Recht mutig und reißerisch verkündet der Buchrücken von John MacLachlan Grays Debütroman ein Werk, das packend ist wie Caleb Carr und atmosphärisch wie Süskinds „Parfüm“ und hängt die Messlatte für den „menschlichen Dämon“ damit verdammt hoch. So zählt „Das Parfüm“ von Patrick Süskind für mich doch zu den spannendsten und erfreulichsten Schullektüren überhaupt, die den Leser in eine völlig fremde, geheimnisvolle und gefährliche Epoche versetzt. Zu Beginn kämpften bei mir daher die hohe Erwartung angesichts eines atmosphärisch überzeugenden Buches und eine gesunde Skepsis gegeneinander – wollen wir uns ansehen, welche Seite am Ende gewonnen hat …
John MacLachlan Gray versetzt seine Leser in das London des Jahres 1852, in welchem ein Frauenmörder umgeht, der seine Opfer zunächst mit einem teuren Schal erdrosselt und anschließend ihr Gesicht entstellt. Schon früh ist ein Verdächtiger gefunden, der sogleich ins berüchtigte Gefängnis Newgate gesteckt wird, um dort auf seine Hinrichtung zu warten. Der Korrespondent des „Falcon“ Edmund Whitty ist als Berichterstatter immer zugegen, wenn jemand hingerichtet wird und erzählt schließlich aus erster Hand von seinen Erlebnissen. Doch plagen ihn insgeheim große Sorgen, denn sein Alkohol- und Drogenkonsum haben erschreckende Ausmaße angenommen, sodass Whitty sich nur schwer seiner Gläubiger entziehen kann, die ihm an Geld und Wäsche wollen. Oftmals muss er darüber hinaus morgens feststellen, dass er sich nicht mehr an die Ereignisse des vergangenen Abends und der letzten Nacht erinnern kann.
In einem Zeitungsartikel greift Whitty offen und schonungslos den Schriftsteller Henry Owler an, der daraufhin beschließt, seinem Widersacher einen gehörigen Schrecken einzujagen, indem er ihn ins gefährliche Holy Land entführt, in welchem sich düstere Gestalten herumtreiben; außerdem will er Whitty beweisen, dass er mit seinen Vermutungen Recht behält. Gemeinsam suchen die beiden Männer das Newgate-Gefängnis auf, um dort William Ryan zu treffen, der als beschuldigter Frauenmörder im Gefängnis sitzt, jedoch seine Unschuld beteuert. Recht bald kommt Edmund Whitty zu dem Schluss, dass Ryan wohl doch richtig liegt und sich der wahre Mörder noch frei in London bewegt und weiterhin morden kann. Kurz nachdem Ryan schwer verletzt aus dem Gefängnis fliehen kann, wird eine weitere Frauenleiche gefunden, die aber zu einer Zeit ermordet wurde, als Ryan noch in Gefangenschaft war. Die Suche nach dem wahren Mörder geht also weiter.
Nebenbei begleitet der Leser einige weitere Figuren auf dem Weg durch ein düsteres London, wir erfahren etwas über die Liebesverstrickungen zweier Männer und lernen mehr über Whitty und Owler. Als Owlers schöne und lebenslustige Ziehtochter Dorcas ermordet wird, beschließt seine Tochter Phoebe, den Mörder zu suchen und ihm eine Falle zu stellen. Doch wird sie dem menschlichen Dämon entkommen können?
Schon von der ersten Seite an taucht der Leser in eine fremdartige und bedrohliche Welt ein; John MacLachlan Gray wählt hierbei den Zeitungsartikel über eine Hinrichtung als Einstieg in sein düsteres Buch. Auch der Hauptfigur Edmund Whitty, die im Zentrum des Buches steht, begegnet der Leser im ersten Kapitel. Die Eröffnung macht daher sofort klar, worum es geht, worauf der Leser sich einzustellen hat und dass man nicht allzu furchtsam sein sollte für die Lektüre dieses Buches. Lange dauert es allerdings, bis man erkennt, worauf die Erzählung abzielt. Gray eröffnet viele verschiedene Handlungsstränge und stellt immer mehr Figuren vor, von denen man anfangs nicht weiß, ob sie eine Rolle spielen werden und wenn ja, welche. Abwechselnd baut der Autor seine Handlungsebenen weiter aus und lässt einige Personen von einem Handlungsstrang in einen anderen wechseln, sodass manche Figuren als Bindeglied fungieren. Das Buch beginnt komplex, etwas schwerfällig und ohne einen rechten roten Faden. Erst ein Blick auf den Klappentext auf der Innenseite des Buchdeckels hilft hier etwas weiter und erklärt dem Leser, worauf dies alles hinauslaufen soll. Gerade zu Beginn lässt sich Gray viel Zeit, um seine Geschichte zu entwickeln und die handelnden Charaktere vorzustellen; hier hätte ich mir etwas mehr Tempo gewünscht und eine zielgerichtetere Erzählweise, die den Leser nicht so lange im Dunkeln hätte tappen lassen.
Bei der Betrachtung der Sprache und verwendeten Stilmittel ist zunächst der Einsatz von Zeitungsartikeln in dem ansonsten aus einer neutralen Beobachterperspektive geschriebenen Buch auffällig. Die Zeitungsberichte entstammen entweder der Feder Edmund Whittys oder der eines seiner Kollegen beziehungsweise Konkurrenten und sind durchweg in der Ich-Form geschrieben. Die Artikel sprechen dabei ihre Leser direkt an und berichten in offener Weise von den Erlebnissen des Korrespondenten und seinen Gefühlen und Meinungen. Recht deutlich wird hierbei Grays Versuch, seinen Roman in einer Sprache zu verfassen, die dem 19. Jahrhundert entstammen könnte. Die meisten Sätze sind lang, kompliziert und verschachtelt, Gray offenbart eine Liebe zum Komma und zum Nebensatz, wie man sie selten zu lesen bekommt. Sein Buch ist daher nicht wirklich leicht und flüssig zu lesen, sondern erfordert ein hohes Maß an Konzentration. Ursprünglich wollte ich den menschlichen Dämon auf einer Zugfahrt weiterlesen, habe mir dann allerdings doch bald überlegt, leichtere Kost einzupacken. Auch Metaphern und Adjektive werden in geradezu verschwenderischer Weise benutzt, sodass Grays Sätze regelrecht aufgebläht werden. An manchen Stellen spielt der Autor den Poeten und beschreibt den Nebel und seine Konsistenz in dermaßen übertriebenen Bildern, dass seine Worte leider schon schwafelig anmuten. Dem Leser wird es dabei unnötig erschwert, die wichtigen Informationen und die eigentliche Geschichte in diesem Wust an Sprache wiederzuentdecken.
Die Erzählung schleppt sich daher an vielen Stellen ziemlich dahin und als Leser wartet man auf entscheidende Ereignisse, die die Geschichte vorantreiben, doch wartet man oftmals vergebens. Gray beschreibt viele Begebenheiten und Situationen bis ins kleinste Detail und baut dabei wahrlich eine fantastische und glaubwürdige Atmosphäre auf, die es dem Leser kalt den Rücken herunterlaufen lässt, dennoch hält er sich mit derlei Beschreibungen oft zu lange auf. Unglücklicherweise hat John MacLachlan Gray nicht ganz die richtige Mischung aus veralteter Sprache, dichter Atmosphäre und einem packenden Spannungsaufbau gefunden, denn während die Sprache authentisch wirkt und ich keine historischen Patzer bemerken konnte und während Gray in der Tat eine Grundstimmung aufbaut, die an Schrecken dem „Parfüm“ nahe kommt, so leidet sein Spannungsaufbau nicht wenig. Nur selten wird es spannend und bis kurz vor Schluss gibt es keinen Punkt, an dem man das Buch nicht mehr aus der Hand legen könnte. Der eigentliche Kriminalfall wird fast schon lieblos weitergeführt, die Suche nach dem menschlichen Dämon geschieht irgendwie nur ganz am Rande. Außerdem wird es dem Leser arg schwer gemacht, Verdachtsmomente gegen den wahren Täter zu sammeln, weil derlei Informationen ebenfalls in den überladenen Sätzen untergehen. Selbst als der wahre Dämon präsentiert wird, konnte ich nicht feststellen, ob Gray in seinem Buch Hinweise auf den echten Täter versteckt hatte oder ob dieser vom Himmel fällt. Auch war ich noch etwas skeptisch, weil ich nicht recht wahrhaben wollte, dass dies nun schon das Ende gewesen sein sollte. In diesem Punkt enttäuscht der Autor schließlich doch nicht, denn am Ende denkt er sich eine Auflösung für sein Buch aus, die es in sich hat. Hier werden menschliche Abgründe deutlich, sodass der Vergleich mit Patrick Süskinds berühmtem Werk durchaus gerechtfertigt erscheint. Ohne mit Caleb Carr näher vertraut zu sein, möchte ich jedoch behaupten, dass „Der menschliche Dämon“ diesem zweiten Vergleich nicht standhalten kann, denn das Buch ist einfach nicht packend, es entführt seine Leser in eine unheimliche Welt und präsentiert diese wirklich überzeugend und bildgewaltig, doch fehlt oft die Spannung, die das Buch zu einem „Pageturner“ hätte machen können. Gray verspielt hier leider viel Potenzial, aus der Grundidee hätte man so viel mehr machen können, wenn man an einigen Stellen die Sätze und Rahmengeschichte vielleicht ein wenig abgespeckt und vereinfacht hätte; so wird man als Leser ein wenig von Grays ausufernden Beschreibungen überrollt.
Die Charakterzeichnungen haben mir dagegen sehr gut gefallen, besonders Edmund Whitty wurde dem Leser hier nahe gebracht. Schon in seiner allerersten Szene erwacht er nach einer durchzechten Nacht mit großen Gedächtnislücken und fragt sich verwirrt, ob er denn überhaupt seinen Artikel geschrieben und eingereicht hat oder ob er womöglich schon arbeitslos ist. Nur langsam kann er die zurückliegende Nacht rekonstruieren und kommt zu dem Schluss, dass er wohl doch noch in Lohn und Brot steht. Im weiteren Verlauf des Romans kommen immer weitere Steinchen hinzu, aus denen man sich ein gutes Mosaik des etwas konfusen Korrespondenten erschaffen kann. Bei all seinen Verfehlungen bleibt Edmund Whitty doch immer ein Sympathieträger, der gerade durch seine Vorliebe für ausschweifende Abendgestaltung sympathisch wirkt. Die Figur ist zwar etwas überzeichnet und nicht unbedingt glaubwürdig, doch fügt sie sich insgesamt perfekt in das entstehende Bild von London ein. Auch Owler und seine beiden Töchter und selbst der angeklagte Ryan bekommen den ihnen zustehenden Raum im Buch und werden entsprechend vorgestellt.
Insgesamt bleibt angesichts des gelungenen Endes ein positiver Gesamteindruck zurück, auch wenn das Buch nicht alle Erwartungen erfüllen konnte. John MacLachlan Gray zeichnet ein überaus eindrucksvolles und überzeugendes Bild von London und lässt eine Atmosphäre entstehen, die einem Schauer über den Rücken laufen lässt. Auch die Charaktere wirken sympathisch und gewinnen an Farbe, doch bleibt die Spannung oft auf der Strecke. Zu häufig verliert Gray sich in verschachtelten Sätzen, die der Leser nur schwer zu entwirren weiß. Die Sprache wirkt dadurch zwar authentisch und dem Zeitpunkt der Handlung angepasst, ist aber dermaßen überfrachtet, dass wichtige Informationen leicht untergehen und man einen recht langen Atem beim Lesen braucht. Das trübt den Gesamteindruck des Buches leider ein wenig, da man aus der Idee ein noch viel packenderes Buch hätte machen können. Wer sich aber von derlei komplizierten Satzkonstruktionen nicht abschrecken lässt, ist mit diesem Roman sicherlich gut bedient.