Hanjo Lehmann – Die Truhen des Arcimboldo

Hanjo Lehmann, Jahrgang 1946, sitzt in seinem nach meinem Ermessen fabelhaften Kirchen-Thriller nicht gerade zimperlich mit den Machenschaften der Träger von blütenrein gewaschenen Talaren zu Gericht; insofern hätte das Buch auch der Rubrik „Zeitkritik“ zugeordnet werden können. Was das angeht, sei direkt eine Vergleichsmöglichkeit zu ähnlich gelagerten Werken von Vandenberg gezogen, auch Stilelemente des ewig gern heran zitierten Eco-Klassikers „Der Name der Rose“ lassen sich formgebend antreffen.
Lehmann studierte Germanistik, Philosophie und Medizin. Der einzige mir bekannte weitere Roman des Autors ist das 2001 erschienene „I killed Norma Jeane“, das wohl missglückt sein soll, wie ich aber nur als Hörensagen wiedergeben kann. Die gebundene Ausgabe des vorliegenden Werkes „Die Truhen des Arcimboldo“ wurde 2002 von Rütten & Loening erneut aufgelegt, die zunächst beim Aufbau-Taschenbuch-Verlag erschienene Broschur gab es dann als Neuausgabe von Bastei-Lübbe, nun wurde von |Aufbau| die Broschur in der 19. Auflage wieder herausgebracht; beides kommt zum echten Kaufmichpreis.

Der junge und ausgesprochen talentierte Schlosser Luigi Calandrelli arbeitet im Revolutionsjahr 1848 bei Restaurierungen in den arg strapazierten untersten Kellergewölben im Geheimarchiv des Vatikan. Das marode Gewölbe stürzt jedoch – nicht ganz zufällig – ein und verschüttet Luigi, der während seiner unfreiwilligen Gefangenschaft eine verborgene Kammer entdeckt, die eine von Arcimboldo de Segurmont (ein bezeichnender Wahlname, dem er schon zuvor begegnete) meisterhaft gesicherte Truhe beherbergt. Und darin finden sich antike Pergamente von höchst brisantem Inhalt, ein apokryphes und geheim gehaltenes Evangelium („Sixtinische Verschwörung“ und „Das fünfte Evangelium“ lassen grüßen), das mächtens wäre, die Ansprüche der Kirche aus den Angeln zu heben. Die Ereignisse hält Luigi in privaten Aufzeichnungen fest und eine lange Zeit verstreicht, bis die Vergangenheit ihn wieder einholt.

1869, ein für die schwer erschütterte Amtskirche kritisches Jahr, in dem die Unfehlbarkeit Pius IX. und damit jene all seiner Nachfolger und Vorgänger (!) vom Konzil verkündet werden soll; ein politischer Schachzug im verzweifelten Versuch um die Sicherung von Macht, Einfluss und Glaubwürdigkeit. Allein die Darstellung all dieser Ränke und Intrigen lässt die Großhirnrinde vor Freude in die Hände klatschen. Nun kommt es aber, dass der am Bau des Gotthard-Tunnels beteiligte Ingenieur Heinrich Wilhelm Lehmann mit besagtem Luigi Calandrelli Bekanntschaft schließt und eher ungewollt in den Trubel um dessen Entdeckung und Aufzeichnungen gerät. Da eine Offenlegung dieses Geheimnisses gerade zu diesem Zeitpunkt äußerst unpassend für so manche Interessengruppierung käme, werden zahlreiche Gegnerparteien auf den Plan gerufen und eine Hetzjagd durch allerlei unerfreuliche, unerklärliche und bedrohliche Ereignisse beginnt.

Dies ist die Haupt-Erzählebene des zwar teils fiktiven, aber durch eine höchst exakte Recherche bestechenden Verschwörungs-Plots. Von hier aus bewegt sich der Leser in die Vergangenheit von Luigi, während Heinrich dessen Aufzeichnungen zu rekonstruieren versucht. Hier wird die Darstellung auch leider unglaubwürdig, da es nur wenigen Menschen möglich sein dürfte, ein Tagebuch so sorgfältig und detailgetreu aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, denn Heinrich hat dieses schon bald nicht mehr zur Verfügung. Nun gut, da ich selbst Menschen mit dem entsprechenden Gedächtnis kenne, mag diese Möglichkeit hier eingeräumt sein. Also eine Tagebucherzählung in einer Tagebucherzählung, doch keine Sorge, nach anfänglichem Konzentrationsbedarf kann man dem Erzählverlauf gut folgen. Richtig spaßig wird es allerdings, wenn innerhalb von Luigis Aufzeichnungen dieser wiederum den Inhalt der gefundenen, aber nicht mehr verfügbaren Pergamente im Wortlaut rekonstruiert. Na, ist der Überblick noch nicht entfleucht? Zusätzliche Ebenenwechsel kommen durch authentische, zeitgenössische Zeitungsartikel ins Spiel, die teils ziemlich erhellend sind, im Verlauf des Buches allerdings etwas ermüden bzw. dem Spannungsbogen schaden – eine geringere Anzahl wäre dem Lesefluss zugute gekommen, die Intention und erreichte Wirkung ist allerdings löblich. Autor Hanjo Lehmann behauptet im vergnüglich zu lesenden Vorwort, das Tagebuch des Namensvetters sei durch glücklichen Zufall in seinen Besitz geraten und das vorliegende Werk sei das Ergebnis der angepassten Veröffentlichung dieses Fundes. Derlei Ansprüche heben zwar den Spannungsbogen, sind aber keine besonders seriösen Hilfen bei dem ohnehin stets schwierigen Versuch, Fiktion von Wirklichkeit zu trennen und kann so manch ratlosen Leser zurück lassen. Im gegebenen Falle wäre damit nämlich eine historische Sensation ausgegraben worden, deren Verharmlosung in Prosaform wohl kaum angemessen gewesen wäre. Sehr dubios, aber Vandenberg, um bei dem zitierten Vergleich zu bleiben, spielt diesen Macht-Trumpf der schreibenden Zunft auch gern aus.

Die Schreibfolge bleibt während des Buches in stetem Rhythmus: Heinrich, Luigi und die Zeitungsartikel wechseln sich ab und sorgen für einen ordentlichen Spannungsbogen. Die Kircheninterna, Intrigenspiele, Rückgriffe auf Templer, Katarer, Freimaurer und verborgene Kirchengeschichte sind exzellent ausgefeilt und werden dem Leser erst nach und nach freigelegt. Hierbei erscheint mir die Existenz des Evangeliums der einzig wirklich fiktive Bestandteil zu sein; von der prosaischen Rahmenhandlung abgesehen, ist die historische und kirchenpolitische Darstellung wasserdicht.
Der Authentizitätsgehalt, die spannende Geschichte, allerlei sexuell ausschweifende Einwürfe mit psychologischem Anspruch (für die Genießer: Nein, es geht dabei nicht wirklich um Erotik.) und der gut durchdachte Ebenenwechsel sorgen für eine ungewöhnliche und qualitativ hochwertige Lektüre, die mich tagelang intensiv fesseln konnte und aufgrund der Informationstiefe dazu einlädt, das Buch mindestens ein weiteres Mal hervorzukramen und aufmerksam zu studieren. Leichte dramaturgische Schwächen verzeihe ich Lehmann für diesen Fundus an enorm spannend aufbereiteten, bedenkenswerten Detailinformationen zu unserer weniger bekannten Geschichte gern – und die jedem Tagebuchteil Heinrichs voran gestellten Zitate aus dem geradezu lächerlichen und tolldreisten „Syllabus errorum“ des Unfehlbarkeits-Papstes Pius IX. sind ein wahres Fest. Hanjo Lehmann merkt übrigens gleich vorweg in seinem „Hinweis für den Zensor“ an, dass sich die Darstellung keineswegs gegen irgendeine Religion richtet, sondern strikt gegen das anmaßende Wirken der institutionalisierten Amtskirchen, aber das gleich in vollen Zügen. Kurzum: Zugreifen!

Taschenbuch: 699 Seiten