Lyon Sprague de Camp – Das Orakel der Fremden. SF-Roman

Revolution auf der Welt der Bienenköniginnen

Auf der Suche nach einem verschollenen Raumschiff landet eine Wissenschaftlergruppe auf einem erdähnlichen Planeten, auf dem sich humanoide Spezies entwickelt haben, die in kleinen, bienenstaatähnlichen Gemeinschaften leben. Eine Königin herrscht über ihre Untertanen, hauptsächlich ungeschlechtliche Arbeiterinnen und Kriegerinnen. Die männlichen Nachkommen werden meist schon im zarten Säuglingsalter massakriert; nur ein paar Drohnenmännchen werden aufgezogen, damit sie die Königin befruchten.

Die irdischen Wissenschaftler machen sich in einheimischer Begleitung auf, um das geheimnisvolle Orakel zu besuchen, weil sie vermuten, dass dort vielleicht Spuren der verschollenen Expedition zu entdecken seien. Und sie entdecken noch etwas anderes: In Not geraten und von Mordbrennern verfolgt, die es auf die modernen Waffen der Terraner abgesehen haben, ist es einer der einheimischen Arbeiterinnen nicht möglich, ihre strengen Diätvorschriften einzuhalten. Sie ist gezwungen, von der Fleischnahrung der Drohnen zu kosten. Und da geschieht plötzlich etwas, das die soziale Ordnung ihrer primitiven Gesellschaft zerbrechen lässt. (Verlagsinfo)

Der Autor

Lyon Sprague de Camp wurde 1907 in New York City geboren, studierte dort lebte in verschiedenen Südstaaten und in Kalifornien, erwarb den akademischen Grad eines Bachelor of Science und machte 1933 seinen Master of Science. Neben seinen Gelegenheitsarbeiten als Dozent, Ingenieur, Patentanwalt, Werbetexter und Offizier der US Naval Reserve war er doch die meiste Zeit als freier Autor und Herausgeber tätig. Er verfasste mehr als achtzig Bücher, von denen die SF nur einen geringen Teil ausmacht. Am liebsten war mir immer „Mathemagie“, die fünf Harold-Shea-Romane, die de Camp zusammen mit Fletcher Pratt schrieb (1988, ISBN 3-453-02790-6).

Seine erste Story erschien 1937 in „Astounding Stories“. Seine besten Stories sind in der Collection „A gun for dinosaur“ gesammelt, die 1980 bei Heyne unter den Titeln „Ein Yankee bei Aristoteles“ und „Neu-Arkadien“ erschien. De Camp schrieb seinen Roman „Vorgriff auf die Vergangenheit“ bereits 1939, wobei er zunächst eine Kurzgeschichte im Magazin „Unknown“ veröffentlichte. Der komplette Roman erschien 1941 bei H. Holt & Co. und wurde 1949 von Galaxy Publishing sowie Philadelphia Prime Press nachgedruckt.

Schon bald schrieb de Camp Romane, auch in der Fantasy und in Zusammenarbeit mit Fletcher Pratt und P. Schuyler Miller. Sein herausragender SF-Roman ist „Vorgriff auf die Vergangenheit“ (Lest Darkness Fall, 1939), aber auch in der Fantasy und im Sachbuchbereich erhielt er mehrere Preise, und 1979 wurde ihm den Nebula Award für sein Lebenswerk, der „Grand Master Award“, verliehen. Er starb am 6. November 2000 und wurde auf dem Nationalfriedhof in Arlington, neben seiner Frau, beigesetzt.

Handlung

Eine Melderin zerstört die Ruhe im Palast der Königin: Ein Himmelsschiff sei im Tal der Gliid gelandet, und dessen Besatzung auf Weibchen und Männchen nenne sich „Menschen“. Als die Königin, die gerade ein Ei gelegt hat und noch recht erschöpft ist, nachhakt, erzählt Melderin Rodh Dinge, dass die Wächterin Iroedh mit den Ohren geschlackert hätte, wenn sie welche gehabt hätt: Diese Weibchen seien die ganze Zeit fruchtbar – und, noch schlimmer: Die Männchen auch! Es geht bei diesen „Menschen“ offenbar zu wie bei den Tieren. Merkwürdig sei dann aber, dass sie über sehr fortschrittliche Waffen verfügten. Diese könnten im Kampf gegen die feindlichen Nachbarn aus Tvaarm nützlich sein.

Verrückt

Die Königin befiehlt einen Erkundungstrupp. Rodh nimmt Iroedh nimmt, obwohl diese als verschroben gilt. Iroedh beschäftigt sich mit seltsamen Dingen wie etwa Ruinen, Antiquitäten – und mit den Drohnenmännchen der Königin. Rodh würde ausflippen, wenn sie wüsste dass diese verrückte Arbeiterin sogar alte Liebeslieder und das 2000 Jahre alte Idhios-Epos kennt. Mit hämischen Worten setzt sie am nächsten Morgen Iroedh davon in Kenntnis, dass ihr Gspusi Antis, der Drohnenmann der Königin, für die Säuberung ausgewählt worden sei.

Erstkontakt

Rodh und vier linientreue Arbeiterinnen trifft am emporragenden Raumschiff der „Menschen“ ein, wo sie ihr Lager aufschlagen. Iroedh macht sich anerbötig, mit den nichtsahnenden Menschen zu sprechen. Sie erhält grünes Licht, die Fremden auszuhorchen, aber mehr nicht. Unter diesen ist Dr. Winston Bloch, den sie „Daktablak“ nennen darf, der Wissenschaftler für Fremdkulturen. Er ist der einzige, der fließend Avtinisch spricht. Schon im ersten Gespräch mit dem Captain Subarrau, der Wissenschaftlerin Barbe Dulac und dem Fotografen O-Mara stößt die kluge Iroedh auf eine befremdliche Sache, die die Menschen „Liebe“ nennen. Sie kennt das nur aus alten Liedern, und sie scheint bei den Menschen genausowenig zu funktionieren.

Der Ausflug

Iroedh bietet den Menschen an, sie zu alten Ruinen auf dem nächsten Hügel zu führen. Die alte Festung sei einst von abtrünnigen Drohnen als Ausgangsbasis für ihre Überfälle genutzt worden, aber inzwischen längst verfallen. Bloch, Dulac und O’Mara begleiten die halbnackte, rothäutige und gelbäugige Arbeiterin, denn sie halten sie für harmlos. Mit Interesse beobachtet sie, wie Bloch eine sogenannte „Machete“ schwingt, um den alten Pfad von Gesträuch zu befreien. Das zu lernen, gelingt ihr im Handumdrehen, und O’Mara lässt sich auch nicht lange bitten. Nur das Weibchen, Dulac, scheint irgendwie betrübt zu sein.

Bei einer Rast, während der Bloch auf Erkundung ist, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem inzwischen betrunkenen Fotografen und seiner ehemaligen Verlobten Dulac. Sie haut ihm eine runter und er bedroht sie. Interessiert beobachtet Iroedh, wie Bloch hinzukommt und beginnt, Dulac zu verteidigen (sie hat sich schon gedacht, dass er etwas für sie übrighätte). Als er O’Mara den Fuß stellt, stolpert dieser und stürzt über den Abhang in die Tiefe. War es Mord, ein Unglück oder Selbstverteidigung? Bloch bekniet Iroedh förmlich, ihn und Barbe – aha, also doch! – nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Iroedh sucht nach einem Dreh, wie sie die Menschen erpressen kann, ihr eine dieser „Pistolen“ zu überlassen.

Der Hubschrauber

Iroedh schaut zu, wie die Terraner eine kleine Maschine zusammenbauen. Bestimmt hat sie mit Sex zu tun, behauptet Rodh. Iroedh hält lieber die Klappe, den Rodh ist stinkesauer: Sie hat bei den Menschen nur Ablehnung geerntet. Bloch erklärt Iroedh, dass es sich um einen Hubschrauber handle, und der Pilot führt das Ding vor. Iroedh kapiert gleich, wozu das Flugding gut wäre: Rodh hat erwähnt, dass die zum Tode verurteilten Drohnen gefangen gehalten würden. Und diese würde sie gerne befreien. Ihr Erpressungsversuch ist erfolgreich, und Bloch erklärt sich bereit, sie selbst im Hubschrauber nach Elham zum Gefängnis der Drohnen zu fliegen. Aber zuerst muss Iroedh ihre Angst vor der Höhe bewältigen…

Mein Eindruck

Eigentlich wollten sich die Terraner wie bei „Raumschiff Enterprise“ um Nichteinmischung bemühen, doch daraus wird auf sehr ironische Weise nichts. Sie müssen erkennen, dass sogar das Orakel selbst, quasi der oberste Tempeldiener und Erfinder der Prophezeiungen und Orakelsprüche, gar nicht von Ormazd stammt, sondern ein gestrandeter Außenweltler ist. Dieses Orakel ist die ultimative Widerlegung der Doktrin von der Nichteinmischung.

Die Perspektive

Das Interessanteste an diesem Roman ist wohl die Perspektive. Die meisten Autor*innen des Goldenen Zeitalters der SF hätten den Blickwinkel der Terraner gewählt. Doch der Autor lässt uns das Geschehen durch die Augen einer einheimischen „Frau“ betrachten. Das erweist sich als in vielerlei Hinsicht viel reizvoller, denn Frauen sind Meisterinnen der Verwandlung.

Aus der geschlechtslosen Arbeiterin wird eine rebellische Ausgestoßene, nachdem sie von der neuen Königin, der sie gerade noch zum Thron verholfen hat, zum Tode verurteilt worden ist. Sie schafft es, an der Seite ihres Liebsten, des Drohnenmännchens Antis, in der Wildnis zu überleben. Dort leben aber bereits Banden anderer Drohnenmännchen, vor allem des rebellischen Wythias. Dieser Krieger hat vor keiner sozialen Einrichtung Respekt, auch nicht vor dem Orakel. Und er ist scharf auf die fortschrittlichen Waffen der Terraner, deren Wirkung Dr. Bloch mehrfach eindrucksvoll demonstriert. Am Turm des Orakels kommt es zu einer ersten Schlacht, in der sich nicht zuletzt Iroedh bewähren kann.

Gender und Geschlecht

Iroedh muss sich wenig später entscheiden: Soll sie durch Verweigerung von Drohnennahrung verhungern oder stattdessen ein Tabu brechen, das so alt ist, dass man seinen Ursprung und Sinn kaum noch kennt. Nachdem sie mehrere Tage Drohnennahrung, also Fleisch gegessen hat, verändert sich ihr Körper: Aus der Arbeiter-„Biene“, die per Gender und Geschlecht geschlechts- und rechtlos ist, wird eine geschlechtsreife Avtini, die in Antis ihre männliche Ergänzung entdeckt – ganz neue Gefühle wallen in ihrem veränderten Körper, der auf einmal „weibliche Organe“ entwickelt.

Durch ihren Pseudo-Geschlechtswandel wird sie automatisch zur Rivalin der einzigen geschlechtsreifen „Biene“ in ihrem Staat, nämlich der Königin. Das wirft die ganze soziale, gender-gebundene Ordnung durcheinander. Zwangsläufig kommt es zu einem ziemlich brutalen Duell, denn die beiden Kontrahentinnen schenken sich nichts. Es sieht nicht gut aus für Iroedh, als sie Beistand von unerwarteter Seite bekommt.

Das Konkurrenzmodell

In der Folge kann sie den Kampf mit den Feinden Tvaarm aufnehmen, die ein Konkurrenzmodell der Gemeinschaft realisiert haben, das ebenfalls einen Blick wert ist. Bei den Arsuun sind die Weibchen und Männchen zu riesigen Kriegern hochgezüchtet worden, die der Königin lediglich formell untergeordnet sind, darunter kommen die arsuunischen Arbeiterinnen, doch die Mehrzahl des Arsuun-Volkes sind avtinische Sklaven. Diese Kriegerkaste sorgt für die Eroberung der umgrenzenden ormazdischen Kleinstaaten, quasi als Beweis ihrer Existenzberechtigung – und um die nötigen Rohstoffe und Lebensmittel für ihren Erhalt zu erbeuten.

Selbstbestimmung

Revolutionen sind amerikanischen Lesern aufgrund ihrer Geschicht nichts Unbekanntes, denn schließlich haben sie selbst ihre Unabhängigkeit in einer Revolution, dem Unabhängigkeitskrieg (1776-1783 sowie 1812), erringen müssen. Das Ziel war Selbstbestimmung – und Steuerbefreiung. Bei Iroedhs Aufstand geht es (noch) nicht um Steuern, wohl aber um Selbstbestimmung. Das Schöne daran: Sie musste erst einmal durch Verwandlung erkennen, worin ihre Bestimmung bestand, und zwar nicht nur als Ormazdierin oder Avtini, sondern vor allem als geschlechtsreifes Weibchen: Sie kann und muss Königin werden.

Das erfordert ein großes Maß an Selbstbewusstsein, wie so manche Szene zeigt: „Königin Iroedh? Königin von was?“, wollen Wächterinnen wissen. „Königin von Antis“, lautet die freche Antwort. Antis ist zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Verlobter oder schon angetrauter Mann. Auch ein Drohnenmann kann also sozial und privat aufsteigen.

Die Übersetzung

Ich bin nicht sicher, ob die Textfassung der Übersetzung dem englischsprachigen Original entspricht. Hier und da fehlen Antworten und Übergänge. Das beschleunigt zwar die Lektüre, kommt dem aufmerksamen Leser aber doch merkwürdig vor. Zumindest ist das Glossar, das sich am Schluss des Buches findet, vollständig erhalten geblieben. Ich habe herausgefunden, dass man es gar nicht benötigt, denn diese Bedeutungen ergeben sich aus dem Kontext.

S. 132: „Das verdammte Ding [ein Pfeil] hat mein Radio getroffen.“ Damit ist kein Rundfunkempfänger gemeint, sondern ein Funkgerät.

S. 171: „Iroedh empfand … Abschau vor ihrer Gestalt…“. Gemeint ist Abscheu. Denn Iroedh hat Fleisch gegessen, das nur für Drohnenmänner reserviert ist. Es verändert sie zu einer geschlechtsreifen Frau – mithin also zu einer potentiellen Königin!

Unterm Strich

Ich brauchte nur einen Tag, um das flott, actionreich und mit hintersinnigem Humor erzählte Garn über die Revolution auf dem Planeten Ormazd zu lesen. Diese Revolution ist zwar sozial, beruht aber auf den sexuellen Einteilungen, die Iroedh als zunehmend unterdrückerisch entdeckt. Mehrere Duelle und am Schluss eine veritable Schlacht sorgen für Action und beschleunigte Veränderungen.

Der Autor hat über Revolution, Selbstbestimmung und vor allem über die Rolle von Sexualität einiges zu sagen, über das sich nachzudenken lohnt. Den Lesern des Jahres 1951 muss der Roman jedoch die Phantasievorstellungen ganz schön angeregt haben. Schon der Titel mit der Erwähnung einer „abtrünnigen Königin“ (gemeint ist Iroedh) könnte eindeutig zweideutig geklungen haben: eine Königin, die fremdgeht…

Taschenbuch: 220 Seiten
Originaltitel: Rogue Queen, 1951
Aus dem Englischen von Friedl und Yoma Cap
ISBN-13: 9783453304796

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)