M. R. James – Verlorene Herzen (Gruselkabinett 101)

Grusel im Badezimmer: Herzen in Gefahr

Aswarby Hall, 1811/12: Der Waisenjunge Stephen wird zu einem weit älteren, entfernten Verwandten auf ein Herrenhaus auf dem Land geschickt, um fortan dort zu leben. Es dauert nicht lange, da hat der Junge unheimliche Begegnungen in dem alten Haus, die ihm Rätsel aufgeben… (Verlagsinfo)
Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14 Jahren.

Die Geschichte wurde bislang zweimal verfilmt, 1966 und 1973. Siehe dazu: http://en.wikipedia.org/wiki/Lost_Hearts

Der Autor

Montague Rhodes James (1862-1936) war ein englischer Altertumsforscher und Autor von Geistergeschichten. Außerdem war er Provost von Cambridge University und Eton College. Der Öffentlichkeit bekannt wurde James ab 1894 durch seine Geistergeschichten, wobei er sich auf zahlreichen Reisen auf dem europäischen Kontinent Anregungen holte. Seine profunden historischen Kenntnisse, die er in seine Erzählungen einfließen ließ, geben diesen einen Anstrich von Authentizität.

James bediente sich häufig der Elemente von „klassischen“ Geistergeschichten und perfektioniert diese: Der Schauplatz ist oft eine ländliche Gegend, Kleinstadt oder eine ehrenwerte Universität mit einem verschrobenen Gelehrten als Protagonisten. Die Entdeckung eines alten Buches oder einer anderen Antiquität beschwört das Unheil oder eine dunkle Bedrohung herauf. Dabei wird das Böse eher angedeutet und der Vorstellung des Lesers überlassen, wogegen die Charaktere und der Schauplatz detailliert beschrieben werden. (Quelle: Wikipedia)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Timmo Niesner: Erzähler
Alexander Mager: Stephen Elliott
Uli Krohm: Mr. Abney
Dorothea Walda: Mrs. Bunch
Kaspar Eichel: Mr. Parkes
Helmut Krauss: Mitreisender
Ulrike Möckel: Mitreisende
Detlef Bierstedt: Kutscher
Liv Auhage: Phoebe Stanley
Lando Auhage: Giovanni Paoli

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania-Medien-Studio und in den Planet-Earth-Studios statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

Der elfjährige Stephen Eliot hat vor kurzem seine Eltern verloren und soll nun bei seinem Vetter in Lincolnshire aufwachsen. Als er den Mitfahrenden in seiner Kutsche davon erzählt, dass sein nächster Halt Aswarby Hall sein werde, verhalten diese sich merkwürdig zurückhaltend. Sie berichten ihm zwar, dass Mr. Abney, der Besitzer von Aswarby Hall, als Historiker eine Koryphäe für heidnische Riten sei und über eine riesige Bibliothek verfüge, er aber zugleich in der Gegend unbeliebt sei. „Er ist sehr groß, dürr und bleich“, sagt das Ehepaar.

Die Kutsche kommt endlich an, und Stephen verabschiedet sich von den netten Mitreisenden. Sie sehen ihm mit besorgten Blicken nach. Ein Mr Parkes öffnet dem Jungen, und eine Mrs. Bunch scheint die Köchin und Hausverwalterin zu sein. Der Hausherr ist entgegen allen Befürchtungen Stephens überaus freundlich, lädt ihn zum Abendessen und erkundigt sich angelegentlich nach seinem Geburtstag. Der sei am 11. September gewesen. „Also bist du erst elf – wie schön“, meint Mr Abney.

Es wird November und kühl und grau, so dass der große Park, der das Herrenhaus umgibt, in seinen Ecken noch dunkler wirkt. Jetzt hört erstmals das Flüstern von zwei Kindern im Haus. Als er Mrs Bunch, die inzwischen seine beste Freundin geworden ist, danach fragt, erwähnt sie, dass Mr Abney, der „ein wirklich guter Mensch“ sei, einst zwei Kinder bei sich aufnahm, die aber beide spurlos verschwanden. Damals, das muss wohl so um 1792 gewesen sein, nahm er das Zigeunermädchen Phoebe auf, und im Winter von 1805 war es ein zerlumpter, einsamer Junge namens Giovanni Paoli, der die Drehleier spielte. „Das war erst vor sechs Jahren, meine Güte, wie die Zeit vergeht!“ Aber wie es kam, dass die Kinder verschwanden, vermag sie auch nicht zu erklären.

Stephen beginnt von dem Badezimmer am Ende des Flurs zu träumen. Er muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um durch das Fensterchen über der Tür in das Zimmer sehen zu können. In der Wanne sitzt ein Mädchen. Es hat fahlweiße Haut und weint blutige Tränen. Als er es anspricht, ermahnt es ihn fortzugehen, „sonst wird es dir wie uns ergehen“. Sie breitet die Arme aus, die in langen Fingerkrallen enden, und entblößt ihre Brust…

Stephen erwacht mit einem Schrei. Er befindet sich nicht in seinem bett, sondern vor dem Badezimmer. Mrs. Bunch, die herbeieeilt, spricht ihn an. „Was hat dich denn so erschreckt, dass du kreidebleich geworden bist?“ Stephen stottert: „Das Mädchen – es hatte ein Loch in der Brust, wo ihr Herz hätte sein sollen…“

Mein Eindruck

Es ist eine unheimliche Erzählung voller Vorausverweise auf das, was unausweichlich kommen wird. Das Schicksal des Jungen ist vorgezeichnet, und die Anzeichen sprechen alle dafür, dass er das gleiche Schicksal erleiden wird wie Phoebe und Giovanni, seine Vorgänger. Noch aber ahnt er nicht, wann und wie seine Stunde schlagen wird.

Und warum sollte er auch? Sein Vetter ist ein freundlicher, wenn auch recht zurückgezogen lebender Mann, Mrs Bunch ist fast schon ein Mutterersatz für ihn, und Mr Parkes bemüht sich, korrekt zu bleiben und Mrs Bunchs Liebe für den Jungen zu erdulden.

Doch die Träume, die Stephen warnen, nehmen kein Ende. Und es bleibt nicht bei den Träumen. Was haben die fünf Kratzer auf seiner Zimmertür, die er immer verschlossen halten muss, zu bedeuten? Und warum entsprechen sie exakt den fünf Schlitzen, die sich in seinem Nachthemd finden? Da wundert es ihn schon gar nicht mehr, dass Mr Parkes Kindergeflüster im Weinkeller hört. Er hält es für Ratten, die im Gemäuer rumoren, aber Stephen weiß es besser.

Dass man Mr Abney schließlich nach jener schrecklichen und stürmischen Nacht von 24. auf den 25. März tot in seinem Sessel findet, ist natürlich sehr traurig. Aber auch ein Rätsel. Weder der Polizist noch der Leichenbeschauer können sich erklären, wie Mr. Abney zu Tode kam und woher das Loch in seiner Brust stammt. „Eine Wildkatze“, lautet die Erklärung, und dass das Fenster offensteht, stützt diese Erklärung.

Aber Stephen ahnt, dass die wahre Ursache woanders zu suchen ist. Die Wahrheit erfährt er erst am Tag seiner Volljährigkeit, denn dann händigt ihm Mrs Bunch alle Papiere aus, die Mr. Abney auf seinem Tisch liegen hatte. Ein letzter Brief an Stephen enthüllt die Menschenverachtung und den Größenwahn des kinderlosen Einzelgängers, der an Stephen ein heidnisches Ritual vollziehen wollte.

Alle seine Opfer durften das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, denn dann endete ihre Kindheit. Ihr Tod bedeutete also auch das Ende ihrer Unschuld. Die letzten Rätsel aber lauten: Wer ist der Täter und warum musste die Tat unbedingt in der Nacht zum 25. März geschehen?

Der Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Drei erwachsenen Sprechern, die die Haupthandlung bestreiten, stehen drei Kindersprecher gegenüber. Diese Symmetrie ist bestimmt kein Zufall. Alexander Mager mag als Stephen zunächst allein dem wachsenden grauen gegenüberstehen, doch immer wieder flüstern Liv und Lando Auhage als Phoebe und Giovanni ihre Warnungen, die immer eindringlicher werden, je näher der 25. März rückt.

Zunächst erwartet man, dass neben Mr Abney auch Mrs. Bunch und Mr Parkes etwas im Schilde führen, aber dem ist nicht so. Auch wenn das ein wenig unplausibel erscheinen mag, aber man sollte bedenken, dass das Verschwinden von Phoebe zum Teil vor langer Zeit geschah. Man kann nicht behaupten, dass Aswarby Hall ein Spukhaus mit finsterer Vergangenheit wäre. Kaspar Eichel als Parkes und Dorothea Walda sprechen deshalb ganz aufrichtig.

Den Mr Abney hätte ich mir hingegen ein wenig zwielichtiger gewünscht. Uli Krohm spricht ihn als recht freundlichen Mann, der kein Wässerchen trüben kann – selbst wenn sein Interesse an Stephens nächtlichen Erlebnissen doch recht auffällig ist. Diese positive Zeichnung des Hausherrn hat zur Folge, dass die nächtlichen Schrecken, denen Stephen ausgesetzt ist, umso stärker und rätselhafter wirken. Fiele der Verdacht sofort auf Mr Abney, wüssten wir sofort, dass die Warnungen der Geisterkinder nur zu berechtigt sind und würden uns um Stephen große Sorgen machen – und uns wundern, worauf der Bösewicht im Haus eigentlich noch wartet.

Geräusche

Die Geräusche sind in etwa die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. So ist etwa die Kutschfahrt, die das Hörspiel einläutet ein Musterbeispiel für Realismus: Da rumpelt und rattert es die ganze Zeit, die Pferde wiehern, sobald die Peitsche knallt, und der Kutscher ruft dazu.

Nach einem derart realistischen Auftakt erscheint auch das Innere von Aswarby Hall gleich viel wirklicher, obwohl schon bald das Gegenteil der Fall ist. Die Vögel sind ein deutlicher Indikator, wie die Seelenreise verläuft, auf der sich Stephen nun befindet. Zur Begrüßung krächzt eine Krähe, ein Bote des Unheils. Während tagsüber die Lerchen, Finken und Meisen ihre Liedchen trällern, ruft nachts das Käuzchen – schuhuh! – zur frühen Ruh. So wechseln sich helle Tage mit düsteren Nächten, um die beiden Seiten von Aswarby Hall und seines zwielichtigen Herrn widerzuspiegeln.

Nach einem unheimlichen Ausflug in den Weinkeller voll Tröpfeln und Hall kommt schließlich die Nacht des 24. März. Mit maximalem Realismus – die Türen quietschen und die Dielenbretter knarren – folgen wir Stephen auf seinem schicksalhaften Weg hinunter in die Bibliothek, wo ein furchtbares Schicksal auf ihn wartet. Dass die Bäume draußen rauschen und die Musik höchst düstere Akkorde anschlägt, lässt uns das Schlimmste befürchten.

Musik

Das Intro wird von einem Chor bestritten, der ein Kirchenlied singt. Daran merkt der Zuhörer schon, dass es in der folgenden Geschichte um höphere Prinzipien wie Schuld, Sühne, Fluch und Erlösung geht. Denn die titelgebenden Herzen sind hier zwar wortwörtlich zu nehmen, doch jeder Leser weiß, dass sie auch im übertragenen Sinne auf dem Spiel stehen. Dass eine Kirchenorgel den Epilog einleitet, ist daher nur passend.

Zwischen dem Pro- und dem Epilog erklingt im Wechsel eine Kombination aus düsteren Klängen aus dem Computer oder seitens eines Orchesters. Vielfach sind Trommeln zu vernehmen, die den Puls des Zuhörers beschleunigen, ganz so, als handle es sich um einen Puls- oder Herzschlag. Auch dies passt wieder zum Leitmotiv der Herzen.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher.

Unterm Strich

M. R. James war ein Meister der Geistergeschichte und hat seinerzeit dieser Form in England zu neuem Ansehen und Geltung verholfen, indem er zahlreiche Geschichtensammlungen – auch aus der Antike – veröffentlichte und selbst Geschichten verfasste. Er hatte nämlich herausgefunden, dass ein Geist etwas ganz Besonderes ist: eine uneingelöste Schuld aus der Vergangenheit, die ausgeglichen werden muss, indem der Verursacher dieser Schuld dafür sühnt.

Dieser Zusammenhang wird auch als „Fluch“ bezeichnet. Das Schuld-und-Sühne-Prinzip kann vielfältige Formen annehmen, wie die Hörer des Gruselkabinetts schon in „Zimmer 13“ und in „Der Eschenbaum“ gelernt haben. Ich hoffe, wir werden noch viele weitere der herausragenden Erzählungen M.R. James vertont hören.

Das Thema dieses Hörspiels ist Kindesmissbrauch. Man würde es wohl nicht meinen, bis man ganz am Schluss erfährt, worum es Mr Abney bei seinem heidnischen Ritual wirklich ging: um Macht. Aber das Herausschneiden eines Herzens ist lediglich eine verschlüsselte äußere Form für den inneren, psychischen Missbrauch. Diesen Missbrauch erlebt der junge Stephen in seinen Albträumen. Zum Glück stößt er dort auch auf warnende Helfer, nämlich seine Vorgänger. Ob die wohl etwas mit Mr Abneys gewaltsamen Ableben zu tun haben, kann man nur erahnen. Oder war’s doch die Wildkatze?

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Synchronstimmen von Schauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Sprecher vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Audio-CD: 48 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Lost Hearts, 1904
ISBN-13: 9783785751183

www.titania-medien.de

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