Lisa Genova – Ein guter Tag zum Leben

Mit ihrem Debütroman „Mein Leben ohne Gestern“ hat sich Lisa Genova direkt in die Riege der Bestsellerautorinnen geschrieben. Ihre einfühlsame Schilderung einer erfolgreichen Frau, die mit nur 50 Jahren die Diagnose Alzheimer erhält, hat mich dermaßen beeindruckt, dass ich seitdem jedes ihrer Bücher verschlinge. In ihrem vierten Roman greift Lisa Genova nun das Thema Chorea Huntington auf.

Kontrollverlust

Joe O’Brien steht mitten im Leben – er ist glücklich verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und geht in seinem Beruf als Polizist auf. Doch dann fallen im manche Dinge immer schwerer als vorher. Seine Polizeiberichte geraten inhaltlich durcheinander, seine Beine zucken willenlos und lassen sich kaum noch still halten. Irgendwann schickt seine Frau ihn zum Arzt – während Joe mit der Diagnose eines kaputten Knies rechnet, erfährt er mit nur 44 Jahren, dass er an Chorea Huntington leidet – eine Erbkrankheit, die ihm nach Diagnose noch etwa zehn Jahre lassen wird, in denen er immer mehr Kontrolle über seinen Körper verliert, indem er willenlos zucken und ausschlagen und möglicherweise Menschen verletzten mag. 10 Jahre, in denen er immer mehr verfallen wird und wo er am Ende als Pflegefall enden wird.

Nun versteht er erstmals, dass seine Mutter auch gar keine Alkoholikerin war und aufgrund von zu viel Alkohol im Pflegeheim gelandet ist – auch sie hatte Chorea Huntington und ist an der Krankheit gestorben. Nun ist Joe in Sorge, dass er die Krankheit an seine vier Kinder vererbt hat. Die Krankheit wird dominant vererbt, das heißt, für seine zwei Töchter und zwei Söhne steht die Wahrscheinlichkeit 50:50, dass sie ebenfalls an Huntington erkranken werden.

Als Joe und seine Frau Rosie die Kinder informieren, ist es besonders für den ältesten Sohn ein Schock – denn eigentlich wollte er gerade verkünden, dass er Vater wird, aber nun muss auch er sich sorgen, ob er die tödliche Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt, womöglich bereits vererbt hat…

Schicksale

Vergleicht man mit Lisa Genovas Debütroman, findet man viele Parallelen: Wir treffen auf eine Person, die glücklich ist und mitten im Leben steht, aber dann durch die schreckliche Diagnose alles hinterfragen muss. In beiden Romanen müssen sich auch die Kinder fragen, ob sie die Krankheit geerbt haben. Viele Fragen, viele Situationen kamen mir daher beim Lesen bekannt vor, was mich zeitweise durchaus etwas gestört hat – Lisa Genova beschreibt wieder alles sehr einfühlsam und man kann die Ängste der handelnden Personen genau nachvollziehen und sich in deren Lage hineinversetzen, aber all das war hier einfach nicht mehr neu und deswegen irgendwie nicht mehr so eindrucksvoll.

Aber auch „Ein guter Tag zum Leben“ fesselt einen von der ersten bis zur letzten Seite – alleine schon, weil man wissen will, wie es Joe ergeht, wie er die Diagnose und die Krankheit meistert und wie die Kinder damit umgehen – ob sie sich testen lassen und wenn ja, wie das Ergebnis lautet und wie sie diesen Schicksalsschlag meistern. Die Familie O’Brien hält fest zusammen und steht hinter Joe, und doch müssen sie jeder für sich mit der Situation umzugehen lernen. Im Zentrum der Geschichte steht die Tochter Katie, die immer im Schatten der hübschen Meghan stand, aber nun beginnt, ihr eigenes Leben aufzubauen. Sie hat einen sehr netten Mann kennen gelernt und überlegt, eine eigene Yoga-Schule aufzumachen.

Aus ihrer Sicht sind weite Strecken des Buches erzählt, denn zwar lässt sie sich relativ bald testen, geht aber dann nicht nochmal hin, um sich ihr Ergebnis abzuholen. Sie ist hin und her gerissen, ob sie es wissen will oder nicht. Ob sie mit einem positiven Ergebnis leben könnte, und wie sie auf eine solche Diagnose reagieren würde. Soll sie mit ihrem Freund zusammen ziehen und dafür ihre Familie verlassen? Soll sie den Schritt in die Selbstständigkeit wagen? Doch wenn sie auch an Huntington erkranken wird, kann sie ihrem Freund das aufbürden? Sie verkriecht sich immer mehr in ihr Schneckenhaus und lebt ihr Leben weiter unter dem Damoklesschwert einer möglichen tödlichen Krankheit. Diese Zerrissenheit und dieser innere Konflikt, den Katie austrägt, sind die eigentlichen Stärken des Buches. Sehr gut kann man nachvollziehen, welche Ängste Katie aussteht und was sie davor zurückschrecken lässt, sich das Testergebnis abzuholen.

Aber natürlich widmet Lisa Genova auch Joe viel Raum. Wir erleben mit, wie er immer größere Schwierigkeiten bekommt, seinen Alltag zu meistern, wie er daraufhin seinen Job aufgeben muss und wie er gezwungen ist, einen sehr krassen Schritt zu gehen, um sicherzustellen, dass seine Frau nach seinem Tod versorgt sein wird. Es ist ein verzweifelter Kampf gegen eine Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt. Aber Joe erkennt mit der Zeit, dass er seinen Kindern vermitteln muss, wie man positiv mit der Krankheit umgeht.

Lebe!

„Ein guter Tag zum Leben“ ist wieder einmal ein eindrucksvolles und einfühlsames Portrait einer Familie, die mit einem großen Schicksalsschlag zu kämpfen hat. Die O’Briens halten zusammen, aber doch muss jeder für sich einen eigenen Kampf ausfechten und schauen, wie er selbst mit der Situation umgeht – und jeder macht es auf seine Weise, aber jeder auf nachvollziehbare Weise. Lisa Genova beweist hier wieder einmal, dass sie sich in solche Schicksale einfühlen und den Betroffenen eine Stimme verleihen kann. Jeder Zeile merkt man an, dass viel Herzblut in ihr liegt und deswegen liest man dieses Buch auch rasend schnell. Zwar ist nicht mehr alles neu wie bei Lisa Genovas Debütroman, nichtsdestotrotz verdient auch ihr neuestes Buch wieder einmal die Höchstnote.

Klappenbroschur: 416 Seiten
ISBN-13: 978-3785725474
www.luebbe.de

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