Leonard F. Guttridge – Die Geister von Kap Sabine

1881 startet die erste Polarexpedition der USA gen Nordpol, den es um der Anerkennung unbedingt zu erreichen gilt. Dem charismatischen Anführer Augustus Greely folgt eine Crew, die ihm in Sachen Unfähigkeit rein gar nichts schuldig bleibt. Das große Unternehmen scheitert kläglich, endet in Grauen, Mord und Kannibalismus … – Hervorragende Darstellung einer unmöglichen Mission, gleichzeitig das Panorama einer Zeit, die dem nationalen Triumph wie selbstverständlich Menschenleben zu opfern bereit war.

Inhalt:

Im Juli des Jahres 1881 ist Lieutenant Adolphus Washington Greely am Ziel seiner Wünsche. Er ist der Kommandant der ersten Polarexpedition, die im Auftrag des US-Regierung in den hohen Norden reist. Zu den quasi befohlenen Zielen dieser Mission gehört der Sturm auf den Pol. Die britische Konkurrenz scheint diesen eher als die USA erreichen zu können. In dieser von Nationalstolz geprägten Ära ist es für die selbstbewussten, aber nach dem Bürgerkrieg noch immer angeschlagenen Amerikaner eine unerträgliche Vorstellung, von der ehemaligen Kolonialmacht ausgerechnet auf dem eigenen kontinentalen Dachboden beschämt zu werden.

Trotz gewaltiger Vorbehalte ist deshalb Greelys Unternehmen Realität geworden. Es steht trotzdem von Anfang an unter einem Unstern. Die Opposition ist groß im eigenen Land. Greelys erbittertster Gegner ist ausgerechnet Kriegsminister Robert Todd Lincoln, der Sohn des legendären Präsidenten. Der mächtige Mann trachtet danach, das in seinen Augen unsinnige Projekt zu verhindern. Oppositionspolitiker mischen sich ein und schmieden ihre Ränken auf Kosten der Expedition, die sich schließlich heillos unterfinanziert, schlecht ausgerüstet und vor allem ohne einen vernünftigen Notfallplan an Bord des alten Eisbrechers „Proteus“ auf den Weg macht.

Doch die eigentliche Achillesferse ist die absolute Unverträglichkeit der aufeinander angewiesenen Expeditionsteilnehmer. Greely erweist sich als hoch motivierter, aber nicht wirklich auf die Herausforderungen der Eiswüste vorbereiteter Kommandant, der zudem die bitter nötigen Qualitäten eines Anführers vermissen lässt. Er reist mit einer Crew von 19 Soldaten des Fernmeldechors, drei Zivilisten und einem Arzt, die ebenfalls keine Ahnung haben, was sie im Norden erwartet. Auf die Meinung der beiden immerhin angeheuerten Grönland-Eskimos legt Greely in imperialistischer Arroganz keinen besonderen Wert. Schlimmer noch: Schon auf der „Proteus“ kommt es zu Konflikten unter den Männern, die gleich mehrere Fraktionen entstehen lassen.

Die Expedition beschäftigt sich mit den eigenen Streitereien, arbeitet eher gegen- als miteinander. Greely kann seine Kameraden nicht mitreißen, zumal sich rasch herausstellt, dass er als Polarreisender zwar aus hartem Holz geschnitzt, aber launisch, aufbrausend und egozentrisch ist. Die wissenschaftlichen Ziele der Expedition – ohnehin nur für die Öffentlichkeit vorgeschoben – sind ihm herzlich gleichgültig: Greely will den Nordpol bezwingen! Dafür lässt er sämtliche Vorsicht fahren. 1881 lässt eine Laune der Natur viel weniger Eis als üblich die Meerenge zwischen der Rieseninsel Grönland und den nordostkanadischen Polarinseln hinabtreiben. Greely erkennt dies nicht und lässt die „Proteus“ weiter und weiter nach Norden dampfen – bis sich die Eisfalle hinter dem Schiff schließt und es schließlich versenkt. Ausrüstung und Vorräte können gerettet werden. Unverdrossen richtet man sich unwirtlicher Umgebung ein, die spätestens im nächsten Jahr kommen wird.

Leider irrt man sich. In der Heimat fühlt sich niemand für die mit großem Aplomb verabschiedeten Reisenden verantwortlich. Eine Rettung käme teuer, und die Zeiten sind schlecht. 1882 und 1883 kommt kein Versorgungsschiff zur Greely-Expedition, der die Vorräte ausgehen. Verzweifelt begibt man sich zu Fuß auf den Marsch zur Küste, kommt aber nur bis zum Kap Sabine. Hier beginnt nun ein Drama, das sich über Monate hinzieht. Hunger, Wahnsinn, Meuterei, Mord, Verrat, schließlich Tod und Kannibalismus – es gibt kein Grauen, das nicht über die Greely-Expedition hereinbricht …

Helden mit Schattenseiten

In den letzten Jahren erfährt moderne Zeitgenosse verstärkt von Episoden der Entdeckungsgeschichte, die ihm (und natürlich auch ihr) bisher strikt vorenthalten wurden. Lange Zeit galten Weltreisende automatisch als Helden, die im hehren Dienste der Wissenschaft unglaubliche Strapazen in weit entfernten Ländern auf sich nahmen. Begleitet wurden sie stets von nicht ganz so genialen, aber treuen Gefährten, die gleichmütig Kälte oder Hitze, Hunger, Schmutz & Einsamkeit trotzten, um den Zurückbleibenden die weite Welt nach Hause zu bringen.

Von unschönen Episoden sprachen nur Spielverderber und Nestbeschmutzer. Die kühnen Entdecker führten sich eher wie Eroberer auf. Sie kamen über die unglücklichen Ureinwohner, zwangen sie als Schleppknechte in ihren Dienst (männlich) oder in ihr Bett (weiblich), steckten sie mit allerlei Zivilisationskrankheiten an, machten sie mit den Freuden des Alkohols bekannt und schossen sie gelegentlich als Ausstellungsobjekte für die Museumstempel der Heimat ab.

Aber auch untereinander waren sich unsere angeblichen Vorbilder selten grün. Hader und Streit kosteten sicherlich die meisten Teilnehmer der Greely-Expedition das Leben. Besonders düster ist jene Episode, in der ein aufsässiges Crewmitglied um der ‚Disziplin‘ willen quasi hinterrücks hingerichtet wurde. Ungeachtet dessen verhielten sich sämtliche Reisenden geradezu vorsätzlich unvernünftig. Biograf Guttridge kommt denn auch mit Recht zu dem vernichtenden Urteil, die Greely-Fahrt als kriminelles Desaster zu bezeichnen. Es gibt da einfach keine Entschuldigungen; unbestreitbarer Mut und Entschlossenheit zählen jedenfalls nicht dazu bzw. können von Starrsinn und Arroganz sicher nicht ersetzt werden.

Unbarmherzig auf der Spur

In aller Sachlichkeit zerstört Guttridge jeden möglichen Mythos um Greeleys Höllenfahrt. Das bedeutete in diesem Fall freilich auch die intensive Suche nach totgeschwiegenen Informationen. Schon die Zeitgenossen, die mit der Wahrheit vertraut waren, wussten sehr gut, dass diese für sämtliche Beteiligten besser nicht an die Öffentlichkeit gelangte: Die Tragikomödie der Greely-Expedition ist auch ein Lehrstück in Sachen Imperialismus und krankhaft übersteigertem, objektiv grundlosem Nationalstolz.

Es würde zu weit gehen, die Ereignisse von 1881/84 in Beziehung zu setzen mit den US-amerikanischen Auslands-Aktivitäten der Gegenwart, aber natürlich ist es verführerisch, diesbezüglich Parallelen zu ziehen: Wirklich dazugelernt hat man jenseits des Atlantiks offenbar nicht. Brachiale Materialschlachten, Selbstwertgefühl statt Planung und der rasche Interessenverlust daheim, wenn an der Front die Erfolge ausbleiben oder die Kosten steigen, lassen sich exemplarisch auch im Umfeld der Greely-Katastrophe feststellen.

Leonard F. Guttridge lässt die Verantwortlichen nicht vom Haken. Er setzt auf die Macht der Fakten, die er unbarmherzig und manchmal in allzu hoher Dichte über seine Leser niederprasseln lässt. Aber sie sprechen für sich – vernehmlich und vor allem so laut, dass sie sich nicht mehr in den Archiven vergraben lassen. Hier erweist es sich als Greelys Verderben, dass seine Gefährten fleißig Tagebücher führten. Selbst nachträgliche Zensur- oder sogar Vernichtungsversuche ließen genug entlarvendes Faktenmaterial zurück. Greely und die wenigen Überlebenden mussten für ihre Fehler zahlen. Auf viele andere, die man ebenfalls zur Rechenschaft hätte ziehen müssen, trifft dies nicht zu. Ihr trübes Wirken wird nun ans Tageslicht gebracht. Ein weiteres Mosaiksteinchen im oft und gern geschönten Gesamtbild der Vergangenheit ist endlich an seinen Platz gerückt.

Autor

Geboren wurde er in Bournemouth, England, am 27. August 1918, aufgewachsen ist er in Cardiff, Wales. Folgerichtig zog Leonard Guttridge in den II. Weltkrieg und diente bei der Royal Air Force. 1948 übersiedelte er in die Vereinigten Staaten, wo er lange Jahre als Bibliothekar arbeitete, bevor er sich in den 1960er Jahren als Autor historischer Sachbücher etablierte.

Guttridge entwickelte sich zu einem Spezialisten für die Geschichte der Seefahrt. Mit „Icebound. The Jeannette Expedition’s Quest for the North Pole“ (1986), einer Rekonstruktion der tragisch geendeten amerikanischen Arktis-Expedition von 1881, richtete sich sein Interesse auf den hohen Norden.

Leonard Guttridge lebte und arbeitete in Alexandria, US-Staat Virginia. Kurz vor seinem 91. Geburtstag ist er am 7. Juni 2009 gestorben.

Taschenbuch: 539 Seiten
Originaltitel: Ghosts of Cape Sabine. The Harrowing True Story of the Greely Expedition (New York : G. P. Putnam’s Sons 2000)
Übersetzung: Gaby Wurster
www.piper.de/verlag/berlin-verlag-taschenbuch

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