevor er Ausländern Unterstützung gewährt. Reacher kann also davon ausgehen, dass alles, was er preisgibt, sofort beim BKA und dem Verfassungsschutz landet.

Er sagt daher Griezman nur das Nötigste, doch der hat ebenfalls ein Anliegen: Eine Edelnutte ist in einem Apartment erwürgt worden. Erst allmählich kristallisiert sich heraus, dass der Mann, den Reacher sucht – „der Amerikaner“ – und der Mörder der Prostituierten ein und derselbe Mann sind. Eine Phantomzeichnung von einem Verkehrspolizisten erweist sich als Schlüssel zur Identität des Gesuchten: ein ehemaliger Militärangehöriger, der seit geraumer Zeit untergetaucht ist – ein klarer Fall für Reacher.

Er und Neagley tauchen in die Halbwelt der Hansestadt ein und stoßen schnell auf ein Lokal, wo man einwandfrei gefälschte Pässe kaufen kann. Der Gesuchte könnte jeden beliebigen Namen angenommen haben. Marian Sinclair schaltet sich ein und kommt nach Hamburg, denn eine winzige Chance erscheint ihr immer noch besser als die Suche im Heuhaufen, die bei der CIA läuft. Vielleicht hat sie aber bloß einen Narren an dem Zwei-Meter-Mann Reacher gefressen und versucht, ihn zu verführen.

Unterdessen

Der Bote hat in den Bergen von Afghanistan die Forderung überbracht: „Der Amerikaner verlangt 100 Millionen Dollar.“ Er bekommt eine Antwort: Der Preis sei in Ordnung. Doch seine Rückreise findet in Kiew ein jähes Ende. An seiner Statt reist eine gut instruierte junge Frau nach Hamburg, um dem Iraner und seinen Freunden die Antwort zu überbringen.

Auch der hilfreiche Verkehrspolizist ist nicht untätig geblieben. Er wendet sich an den Chef seiner Organisation und verklickert ihm, dass sich eine Reihe amerikanischer Agenten in der Stadt herumtreiben. Sie suchen jemanden ganz Bestimmtes, doch um was es eigentlich geht, könne er nicht sagen. Der Chef wendet sich an seinen Meisterfälscher von Pässen. Wer ist dieser Amerikaner und vor allem: Was zum Teufel hat er zu verkaufen, das 100 Millionen Dollar wert ist?

Mein Eindruck

Der Autor entwirft ein wahrhaft erschreckendes Szenario, das durchaus geeignet wäre, dem Verfassungsschutz und dem BKA schlaflose Nächte zu bereiten. Was wäre, wenn eine rechtsextreme Organisation wie die NPD oder ihre braunen Schattengruppierungen in den Besitz einer Waffe gelängen, die in der Lage ist, zehn Städte auszuradieren – von ausländischen ganz zu schweigen? Noch schlimmer: Was, wenn dies der Terrororganisation Al-Quaida gelänge?

Afghanistan

Der Autor ist schlau genug, nicht alles über die beiden Männer zu verraten, die in den afghanischen Bergen Boten ausschicken und empfangen – elektronische Nachrichten werden ja bekanntlich vom weltweiten Lauschnetz „Echelon“ abgefangen. Nur menschliche Boten kommen für die beiden Männer infrage. Zweifellos handelt es sich beim Großen, Mageren um den Saudi Osama Bin Laden und bei dem kleinen Dicken um Al-Zawahiri. Sie bereiten eine große Sache vor. Zu dieser gehören beispielsweise auch die drei jungen Saudis in der Hamburger Wohngemeinschaft. Der Namen Mohamed Atta sollte ein guter Hinweis sein – er wird an keiner Stelle genannt, aber der informierte Zeitgenosse weiß Bescheid.

The Fulda Gap

Um welche Waffe könnte es sich handeln? Das ist die große Preisfrage, die erst kurz vor dem doppelten Finale beantwortet wird. Die Spur führt weit zurück in den Kalten Krieg, als die Amis Deutschland besetzt hielten und eine Verteidigung gegen die Rote Armee auf die Beine zu stellen versuchte, die gleich nebenan in Thüringen anderthalb Millionen Mann unter Waffen hielt. Mehrfach ist von der Region „Fulda Gap“ die Rede, eine Lücke zwischen den Mittelgebirgen, durch die eine Panzerarmee der Sowjets vorstoßen könnte und dann in ein, zwei Tagen vor Frankfurt/Main stünde.

Um diese Gefahr, die für nur allzu real gehalten wurde, abzuwehren, stationierte die US-Armee Atomwaffen jeder Art in Hessen und den anliegenden Regionen. Der ehemalige Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt hat selbst einmal berichtet, wie es ihm gelang, die Bereitstellung von nuklearen Bodenminen auf deutschem Boden zu verhindern. Das grenzt an ein Wunder, denn die deutsche Regierung hatte im eigenen Land, was Militär anbelangte, überhaupt nichts mitzureden.

Wer dies weiß, findet, wie ich, den Gedanken gar nicht so abwegig, dass die US-amerikanische Armee, eine riesige Organisation von mehreren Millionen Mann, in den fünfziger Jahren nicht nur Atomwaffen bereitstellte, sondern auch, als sie wieder abzog, vergaß, alle wieder mitzunehmen. Was, wenn eine oder zwei der speziell präparierten, strahlensicheren Kisten in irgendeinem Lager vergessen worden wäre? Was, wenn einem der Soldaten die verwegene Idee gekommen wäre, solch eine Kiste beiseitezuschaffen und Jahrzehnte lang irgendwo zu verstecken?

Dass solch ein Waffenarsenal den „richtigen“ Leuten hundert Millionen Dollar wert sein könnte, erscheint dann nicht mehr an den Haaren herbeigezogen. Schon seit Jahren erwartet ja die US-Regierung und ihr Apparat, dass irgendwo eine „schmutzige Bombe“ gezündet wird, eine Bombe mit beliebigem Nuklearmaterial, das auf dem Schwarzmarkt zu erhalten ist. Deshalb wird dieser Markt für Strahlenwaffen intensiv überwacht. Nur einem sehr listigen Dieb mit einem hundertprozentig echten Pass könnte es gelingen, derart brisantes Material zu verstecken, hervorzuholen und zu liefern.

Doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Und wenn es um eine Lieferung geht, kann alles Mögliche schiefgehen. Besonders dann, wenn der Lieferant ein serienmordender Psychopath ist…

Unterm Strich

Ich habe diesen Thriller in nur wenigen Tagen gelesen, ja, konnte ihn kaum noch aus der Hand legen. Das Thema der Atomwaffen in deutschen Landen ist nach wie vor heiß, und rechtsextreme Gruppierungen (wie der zweite NPD-Prozess gezeigt) gibt es ebenso in Germanien wie Ableger terroristischer Organisationen, heißen sie nun IS oder Al-Quaida. Pikant ist weiterhin das Auftauchen von Altlasten der alliierten Besatzung, über die die deutschen Behörden geflissentlich den Mantel des Schweigens breiten – vergeblich, denn täglich werden Fliegerbomben und andere brisante Hinterlassenschaften gefunden. Deutschland zahlt also selbst noch nach 70 Jahren den Preis für seine Vergangenheit.

Das wissen auch die Rechtsextremisten weidlich auszunutzen – mit der Angst lassen sich lukrative Geschäfte auf dem politischen Parkett und in den sozialen Medien machen. Und dass Terroristen aus der arabisch-islamistischen Szene weiterhin agitieren und planen, dürfte sich nach dem letzten Anschlag in Berlin zu Weihnachten 2016 herumgesprochen haben. Für Zündstoff ist also in Childs neuestem Reacher-Thriller reichlich gesorgt. Aber es kommt darauf an, was er daraus gemacht hat.

Der Schauplatz Hamburg anno 1996 ist schon mal sehr realistisch gezeichnet. Es gibt den Kiez, die Reeperbahn, zwielichtige Gestalten und natürlich Schlägertypen, denen Reacher und Neagley nur zu gerne eine Abreibung verpassen, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Die Botschaft ist klar wie Kloßbrühe: In Deutschland haben die Amis das Sagen! Dass sich die Kripo Hamburg an die Amis wendet, spricht Bände: Sie hat selbst nicht genug Datenmaterial. (Das hat sich hoffentlich in den letzten 21 Jahren gebessert.)

Die Art und Weise, wie Reacher und seine Truppe mit dem Killer und den Ex-Nazis umspringen, macht ebenfalls klar, wer in Deutschland das Sagen hat. Doch Reachers „Gerechtigkeit“ trifft nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern auch amerikanische. Er und Sinclair lassen einen veritablen US-General herbeizitieren und nach Hamburg schaffen, wo er ihnen Rede und Antwort stehen: Was ging damals, in den Tagen des Kalten Krieges, nahe der Fulda Gap wirklich verloren? Und wie konnte das passieren? Wer hat das brisante Zeug jetzt und ist es noch einsatztauglich? Es hilft, dass sich Sinclair als rechte Hand des Oberbefehlshabers ausweisen kann: als die des US-Präsidenten.

So mancher deutsche Leser mag sich über das Bild von Deutschland und Hamburg, das der Autor zeichnet, aufregen. Wer andererseits unvoreingenommen ist, könnte ein ungeschminktes Bild erkennen, das nicht in den deutschen Medien zu finden ist. Ich habe beispielsweise auf „ZDF History“ noch nie eine Doku über die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen (OdeSSA) gesehen, sondern lediglich den Thriller von Frederick Forsyth gelesen und dessen Verfilmung mit Jon Voight gesehen. Warum gibt es diese Lücke? Warum schreibt niemand mehr über Helmut Schmidts Atomminen, die er verhinderte? Mir scheint, Lee Child legt den Finger in eine Wunde, die die deutsche Öffentlichkeit am liebsten vergessen würde. Das neueste Smartphone ist ja auch viel interessanter.

Taschenbuch: 395 Seiten
Sprache: Englisch
Auflage: 2016

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