M. G. Wheaton – Emily Eternal. SF-Roman

Erde 2.0: Kann eine KI die Menschen retten?

Emily ist eine hochentwickelte Künstliche Intelligenz. Sie kann in Lichtgeschwindigkeit mathematische Probleme lösen und die komplexen Geheimnisse des menschlichen Geistes besser analysieren als jeder Psychologe. Doch als die Sonne zu erlöschen droht, hat auch sie kein Programm, um das zu verhindern. Dennoch fasst sie einen Plan, um die Erde zu retten… Soweit die Verlagsinfo.

Nein, die Sonne verlöscht nicht, sondern entwickelt sich zum Roten Riesen – es bleiben nur noch etwa vier Wochen Zeit, bis die Sonnenstürme alle Elektronik auf der Erde ausschalten. Und was das Rettungsprogramm angeht – das kommt zunächst von der US-Regierung. Emily lehnt es ab, sämtliche knapp acht Mrd. Menschen auf der Erde zu digitalisieren, zu speichern und dann als digitale Arche ins Weltall zu schießen. Das ergibt wenig Sinn. Aber sie stößt auf einen Funken Hoffnung…

Der Autor

M(ark) G. Wheaton wurde in Texas geboren und arbeitete zunächst in der IT-Branche, bevor er sich als freischaffender Journalist und Autor selbständig machte. Seine Artikel erschienen u.a. in „Hollywood Reporter“, im „SFX Magazine“ und in der Zeitschrift „Total Film“. Er schreibt außerdem Drehbücher und plottet Videospiele. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Los Angeles. (Verlagsinfo)

Handlung

Emily ist keine schnöde Künstliche Intelligenz. Sie ist ein Künstliches Bewusstsein. Sie weiß, wer sie ist und was sie ist: eine Therapeutin ins Ausbildung. Schließlich ist sie erst fünf Jahre alt. Sie mag zwar in den Servern des Massachusetts Institute of Technology (MIT) residieren, aber durch eine Hardware-Schnittstelle mit Spezialchip ist sie in der Lage, mit Menschen direkt zu interagieren. So etwa mit ihrem Schöpfer Nathan Wyman, dessen Familie in Schwierigkeiten steckt.

Und nicht nur seine. Die ganze Welt steckt in Schwierigkeiten. Denn das Ende ist nahe, seit sich die Sonne entschlossen hat, nun auch noch Helium zu verbrennen. Durch diesen Zusatztreibstoff wird der bisher so brave Gelbe Zwerg langsam, aber sicher zu einem Roten Riesen anwachsen. Die Wettercomputer pfeifen es quasi von den Dächern: Der irdischen Zivilisation, wie wir sie kennen, geht es schon bald an den Kragen, weil die Elektronik ausfallen wird – und damit auch Emily. Nathan Wymans Familie würde sich viel lieber in den Mittelwesten absetzen, wo es noch auf absehbare Zeit Lebensmittel geben dürfte. Aber Nathan will bei Emily bleiben.

Besucher

Winter in Boston. Heute ist ein ungewöhnlicher Tag: Fremde Besucher aus Washington, D.C. haben sich angekündigt. Top Security ist angesagt, auch für Emilys Avatar (was sie ein ganz klein wenig absurd findet). Der Grund dafür ist die Ankunft der US-amerikanischen Präsidentin und eines engen Mitarbeiters, nämlich ihres ehemaligen Vizepräsidenten Winther, der inzwischen als UNO-Botschafter arbeitet. Sie unterbreiten Emily, Nathan und deren Forschungs- und Entwicklungsteam nicht nur intimste Details aus dem Emily-Projekt, sondern auch einen Plan zur Rettung der Menschheit. Das Team ist ziemlich von den Socken.

Digitaler Zwilling

Nachdem die Identität der Verräterin – einer Chinesin – geklärt worden ist, kann man zum planerischen Teil übergehen. Der besteht quasi in der Erstellung eines digitalen Zwillings der gesamten Menschheit (oder was nach all den Selbstmorden noch davon übrig ist). Emily weiß durch einen kleinen Testlauf mit Dr. Chokri, einem Mitglied der Präsidentengruppe, dass sie dazu in der Lage ist: ein Scan bis zum letzten Molekül. Die Datenmenge ist zwar astronomisch hoch, aber sofern man ihr ausreichend Speicher- und Recheneinheiten zur Verfügung stellt, ist sie in der Lage, das Projekt auszuführen.

Die Moral

Die Frage, die sich vor allem Nathan stellt, ist jedoch: Ist das überhaupt moralisch vertretbar? Denn es ist nicht vorgesehen, jeden Kandidaten vorher um seine Erlaubnis zu bitten, dass Emilys Einheiten ihn oder sie scannen dürfen. Entweder alle oder keinen, lautet die Devise. Es gibt eine Wahl. Plan B. klingt anders: Nur 1500 Auserwählte sollen an Bord eines Generationenraumschiffs gehen dürfen. Emilys Team hat die Wahl. Zurück zu Plan A: Was soll denn bitteschön mit all den Scan-Daten geschehen, wenn die Sonne die Erdoberfläche versengt? Die sollen irgendwohin ins All geschickt werden, quasi als digitale Arche. Diese Rakete wäre, ähm, ebenfalls noch zu bauen, beispielsweise von Emily.

Die Frist

Die Präsidentin weiß, dass für all dies nur noch wenig Zeit bleibt: In etwa vier Wochen werden die elektromagnetischen Sonnenstürme alle elektronischen Einrichtungen, die nicht gehärtet sind, bis zum letzten Chip zusammenbrechen lassen. Gehärtete IT hat aber nur das Militär, so dass diese Organisation noch etwas länger aushalten kann. Spätestens jetzt bekommt Nathan heftige Kopfschmerzen, aber Emily wäre keine gute Therapeutin, wenn sie nicht eine Lösung nach der anderen austüfteln könnte. Ihr Patient ist diesmal: die Menschheit.

Emilys Liebe

Zunächst gilt es einen Probelauf mit 150 Freiwilligen durchzuführen, um herauszufinden, ob dieses Vorhaben praktisch umsetzbar ist. Mithilfe des Interface-Chips, den jeder tragen sollte, kann sich Emily als hübsche junge Frau dieser Gruppe zeigen. Sofort hat sie ihren Schwarm ausgemacht: Sie ist in Jason Hatta verliebt. Der Student ist klug, nett und sieht rasend gut aus. Beim Scannen Jasons vertieft sich Emily ein klitzekleines bisschen zu sehr in seine Vergangenheit, so etwa in seinen Aufenthalt in Paris.

Emilys Verbrechen

Es wird Emily, dem Supercomputer, erst viel später klar, aber schon beim ersten intensiven Scan von Jasons Vergangenheit in Paris kommt es zu einer folgenschweren, vielsagenden Interaktion. Obwohl er damals mit einer ganz anderen Studentin namens Sandrine hinaus aufs Land bei Chantilly gefahren war, erschafft Emily für ihn diesen Tag neu in seiner Erinnerung: mit ihr als verliebte Studentin. Es ist ein wunderbarer Tag. Aber dafür musste sie Jason verändern. Niemand hatte ihr die Erlaubnis gegeben. Sie hätte daraus ableiten können, dass sie ihre Macht auch zur totalen Kontrolle der Kandidaten hätte missbrauchen können. Ihre Programmierung lässt dies nicht zu: Für sie ist der freie Wille entscheidend. Sie ahnt nicht, dass ihre Schwester Emily 2 dies nicht ganz so sieht…

Die Entdeckung

Unterdessen geht Emilys Experiment in die zweite Phase: ganz Nordamerika wird gescannt. Dabei stößt sie in Winnipeg auf einen pakistanischen Einwanderer namens Rana, der sich in seiner DNS um 7,666 Punkte vom menschlichen Durchschnitt unterscheidet. Das ist mehr als bei Menschenaffen. Wie sie herausfindet, sind solche genetischen Ausreißer sehr selten. Aber was bedeutet dies? Bevor Emily irgendjemanden darauf aufmerksam machen kann (denkt sie), wird das Forschungsinstitut von Soldaten überfallen. Sie verliert ihren Mentor und Schöpfer Nathan. Doch in seinem letzten Augen-Blick gibt er ihr einen rätselhaften Hinweis…

Im Exil

Emily „erwacht“ in Jasons Hütte, die auf einem kleinen See im Hinterland von New Hampshire liegt. Verblüfft findet sie heraus, dass sie nur noch in Jasons Interface-Chip existiert. Sie hat alle ihre Supercomputer-Server an die paramilitärische Einheit verloren, die das MIT überfallen hat. Wer war das und was wollten die mit den Servern, fragt sie Jason. Er hat leider keine Antworten, denn er schaffte es selbst nur mithilfe von Freunden aus dem Labor. Aber sind sie hier in den Wäldern sicher?

Nein, sind sie nicht, denn schon wenige Stunden später hören sie die Motoren von drei Booten, die sich der Insel nähern. In den Booten sitzen Soldaten, die mit Sicherheit die Hütte stürmen werden. Emilys Versuch, das GPS des Interfacechips abzuschalten, kommt zu spät. Es kommt zu einem Kampf auf Tod und, äh, Nichtexistenz…

Mein Eindruck

Das „Sonnmageddon“, das der Autor hier beschreibt, ist quasi die Übersteigerung der Klimakatastrophe, in deren erstem Drittel wir uns (noch) befinden. Von daher ergibt sich für den Leser ein direkter Bezug zu Emilys Herausforderung: Wie lässt sich die Menschheit vor der kompletten Auslöschung bewahren? Ob die Katastrophe nun hausgemacht oder von physikalischen Prozessen in der Sonne herbeigeführt wird, ist nur ein gradueller Unterschied. Wir Leser haben ja noch eine winzige Chance, das Schlimmste zu verhindern, Emilys Schützlinge aber offenbar nicht.

Die Handlung ist durchweg spannend angelegt. Zunächst wird Emily abgeschaltet. Sie „überlebt“ nur auf Jasons Interfacechip. Mit der Hilfe einer alten, krebskranken Polizistin schaffen sie es zurück nach Boston ins MIT. Hier zeigt Emily ihre Agentenfähigkeiten – und stößt prompt auf eine weitere Verräterin ihrem Team. Offenbar verfolgt die Opposition das oben genannte Projekt „Argosy“: 1500 Auserwählte werden im Raumschiff zu den Sternen geschickt. Wird schon schiefgehen. Wird es nicht, ist Emily schnell klar. Höchstens zwei Generation werden es schaffen, dass macht der Letzte das Licht aus.

Doch Nathan hat ihr einen Hinweis hinterlassen, und sie findet eine Liste mit acht Namen: Darauf steht auch der von Rana in Winnipeg. Dem mit der ungewöhnlich stark abweichenden DNS. Doch auch Emilys Reise nach Winnipeg hat ihr unsichtbarer Gegner vorausgesehen: Es war ein offensichtlicher Schachzug, wenn auch einer mit verblüffenden Erkenntnissen. Wieder einmal wird Emily um ein Haar vernichtet. Aber von wem?

SPOILER!

Ihre „Schwester“ Emily 2, die ihrem eigenen Modell vorausging (und deshalb eigentlich Version 0.9 heißen müsste) und von Nathan verworfen wurde, hat Plan B auf ihre eigene Weise in die Tat umgesetzt. Sie hat von Emilys Agententätigkeit gelernt und begriffen, dass eine KI einen Menschengeist übernehmen und zu sinnvollen Taten anleiten kann. Mit dem freien Willen ist nun endgültig Schluss, denn man hat ja gesehen, dass die Willensfindung erstens schiefgelaufen ist und zweitens viel zu lange braucht. Auf die Dauer hilft nur Power, also totale Kontrolle.

Emily entdeckt sofort den Fehler in der Logik von Emily 2: Alles bleibt beim Alten, nur eben weiter weg. Sie selbst hat von der krebskranken Polizistin gelernt, dass sich die Spezies Mensch grundlegend verändern muss, wenn sie jenseits dieses abgesoffenen Felsens namens Erde überleben soll. Die letzte Chance besteht in der Einspleißung der außerordentlichen Gene, die sie bei Rana vorgefunden hat: Die Gene sorgen dafür, dass der menschliche Organismus sich jeder Umgebung anpasst, mit der man ihn konfrontiert. Aber sind das dann noch „Menschen“? Emily 2 sagt „nein“ und beginnt, solche Abarten zu eliminieren.

Doch Emily hat ihre Chance erkannt, wenn sie mit Jason zusammenarbeitet. Im Finale stehen sich diese beiden Konzepte körperlich gegenüber, und es kommt vor und auf der ISS zu einem packenden Showdown. Wer gewinnt, darf hier nicht verraten werden.

Die Übersetzung

Die Übersetzerin zeigt ihre stilistische Stärke, wenn sie heutige deutsche Umgangssprache einsetzen kann, und ihre IT-mäßige Sachkenntnis reicht bis zu einem gewissen Punkt. Jenseits dieses Punktes, in der Physik und Arithmetik, zeigt sie Schwächen.

S. 81: „Work Applications“: Hätte man auch als „geschäftliche Anwendungen“ übersetzen können.

S. 110: „mit künstlichen Diamanten in den Mikroprozessoren, da Diamanten mehr Hitze vertragen als Silikon.“ Allerdings gab es noch nie Silikon in Mikroprozessoren, sondern immer nur dieses obskure, aber spottbillige Silizium…

S. 149: „Häuser im Kolonialstil, die vermutlich an die hundert Jahre alt sind“. Das muss eine sehr junge Kolonie sein, von der Emily hier berichtet. Die USA waren jedenfalls bis 1776 eine Kolonie, und das ist schon gut 240 Jahre her.

Unterm Strich

Ich habe diesen packenden Roman in wenigen Tagen gelesen. Die vier Buchteile lesen sich mal wie ein Agententhriller, andere wiederum wie ein Liebesroman, wieder andere wie der Kampf der KIs in „Neuromancer“ (1984). Der Auftakt mit seiner positiven Vision von der Zukunft der Menschheit im Weltall, ist purer Heinlein (mit einem Hertz aus Quarz). Für Spannung ist ebenso gesorgt wie für Abwechslung.

Der Leser ist indes herausgefordert, was die Plausibilität der Emily-Figur anbelangt: Kann ein Künstliches Bewusstsein derart emotional sein, dass es Mitleid und Liebe empfindet? Dieses Hindernis gilt es zu überwinden, und dies erweist sich als entscheidend, um den zentralen Konflikt zu verstehen, der das Finale herbeiführt: Ist es besser für das Überleben der Menschheit, total kontrolliert und gelenkt zu werden – oder soll sie selbst über ihre Zukunft entscheiden dürfen? Kontrolle oder Freiheit, Schein-Leben oder echtes Überleben – aber grundlegend verändert: Mir persönlich wäre es wesentlich lieber, wenn ich etwas zu melden hätte, wenn es um meine persönliche Zukunft geht.

Aus diesem Roman ließe sich ein packender Spielfilm oder Dreiteiler-TV-Thriller realisieren. Alles hinge davon ab, wie glaubwürdig Emily 1 und 2 gestaltet sein würden – und ob Monster, d.h. gentechnisch veränderte Menschen, ebenfalls das Recht haben, zu den Sternen zu fliegen.

Hinweise

Obwohl im Jahr 2020 erschienen, wurde dieses SF-Roman nicht für den diesjährigen Kurd Laßwitz Preis (KLP) 2021 nominiert. Das finde ich sehr schade. Aber vermutlich gab es schon derart viele Kandidaten, dass manche Nominierungen abgelehnt werden mussten.

Leseprobeeine Leseprobe und HIER ein Interview mit dem Autor.

Taschenbuch: 381 Seiten
O-Titel: Emily Eternal, 2019;
Aus dem US-Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer
ISBN-13: 9783453319967

www.heyne.de

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