Lorentz, Iny – Kastratin, Die

_Zwei Autoren unter einem Namen_

Die aus Köln stammende Iny Lorentz, die heute als Programmiererin für eine Münchner Versicherung arbeitet, hatte vor dem Erscheinen ihres Buchs „Die Kastratin“ bereits einige Kurzgeschichten veröffentlicht, teilweise gemeinsam mit ihrem Mann Elmar, der auch an ihren historischen Romanen aktiv mitgewirkt hat, wenn er auch keine namentliche Erwähnung findet. Nach dem großen Erfolg des hier behandelten Buch, das ihr erster veröffentlichter historischer Roman war, sind von ihr bereits weitere historische Romane erschienen: „Die Wanderhure“ und „Die Goldhändlerin“. „Die Tartarin“ sowie „Die Kastellanin“ (eine Fortsetzung der „Wanderhure“) erscheinen im Laufe des Jahres 2005.

_Die Frau als Mann_

Die Geschichte führt den Leser in die Zeit der italienischen Renaissance. Zur Unzeit, direkt vor einer bedeutenden kirchlichen Feier, fällt in einer kleinen italienischen Gemeinde der Solist unter den Chorknaben aus, da er vorzeitig in den Stimmbruch kommt. Der Kapellmeister und der Chorleiter wählen in ihrer Not Giulia, die elfjährige Tochter des Kapellmeisters, als Ersatz aus. Ein großes Risiko, denn Frauen ist das Singen kirchlicher Musik verboten. Giulia wird daher kurzerhand als Junge verkleidet. Die prominenten Besucher des Festes sind jedoch so begeistert von dem Gesang des vermeintlichen Chorknaben, dass sie ihn unter ihre Fittiche nehmen und kastrieren lassen wollen, eine Entdeckung der Täuschung wäre unvermeidlich. Daher flieht der Kapellmeister mit seiner Tochter und zwei Dienstboten und zieht fortan durch die Lande. Als sich einige Jahre später jedoch die Geldnot einstellt, greift er den Gedanken von damals wieder auf und gibt Giulia unter falschem Namen als Giulio Casamonte, seinen kastrierten Sohn, aus und lässt diese mit ihrer unvergleichlichen Stimme seinen eigenen dekadenten Lebenswandel bestreiten.

Giulia muss fortan ständig mit Entdeckung rechnen, in welchem Fall ihr mit ziemlicher Sicherheit der Scheiterhaufen droht. Ihre folgende Sänger-Karriere führt sie bis an den Papstsitz in Rom, wo sie Pius IV. auffällt, der sie an den Hof des Kaisers Maximillian II. nach Wien sendet. Giulia wird in Wien ungewollt in die Feindseligkeiten zwischen der katholischen Kirche und den lutherischen Reformisten verwickelt. Als ihr Diener dort erkrankt, erkennt sie, dass sie nur ein Spielball der Mächtigen ist und über ihre eigene Zukunft kaum mehr Entscheidungsgewalt verfügt. Eine weitere Komplikation ergibt sich, als ihr immer mehr bewusst wird, dass sie sich in ihren Begleiter Vincenzo de la Torre verliebt hat und er sich in sie, doch er hält sie für einen Kastraten und beide werden der Sodomie verdächtigt. Als dann auch noch der stimmbrüchige, mittlerweile erwachsene Chorknabe von damals Giulia bei den päpstlichen Behörden verpfeift, ziehen sich die Schlingen des Schicksals über Giulia und Vincenzo zusammen.

_Von Nichtmännern und Singvögeln_

In „Die Kastratin“ zeichnet Iny Lorentz ein lebendig wirkendes Bild der Renaissance. Im Mittelpunkt steht dabei die Geschichte Giulias und ihr Leben als vermeintlicher Kastratensänger.
Die Sprache ist in einem pseudo-ältlichen Stil gehalten, der mir persönlich zwar weniger liegt, dem ich jedoch zugestehen muss, dass er gerade für die Zeit der Renaissance sehr gut passt. Die etwas ausschweifende, beschreibungsfreudige Erzählweise der Autorin kann die üppige Lebenspracht der Reichen und die im Gegensatz dazu stehende Lebenskargheit der Armen recht gut vermitteln.

Dennoch fallen mir ein paar ältliche Formulierungen wie „Verschnittener“, „Nichtmann“ etc. stellenweise unangenehm auf und stören den Lesefluss, obwohl ich mir bewusst bin, daß diese Störung ein Fabrikat meiner modernen Wahrnehmung ist. Gesang in einem Buch zu beschreiben, stelle ich mir sehr schwierig vor. Die Autorin scheint das ähnlich zu sehen, denn an den meisten Stellen, wenn Giulia singt, klinkt sie sich geschickt aber eben dennoch nicht unauffällig aus dem Geschehen aus. Es ertönt der erste Ton und Giulia und ihre Zuhörer werden in eine andere Welt entrückt, um mit dem Verklingen des letzten Tons erst wieder auf unserem Planeten zu landen. Was genau ihren Gesang so besonders macht, habe ich bis zuletzt nicht verstanden. Etwas störend fand ich auch, dass Giulia etwa alle zehn Seiten „singt, so schön wie noch nie zuvor“, diese ständige Wiederholung wirkt mit der Zeit zwangsweise unglaubwürdig.

Die unvermeidliche Liebesgeschichte der verkleideten Frau, die sich in einen Mann verliebt, und des Mannes, der verwirrt ist, weil er sich zu einem vermeintlichen Mann (oder in diesem Fall eben einem Eunuchen) hingezogen fühlt, ist ja nun bei weitem nicht neu und beinahe schon etwas ausgeleiert. Andererseits ist das ein Plot, der mir schon immer gut gefallen hat. Iny Lorentz stellt diese Gefühlswelt recht gut dar; ob es als Szenario realistisch ist, sei mal dahingestellt.

Sehr gut dargestellt finde ich jedoch den Gefühlszwiespalt Giulias/Giulios. Sie ist in die Rolle des Kastraten hineingezwungen worden und wäre lieber die Frau, die sie eigentlich ist. Andererseits wäre es dann vorbei mit dem Singen, das der Inhalt ihres Lebens ist, und ihrem Drang nach dem Singen kann sie nicht widerstehen. Über dem Waschtrog ein Wiegenliedchen zu trällern, reicht ihrem Ehrgeiz einfach nicht, sie will vor Publikum kirchliche Werke schmettern und mit ihrem hohen F das Kristall adliger Herren zerdeppern (übrigens ein Mythos: Die menschliche Stimme ist zu derlei nicht imstande).

Der historische Hintergrund ist gut gezeichnet, ohne dass sich die Autorin zu viel Freiheit den historischen Verhältnissen gegenüber herausnimmt. Dem Leser begegnen einige historische Persönlichkeiten wie Galileo Galilei (noch im Krabbelkindalter) und seine Eltern, Papst Pius IV., Maximilian der II. etc. Die historische Korrektheit eines Buches dieser Klasse steht für mich selbst allerdings auch nicht an erster Stelle, es genügt mir zu wissen, dass der geschichtliche Hintergrund halbwegs glaubhaft dargestellt ist – und das ist hier allemal der Fall.

Nachdem sich das Buch über den größten Teil recht weitläufig hinzieht, erscheint dann plötzlich das Ende so abrupt, dass es wie ein Stilbruch wirkt. Und nicht nur das – es wirkt auch sehr konstruiert und nicht sonderlich überzeugend. Es bleiben ein paar ungelöste Fäden der Geschichte (wie der Verbleib des Vaters), die mich unwillkürlich an eine Fortsetzung denken lassen. Die Geschichte ist – man möge mich nicht falsch verstehen – jedoch in sich abgeschlossen.

Ansonsten muss man für ein Buch dieser Dicke und Erzählfülle nur relativ wenige Längen in Kauf nehmen. Andererseits treibt uns die Spannung aber auch nicht wirklich voran, doch darum geht es meiner Meinung nach auch nicht. Das einzige große Element, das wirklich Spannung erzeugt, ist die Angst Giulias vor einer Entdeckung und dem, was unweigerlich darauf folgen müsste.

Mit „Die Kastratin“ legte Iny Lorentz einen gelungenen ersten historischen Roman vor. Die Story ist gefühlvoll geschrieben, das historische Setting interessant. Einige kleinere Mängel sind für mich die ältlich angehauchte Sprache mit ihren teilweise sehr gewöhnungsbedürftigen Formulierungen und ein dahingehastetes Ende, insgesamt aber ein empfehlenswertes Buch.

http://www.delia-online.de/iny_lorenz.htm