Manfred Kluge (Hrsg.) – Altar Ego (Magazine of Fantasy and Science Fiction Folge 52

Classic SF & Fantasy: Vom grünen Mann bis zur lustigen Nymphe

Dies ist einer der Auswählbände mit Erzählungen aus dem traditionsreichsten und mehrfach mit Preisen ausgezeichneten „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Die Auswahlbände erschienen rund vier Jahrzehnte in der Reihe „Heyne Science Fiction & Fantasy“. Die 52. Folge des „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ enthält folgende Erzählungen aus den Jahren 1977/78:

1) Die Story von dem jungen Geistlichen, der unter Qualen zurückfand zum Ursprung allen Lebens.

2) Die Story von dem Amateurfotografen, der im Park eine Nymphe fotografieren wollte und sein blaues Wunder erlebte.

3) Die Story von den Besuchern aus einer fernen Galaxis, die einen enormen Mannschaftsgeist entwickelten.

4) Die Story von den Menschen, die sich von Zeit zu Zeit einfrieren und wieder auftauen ließen, sich aber nie mehr ganz fürs Leben erwärmen konnten.

5) Die Story von dem rettenden Engel, der eine frappierende Lösung für das Überbevölkerungsproblem auf der Erde zur Hand hatte.

6) Die Story von der fabelhaften Wunderschreibmaschine, wie sie von den meisten Autoren heute schon verwendet wird.

Das Magazin

Das Magazine of Fantasy and Science Fiction besteht seit Herbst 1949, also rund 64 Jahre. Zu seinen Herausgebern gehörten so bekannte Autoren wie Anthony Boucher (1949-58) oder Kristin Kathryn Rusch (ab Juli 1991). Es wurde mehrfach mit den wichtigsten Genrepreisen wie dem HUGO ausgezeichnet. Im Gegensatz zu „Asimov’s Science Fiction“ und „Analog“ legt es in den ausgewählten Kurzgeschichten Wert auf Stil und Idee gleichermaßen, bringt keine Illustrationen und hat auch Mainstream-Autoren wie C.S. Lewis, Kingsley Amis und Gerald Heard angezogen. Statt auf Raumschiffe und Roboter wie die anderen zu setzen, kommen in der Regel nur „normale“ Menschen auf der Erde vor, häufig in humorvoller Darstellung. Das sind aber nur sehr allgemeine Standards, die häufig durchbrochen wurden.

Hier wurden verdichtete Versionen von später berühmten Romanen erstmals veröffentlicht: „Walter M. Millers „Ein Lobgesang auf Leibowitz“ (1955-57), „Starship Troopers von Heinlein (1959), „Der große Süden“ (1952) von Ward Moore und „Rogue Moon / Unternehmen Luna“ von Algus Budrys (1960). Zahlreiche lose verbundene Serien wie etwa Poul Andersons „Zeitpatrouille“ erschienen hier, und die Zahl der hier veröffentlichten, später hoch dekorierten Stories ist Legion. Auch Andreas Eschbachs Debütstory „Die Haarteppichknüpfer“ wurde hier abgedruckt (im Januar 2000), unter dem Titel „The Carpetmaker’s Son“.

Zwischen November 1958 und Februar 1992 erschienen 399 Ausgaben, in denen jeweils Isaac Asimov einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichte. Er wurde von Gregory Benford abglöst. Zwischen 1975 und 1992 war der führende Buchrezensent Algis Budrys, doch auch andere bekannte Namen wie Alfred Bester oder Damon Knight trugen ihren Kritiken bei. Baird Searles rezensierte Filme. Eine lang laufende Serie von Schnurrpfeifereien, sogenannte „shaggy dog stories“, genannt „Feghoots“, wurde 1958 bis 1964 von Reginald Bretnor geliefert, der als Grendel Briarton schrieb.

Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Oktoberausgabe einem speziellen Star gewidmet: Eine neue Story dieses Autors wird von Artikeln über ihn und einer Checkliste seiner Werke begleitet – eine besondere Ehre also. Diese widerfuhr Autoren wie Asimov, Sturgeon, Bradbury, Anderson, Blish, Pohl, Leiber, Silverberg, Ellison und vielen weiteren. Aus dieser Reihe entstand 1974 eine Best-of-Anthologie zum 25-jährigen Jubiläum, aber die Best-of-Reihe bestand bereits seit 1952. Die Jubiläumsausgabe zum Dreißigsten erschien 1981 auch bei Heyne.

In Großbritannien erschien die Lokalausgabe von 1953-54 und 1959-64, in Australien gab es eine Auswahl von 1954 bis 1958. Die deutsche Ausgabe von Auswahlbänden erschien ab 1963, herausgegeben von Charlotte Winheller (Heyne SF Nr. 214), in ununterbrochener Reihenfolge bis zum Jahr 2000, als sich bei Heyne alles änderte und alle Story-Anthologie-Reihen eingestellt wurden.

Die Erzählungen

1) Phyllis und Alex Eisenstein: Altar Ego (dito)

Stephen Kirkwood ist ein Findelkind und wird von Pater Jerome von der katholischen Kirche aufgezogen. Er ist klug und gehorsam, somit für höhere und höchste Aufgaben geeignet. Doch nach einem Praktikum in der realen Welt dort draußen suchen Stephan seltsam wilde Träume heim, in denen er durch eine Wildnis streift, in der es keine Menschen gibt: Er selbst bewohnt den Körper eines Rothirsches. Als er Witterung aufnimmt und einem anderen Hirsch hinterherjagt, erkennt er, dass es sich um ein Weibchen handelt. Es trägt das Gesicht der schönen Caroline, einer Besucherin von Stephans Predigten. Kurz bevor es zur Paarung kommen kann, erwacht der Träumer. Spät beichtet ihm Caroline, dass auch sie diese Szene geträumt habe.

Sehr beunruhigt und sich selbst nicht trauend beichtet er Pater Jerome seine lüsternen Träume. Der kennt die hormonbedingten Plagen seiner Schützlinge mit dem Zölibat bereits zur Genüge. Über kurz oder lang muss Stephen zum Psychotherapeuten. Dr. Loomis rät Stephen, es doch zur Abwechslung mal mit der Realität zu versuchen. In einer Bar nach der anderen betrinkt sich Stephen, verkleidet als Zivilist, bis er eine Einladung von einer Frau erhält, die offenbar ledig ist. Leider ist sie schon etwas älter, wie ihm in einem lichten Moment auffällt.

Er lässt sie stehen und will nach Hause, doch bevor er dort ankommt, geht er nochmal in „seine“ Kirche. Zwölf Frauen haben auf offenbar auf sein Erscheinen erwartet. Unter ihnen ist Caroline, die Erscheinung seiner erotischen Träume. Nun wird ihm alles klar: Er muss seine eigene Kirche gründen, so wie sie ihm von seinen Träumen diktiert: die Kirche des großen Hirsches, von Cernunnos…

Mein Eindruck

Der Zölibat ist bis heute eines der größten Hindernisse in der psychologischen Entwicklung einer katholischen Priesters. Manche, nicht gerade wenige, werden homosexuell, wie kürzlich publik wurde. Und auch damit hat der Papst ein Problem: Schwulitäten widersprechen seiner Doktrin.

Die Erzählung zeigt eine Alternative auf, die sich wohl nur Protestanten ausdenken können: die Rückkehr zum urtümlichen Kult des Cernunnos, des männlichen Fruchtbarkeitgottes, der das Gegenstück zur weiblichen Fruchtbarkeitsgöttin (Kybele, Astarte, Diana usw.) darstellt. Und warum auch nicht? Gemäß der Maxime „Follow your dreams!“ bringt die Hauptfigur den Mut auf, den Zölibat zurückzuweisen, Carolines Wünschen entgegenzukommen – auch sie hat ja die gleichen wilden Träume – und sich allen seinen Anhängerinnen zur Verfügung zu stellen. Cernunnos ist lediglich ein Name: der eines keltischen Waldgottes, der einen Hirschkopf mit prächtigem Geweih trägt.

2) Keith Roberts: Ariadne Potts (dito)

Henry Potts ist Bankangestellter, aber im Privatleben leidenschaftlicher Amateurfotograf. Gerade ist er im wildromantischen Teil des Stourhead Parks auf der Pirsch nach einem Motiv, als ihm die Statue einer liegenden Nymphe ins Auge fällt. So eine wohlgeformte Lady hätte er auch gerne zu Hause im Bett. Er schießt sie von allen möglichen Seiten ab, als er eine Stimme vernimmt: „Dass keiner von denen an ein Honorar denkt!“ Es ist die Nymphe selbst, die da spricht: Sein Wunsch habe sie zum Leben weckt, sagt sie. Und deshalb will sie mit ihm kommen, um sein Leben – und sein Bett – mit ihm zu teilen. Ihn erfasst ein heftiger Schwindel. Sprechende Statuen?! Sie stützt und führt ihn. Er soll sie Ariadne nennen, sagt sie neckisch.

Sie schaffen es zusammen zu seinem Sportwagen – der Schlingel! -, ohne von den Parkbesucher wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgehalten zu werden. Und ohne dass er dabei ohnmächtig wird. Nach einer turbulenten Nacht steht am nächsten Morgen in der Zeitung, ein Kunstwerk werde vermisst und man wolle ein bestimmtes Besucherpaar dringend befragen. Ariadne verlangt ein stattliches Taschengeld und kauft Klamotten sowie Proviant.

Dabei bleibt es jedoch: Sie hat nur das Beste für Henry im Sinn und besorgt ihm von seinem Erbe ein stattliches Anwesen. Als Bankmanager beginnt sich Henry Sorgen wegen seiner Schulden zu machen, dabei beträgt doch die Inflationsrate happige 21 Prozent. Ariadne macht ihm klar, dass Schulden auch Geld seien und viel besser angelegt als Kapital. Dann beginnt sie, seine Fotografenkarriere zu fördern: Er ist ein Aficionado von Nymphen. Das hatte sie sich schon gedacht. Mit Fotobüchern und Abdrucken in Magazinen verdient er ein Vermögen.

Dennoch ist Henry nicht zufrieden und beginnt zu trinken. Im Suff wirft er ihr vor, ihn zu unterdrücken. So ein Blödsinn. Dabei sehnt er sich nur danach, selbst wieder von seinem Boss bei der Bank unterdrückt zu werden. Als er sich wünscht, sie wäre nie lebendig geworden, eilt Ariadne dorthin, wo er sie gefunden und erweckt hat…

Mein Eindruck

In dieser kleinen Fabel vom Reichwerden eines kleinen Mannes enthüllt der Autor, wie masochistisch doch manche Männer angelegt sind: Ihnen ist stets gehorsam eingetrichtert worden und als sie nicht mehr gehorchen dürfen, werden sie unzufrieden und renitent. Selbst seine gute Fee Ariadne ist Henry eines Tages nicht mehr gut genug: Er glaubt, keine Kontrolle mehr über sein Leben zu haben.

Dabei sehnt er sich nur danach, selbst kontrolliert zu werden und folglich die Bürde der Verantwortung fürs ein Leben loszuwerden. Am liebsten würde er wieder das verkappte Doppelleben eines Duckmäusers führen, der, angetan mit bunten Pullover, als Beobachter voyeuristische Touren unternimmt. Dass er ausgerechnet auf Nymphen in allen Formen, Farben und Posen steht, weist kodiert darauf hin, dass er ein verkappter Pädophiler von Kindfrauen ist.

Diese Kindfrauen wurde in Softpornos von David Hamilton und Konsorten mit Weichzeichner idealisiert. „Bilitis“ aus dem Jahr 1976 ist das erste solcher Machwerke. Als aus Ariadne eine Ehefrau und Managerin wird, fühlt sich Henrys jungenhaftes Unterbewusstsein nicht mehr wohl und er stößt sie von sich. Die Erzählung bildet im Gewand einer Fabel, die die Sage von Pygmalion und Galathea auf den Kopf stellt, eine heftige psychologische Kritik jener unreifen Nymphen-Libido.

3) George Alec Effinger: Manndeckung (From Downtown at the Buzzer)

Die Aliens sind gelandet, doch bis zu jenem Moment, als sie im Schlafzimmer des US-präsidenten stehen, hat sie keiner bemerkt. Der Präsident und vor allem die First Lady sind nicht amüsiert. Vielmehr will der POTUS wissen, was seine Berater und die Wissenschaft dazu zu sagen haben. Da keiner außerdem Außenminister eine Idee hat, wendet sich dieser direkt an den potthässlichen Alien. Dieser antwortet nur mit „Ja“ und „Nein“, aber immerhin auf Englisch. Der Sprecher ist der einzige der zwölfköpfigen Schar, der Fragen beantwortet. Das hätte den Eierköpfen zu denken geben sollen, aber wieder mal kam keiner drauf. Der Außenminister schlägt vor, die Aliens an einem abgelegenen Ort zu studieren.

Keine so brillante Idee findet dies der Chronist, ein Captain, der uns berichtet, was die Aliens dann in seinem ultrageheimen Militärlager im tiefsten, heißesten Louisiana taten. Er hat das zweifelhafte Vergnügen, die hässlichen Kröten im Lager herumzuführen und ihnen Fragen zu stellen, die der eine Sprecher stets einsilbig beantwortet. Nur beim Basketball werden die Cobae, wie sie sich nennen, richtig munter. Nicht nur: Durch Nachahmung und telepathische Verbindung entwickeln sämtliche zwölf Mitspieler der Alien-Seite eine unheimliche Überlegenheit.

Nun ist es ja nicht so, dass man im Lager Hinterwäldler-Basketball spielt, nein, Sir, man spielt nach knallharten Regeln, wie man sie nur in den Hinterhöfen der amerikanischen Schwarzen-Ghettos erlernt. Dementsprechend übel sind die schwarzen Spieler in der Basketball-Mannschaft angepisst, als sie ein ums andere Mal den intergalaktischen Klotzköpfen unterliegen. Als die Eierköpfe diese Überlegenheit erklären, erweist es sich, dass die Cobae weitaus mehr verstanden haben als nur „Ja“ und „Nein“…

Mein Eindruck

Schon früh macht der Berichterstatter in knappen Worten klar, dass er Basketball für eine Ghetto-Sportart hält. Dafür braucht man nämlich kein Spielfeld und keine riesige Logistik, wie etwa im Baseball oder American Football. Man muss einfach nur ein guter, möglichst baumlanger Werfer und Läufer sein können. Deshalb wird Basketball vorwiegend von Schwarzen gespielt, die aus den Ghettos der Metropolen kommen. Dieser Unterschied ist wichtig, um zu erklären, warum die Cobae so gut in dieser Sportart sind. Sie sind die Außenseiter, die zu einem Gastspiel kommen.

Ihren einzigartigen Vorteil verschweigen und verbergen sie natürlich, also die telepathische Verbindung. Ein übergeordneter Verstand überträgt jeden gesehenen oder gelernten Kniff auf die gesamte Mannschaft, so dass das Knowhow-Level rasant ansteigt. Dass dieses Schwarmbewusstsein nicht nur Beobachtungen und Kniffe überträgt, sondern auch die Sprache, die auf dem basketball-Feld gesprochen – nämlich im Ghetto-Slang der Schwarzen – erweist sich als exzellente Pointe.

Die Frage ist natürlich, warum die Eierköpfe von der Wissenschaft zu blöd sind, dieses Geheimnis aufzudecken. Ganz einfach, lässt der Chronist durchblicken: Die amerikanischen Wissenschaftler, Politiker und Militärs – quasi die Mannschaft mit dem Heimvorteil – halten sich alle für schlauer als die Aliens, die sich nur einsilbig ausdrücken. Wären die Aliens Russen oder Chinesen, wären die Amis schnell ausgetrickst. Die rassistisch-chauvinistische Grundeinstellung der Amis spielt ebenfalls eine Rolle: Weil wir ja eh dir Größten und Klügsten sind, kann uns keiner überlisten. Falsch gedacht.

4) Robert Thurston: Das Marsschiff (The Marsship)

Alan hat sich mal wieder aus dem Kälteschlaf holen lassen, vor allem weil der Betreiber moniert, dass er den Service über Gebühr nutze. In seinem ersten leben war er ein Schriftsteller, der u.a. Romane wie „Alicia II“ veröffentlichte (genau wie der Autor). Kaum erwacht, erhält Alan eine Einladung einer Party. Lise und Bill würden sich freuen, ihn wiederzusehen. Erst ist Alan wenig geneigt, die Einladung anzunehmen, aber als Lise seine frühere Flamme Carolyn erwähnt, beißt er an. Lise ist die Erste, die das bis dato unsichtbare Marsschiff erwähnt. Viele weitere sollen folgen. Alan aber sieht es sehr spät.

Carolyn ist mit Scott da, ihrem jetzigen Mann. Er ist Kaufmann und ebenfalls „aufgetaut“. Alan beschließt, Carolyn ihrem Ehemann zu entführen, muss aber erst den SF-Fan Edwin loswerden. Sein Erfolg ist begrenzt, und so kommt es, dass er zwar Carolyn in den Fahrstuhl bugsieren kann, aber Edwin in letzter Sekunde mit in die Kabine schlüpft. Drunten auf der Straße spielt er quasi den Vergil für Alans Dante und zeigt ihm die moderne Stadt. Durch eine nTrick gelingt es Alan, Edwin loszuwerden.

Nun sind er und Carolyn endlich miteinander allein. Im zentralpark sitzt nur noch ein Schauspieler auf einer Parkbank und lauscht ihrem Dialog, als wäre es eine Theateraufführung. Dieser Aspekt entgeht Alan keineswegs und er traktiert die arme Carolyn mit Shakespeare-Zitaten. Es gelingt ihm, ihr einen Kuss zu rauben, doch dass sie mit ihm gehen soll, findet sie übertrieben. Er sei ein „Störenfried“, ein Kritiker, kurzum eine Art Hofnarr. Da kehrt Edwin zurück. Er zeigt ihnen das Marsschiff.

Es hängt da gespenstisch und golden direkt über den Hochhäusern der Stadt, und helikopter bringen Besucher zu einer seiner Plattformen, damit sie auf die Stadt heruntergucken können. Es handle sich um eine höchst geschmacklose Ultraleicht-Nachbildung des echten, zwischen den Sternen gescheiterten Marsschiffs, kommentiert Edwin, aber es sei wenigstens eine hübsche Touristenattraktion. Er wollte ihnen zwei Tickets kaufen, aber das Schiff sei bereits ausgebucht. Alan ist ganz anderer Meinung: Er findet es hinreißend schön. Nun ist er erst recht entschlossen, Carolyn für sich zu gewinnen. Dafür muss er zurück zur Party…

Mein Eindruck

Die Novelle ist fast schon ein kurzer Roman, denn der Autor hat hier genügend Platz, um seine Figuren zu zeichnen, sie zueinander in Beziehung zu sehen und aufgrund dieser Basis so etwas wie eine Handlung zu entwickeln. Dass Alan, der Ich-Erzähler, Shakespeare zitiert, zeigt ein wichtiges Merkmal dieser Partygesellschaft an: Die zeitgenössischen Besucher und die „Aufgetauten“ leben auf verschiedenen Zeitebenen bzw. Kulturstufen. Das Problem aller ist also die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, um einen bekannten Philosophen zu zitieren (Adorno?).

Alan muss sich neue Erfindungen wie das „Infofax“, welches ausgewählte Zeitungsartikel per Drucker ausspuckt, erst erklären lassen, bevor er seinen Nutzen erkennt: Er sucht nach einer Rezension seiner Werke und wird sofort fündig: Es ist eine harsche Kritik aus der Sicht eine Positivisten, die schwer nach kommunistischer Fortschrittsgläubigkeit klingt. Alans Werk sei viel zu negativ. Aber auch Carolyn findet, dass er ein Störenfried und Kritiker sei, der allem die innewohnende Bedeutung nehme. Sogar der Liebe? Das muss er erst noch herausfinden. Dass er ein Künstler und Intellektueller ist, ja, dazu steht er eisern (aber höflich).

Nur der Anblick des „Marsschiffes“, das ja selbst eine Art Kunst-Werk darstellt, kann seine Emotionen wecken: Ein Künstler wie er weiß ein Kunstwerk zu würdigen. Weil die anderen das ebenfalls können, besonders Carolyn, findet er eine emotionale Basis für eine gemeinsame Zukunft mit seiner alten Flamme. Sie hat zudem den Vorteil, aus der gleichen zeit wie er selbst zu stammen. Edwin, der offensichtlich ein konservativer Heinlein-Fan ist, gibt den Griechischen Chor und gibt seinen Senf ungefragt zu allem und jedem.

Ich musste mich durch den Text kämpfen, aber das lag nur an meiner altersbedingt begrenzten Speicherkapazität. Wer es wagt, den Text zweimal zu lesen, wird viele Stellen der Ironie und Kontrastierung finden. Scott, Carolyns derzeitiger Gatte, ist das genaue Gegenteil von Alan: ein Kaufmann und Macher. Und Bill, Lises Gatte und Party-Gastgeber, ist ein drittklassiger Schauspieler im Werbefernsehen: die einzigen Rollen, die er noch ergattern kann. Alan bedenkt ihn mit ätzenden Kommentaren.

5) James Tiptree Jr. (Alice Sheldon): Geteiltes Leid (Time-Sharing Angel, 1977)

Die 19-jährige Jolyone Schram liebt die Natur und arbeitet in Los Angeles beim Rundfunksender. Dieser Sender ist neu, liegt auf einem hohen Berg und verfügt über die stärkste Sendeleistung der Stadt. Wahrscheinlich deshalb kann es an diesem Tag zu dem ungewöhnlichen Ereignis kommen.

Erst hat Jolyone, die in einer Zahnfüllung einer Sender empfängt, eine schreckliche Vision: Die Erdoberfläche wird unter Massen von Menschen begraben. Als ein SF-Autor im Sender die finstere Zukunft der Menschheit ausmalt, hält Jolyone gerade ein Stromkabel in der Hand. Erschüttert fleht sie zu Gott, er möge all dies aufhalten. Eine unbekannte Stimme antwortet ihr auf ihrem gefüllten Zahn, dass das in Ordnung gehe.

Schon bald machen sich die ersten Anzeichen des Wirkens des Engels bemerkbar. Von jeder Familie, und sei sie noch so groß und verbreitet, bleibt nur das jüngste Kind bei Bewusstsein, alle anderen fallen in Tiefschlaf. Weltweite Panik! Doch nach ein paar Tagen verbreitet sich die Kunde von einem wieder erwachten Kind irgendwo in West-Virginia. Ein Mathegenie berechnet die Arithmetik: Wenn Mrs. McEvoy 26 Kinder hat, dann jedes davon nur etwa 14 Tage im Jahr wach sein (weil zweimal 26 genau 52 Wochen = 1 Jahr ergibt). Wer zwei Kinder hat, der kann sich an sechs Monaten Wachsein der Kinder erfreuen und so weiter. Dieser Effekt hat eine verblüffende Folge: Da nur das Wachsein als Lebenszeit zählt, können die Schläfer bis zu 3000 Jahre alt werden!

Die Welt verändert sich beträchtlich, das Wachstum kommt zu einem knirschenden Halt, Wirtschaften brechen fast zusammen, doch die Ressourcen bleiben erhalten. Die Ich-Erzählerin trifft eines Tages Jolyone im Park, und diese erzählt ihr alles. Endlich darf sich Jolyone auf die Zukunft freuen.

Mein Eindruck

Die Autorin Alice Sheldon hat die Erde schon viele Male untergehen lassen. Hier gewährt sie ihr wenigstens eine Gnadenfrist, eine Art Nothalt. Die Geschichte mit den Schläfern erinnert an die Romane von Nancy Kress, in denen eine Schläfer-Generation dem alten homo sapiens Konkurrenz macht. Allerdings handelt es sich um Leute, die keinen Schlaf benötigen, also pro Tag acht Stunden mehr zur Verfügung haben. Auch daraus ergeben sich diverse Folgen.

6) Richard Frede: Brief an einen Lektor (Letter to the Editor)

Ein erfolgreicher Autor schreibt einen Brief an seinen Buchverleger und Story-Herausgeber, in dem er als Pointe ankündigt, sich umbringen zu wollen. Denn seitdem er sich – vom Erlös seines ersten Romans – eine elektrische Schreibmaschine angeschafft hat, habe diese sämtliche Manuskripte getippt. Eigenständig, ohne jedes Zutun. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: lukrative Lizenzen, Verfilmungen, Heirat / Scheidung, das Jet Set Life, das volle Programm. So weit, so gut.

Und doch nagt etwas an unserem wackeren „Autor“: Selbst ein erfolgreicher Textproduzent verspürt ab und zu mal ein kreativen Schub. Deshalb sei er dazu übergegangen, einen weiteren Roman höchst eigenhändig, ja, wahrhaftig: manuell zu verfassen. Immerhin schon 60 Seiten habe er geschafft. Doch das ist nicht genug. Seit das FBI und ein „Komitee für unamerikanische Aktivitäten“ sich bei ihm wegen mangelnder Kooperation gemeldet hätten, sei er nicht mehr nur überflüssig, sondern auch noch lästig geworden.

Es gibt nur eine Lösung des Dilemmas: SIE oder ER. Als er merkt, dass SIE, seine unsichtbare Muse, gerade tippt, was er in seine mechanische Schreibmaschine getippt hat, weiß er, dass er sich aus dem Staub machen sollte…

Mein Eindruck

Es sind nicht die Irren, die die Anstalt übernehmen werden, sondern die Produktionsmittel. Solche wie die neue elektrische Schreibmaschine. Was damals Ende der siebziger Jahre noch wie ein guter, wenn auch bitterer Witz klang, ist inzwischen Realität: Content wird von Algorithmen und KI-Modellen aus anderem Content zusammengestellt, beispielsweise Nachrichten oder Fachartikel. Alles nur geklaut? Sicher, aber wen juckt das schon? Es merkt ja eh keiner.

Die Übersetzungen

S. 65: Der „Staatssekretär“ ist in Wahrheit der Außenminister, der „Secretary of State“. Der ist selbstverständlich derjenige Minister, der für alle Arten von „Aliens“, also Fremde, zuständig ist.

S. 111: „Anwendungsber[e]ich“: Das E fehlt.

S. 117: ein unverkennbares Zitat von Shakespeare!

S. 131: „Man[n], das sind die Pyramiden…“ Ein N scheint mir hier zu fehlen.

S. 151: Ein verklausulierter Satz, den es zu entschlüsseln gilt, um seine Aussage zu begreifen: “ Ein Film, der den Verfall unter dem Efeu [die alteingesessenen Universitäten der USA, die Ivy League] und die Primanerin [College-Absolventin] unter (!) dem Präsidenten des Komitees für geistige (!) Gesundheit.“

Klartext: Um den Verfall der Sitten an den US-amerikanischen Colleges im Film darzustellen, braucht man nur den Fall jener Absolventin heranzuziehen, die es mit dem Komiteevorsitzenden trieb. Dieser war aber gar nicht für (ihre?) körperliche, sondern für geistige Gesundheit zuständig. Was wiederum den Sittenverfall belegt. Eine ganz schön schlüpfrige Passage, die in der Übersetzung völlig verzerrt wird – wie so häufig bei dem erzkonservativen Heyne-Verlag.

Unterm Strich

Ich habe diesen Auswahlband vor allem wegen zweier Beiträge gekauft, nämlich die Story von James Tiptree alias Alice Sheldon – und der Story des Engländers Keith Roberts, dessen hohe Qualität und ironischen Humor ich gerade zu entdecken beginnen. Eine antike Nymphe, nämlich Ariadne, mit einem modernen Bankangestellten, nämlich Mr. Potts, zu verkuppeln, zeitigt sehr schöne, ironische Szenen. Als sie ihn zu einem Star-Fotografen aufbaut, der sogar im „Playboy“ gedruckt wird, ist ihm auch nicht genug, denn er ist lieber weiterhin ein Duckmäuser, der den Lustbarkeiten seines Privatlebens nur im Verborgenen frönt. Die Fabel erinnert an eine Version des Märchens „Vom Fischer un siner Fru“, nur mit vertauschten Rollen.

„Das Marsschiff“ ist ein Kurzroman, der die Auswirkungen des Zeit-Hüpfens von eingefrorenen und wieder aufgetauten Leuten schildert, besonders wenn sie versuchen, die früheren liebevollen Gefühle füreinander zu reaktivieren. Das ist quasi Romeo und Julia unter den Bedingungen der Kryogenese. Das titelgebende Marsschiff, eine Touristenattraktion, bildet quasi den Balkon in Shakespeares (der ja zitiert) Tragödie: ein künstliches Symbol für Unerreichbarkeit und Schönheit.

Der erste und der letzte Beitrag sind sehr ironische Aussagen über die gesellschaftlichen und technischen Umwälzungen, mit denen sich die „Helden“ arrangieren. Der Priester wird zum Gründer einer neuen/alten heidnischen Kirche, in der er selbst als Gott der Fruchtbarkeit auftritt. Der Autor, der von der Muse seiner neuen Schreibmaschine ersetzt wird, nimmt lieber Reißaus, bevor er für „unamerikanische Umtriebe“ – wie einst die Hollywood Ten – verbannt wird. Dass die Aliens sich aufgrund ihres Schwarmbewusstseins auch als überlegene Basketballspieler entpuppen, zeigt G. A. Effingers witzige Barras-Anekdote.

Zielgruppe

Insgesamt ist dieser Auswahlband auf einem recht hohen Niveau angesiedelt und inhaltlich-thematisch eine abgerundete Sache. Dass dafür dem deutschen Herausgeber Manfred Kluge das Verdienst der Auswahl und Anordnung gebührt, dürfte wohl klar sein. Eine klare Empfehlung für SF-Classic-Sammler. Nur die Stil- und Druckfehler führen zu einem Punktabzug.

Fazit: vier von fünf Sternen.

Taschenbuch: 156 Seiten
Originaltitel: The Magazine of Fantasy and Science Fiction, 1977/78
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 9783453305557

www.heyne.de

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