Eine Ära geht zu Ende. Vermutlich ist kein Kriminalkommissar in der gesamten Literatur so bekannt wie Kurt Wallander – der alternde, teils zynische und manchmal schlecht gelaunte und grüblerische Kommissar aus dem schwedischen Ystad, den Henning Mankell vor zig Jahren ins Leben gerufen hat. Mit dem vorliegenden Buch nun endet die Ära Kurt Wallanders …
_Vermisst_
Viel Zeit ist vergangen seit Kurt Wallanders letztem Fall. Das sieht man vor allem an seiner Tochter Linda, die längst in seine Fußstapfen getreten ist und ihrem Vater in diesem Buch nun das erste Enkelkind schenkt – die kleine Klara. Mit ihrem Lebensgefährten Hans versteht Wallander sich zunächst nicht so gut, doch von dessen Eltern Louise und Håkan von Enke ist er schnell angetan. Zwar durchschaut er die stille und freundliche Louise nicht, aber zu Hans‘ Vater Håkan findet Wallander schnell Zugang. Håkan ist ehemaliger Korvettenkapitän und hat auf einem U-Boot gedient. Immer noch denkt er an diese Zeit zurück – vor allem an ein Ereignis aus den 80er-Jahren. Damals haben die Schweden ein fremdes U-Boot in eigenen Gewässern aufgespürt. Håkan ist überzeugt davon, dass es sich um ein russisches U-Boot gehandelt haben muss, doch statt das feindliche Schiff zum Auftauchen zu zwingen, gibt es den Befehl, es ziehen zu lassen. Der Korvettenkapitän versteht die Welt nicht mehr und versucht auch zig Jahre später noch, den Verantwortlichen aufzuspüren, der diesen völlig undurchsichtigen Befehl gegeben hat.
An Håkans 75. Geburtstag sucht er das Gespräch mit Kurt Wallander und beginnt, von alten Zeiten zu sprechen. Wallander merkt, dass Håkan sich etwas von der Seele reden will, versteht aber nicht, worauf der alte Mann hinaus will. Nur einen Tag später verschwindet Håkan spurlos. Wallander ist zwar nicht direkt an der Aufklärung dieses Vermisstenfalls beteiligt, aber natürlich mischt er sich in die Ermittlungen ein und versucht auf eigene Faust, Håkan ausfindig zu machen. Als alle davon überzeugt sind, dass man den Korvettenkapitän nicht mehr lebend auffinden wird, verschwindet auch Louise. Kurz zuvor hatte sie noch 200000 Kronen vom gemeinsamen Konto abgehoben, ohne ihrem Sohn Hans zu sagen, wofür sie das Geld braucht. Das Verschwinden des alten Ehepaars ist und bleibt ein Rätsel. Wallander spricht mit guten Freunden der beiden und erfährt so durch Zufall, dass Hans noch eine ältere Schwester – Signe – hat, von der niemand sonst etwas geahnt hatte. Signe ist schwerst behindert und lebt seit ihrer Geburt in einem Pflegeheim. Nur ihr Vater hat sie regelmäßig besucht, ihre Mutter nicht ein einziges Mal. Kurt Wallander fährt in das Heim und findet in Signes Zimmer Unterlagen, die Håkan dort versteckt haben muss.
Langsam aber sicher zeichnet sich ab, dass die Familie von Enke Kontakte zu den Russen gehabt haben muss. Als man Louise auffindet, entdeckt die Polizei mysteriöse Unterlagen in ihrer Handtasche. Welches Geheimnis hat die Familie von Enke jahrzehntelang verborgen?
_Auf ein Letztes_
Mit einer gewissen Wehmut habe ich dieses lang ersehnte Buch aufgeschlagen. Schon von Beginn an ist klar: Henning Mankell will seiner Wallander-Ära ein Ende setzen. In jeder Zeile schwingt der Abschied mit. Kurt Wallander denkt an alte Fälle zurück, die er in den bisherigen Büchern gelöst, aber noch längst nicht vergessen hat. Er wird wehmütig und zählt weiterhin seine Wehwehchen. Inzwischen plagt ihn ein schwerer Diabetes, schon seit Monaten muss er sich täglich Insulin spritzen, was nicht einmal seine Tochter Linda ahnt. Viel schlimmer aber sind seine Aussetzer. Immer wieder verliert er völlig die Orientierung, weiß nicht mehr, was er in den letzten zehn Minuten gemacht hat und was er eigentlich vor hatte. Sind das etwa die ersten Zeichen von Alzheimer oder Demenz? Zunächst gibt seine Ärztin Entwarnung, doch als die Aussetzer sich häufen und Wallander gar vergisst, eine Herdplatte abzustellen, bevor er zu einem Spaziergang aufbricht, traut er sich nicht mehr zu einer erneuten ärztlichen Untersuchung. Linda macht sich immer mehr Sorgen um ihren Vater, erst Recht, nachdem er einen schweren Zuckerschock erleidet. Wallander baut immer mehr ab.
Kurt Wallander war schon immer ein eher melancholischer Charakter, der mit sich, seiner Gesundheit und der Welt gehadert hat, doch nun denkt er immer häufiger über den Tod nach. Als ihn überraschend seine frühere Freundin Baiba Liepa aus Lettland besucht, wird ihm bewusster denn je, wie kurz das Leben sein kann. Auch seine Exfrau Mona plagt sich mit Problemen, die sie immer häufiger im Alkohol zu ertränken versucht. Wallanders treuer Kollege Nyberg plant seine baldige Pensionierung und will dann weit in den Norden ziehen. All dies stimmt Wallander nachdenklich. Wohin wird es ihn nach der Pensionierung ziehen? Wie lange wird er noch für seine Enkeltochter Klara da sein? Und wie wird sein Gesundheitszustand dann sein?
Henning Mankell knüpft trotz der jahrelangen Pause nahtlos an die alten Geschehnisse an und zeichnet seine bekannte Kriminalfigur stimmig weiter. Mit Kurt Wallander konnte es nie ein gutes und friedliches Ende nehmen und so passt dieser Abschied im vorliegenden Buch genau zu Wallanders Charakter. Die Grundstimmung des Buches ist dadurch nachdenklich, traurig und düster wie immer. Das gesamte Buch arbeitet auf diesen einen Abschied von Kurt Wallander hin, denn er wird keinen weiteren Fall für uns lösen. Entsprechend wehmütig gestimmt war ich beim Lesen, finde aber, dass Henning Mankell seinem Krimihelden einen würdigen Abschied geschrieben hat, der den Leser irgendwo auch versöhnt zurücklässt.
_Spurlos_
Der Kriminalfall an sich tritt fast schon in den Hintergrund angesichts dieser Dominanz Kurt Wallanders. Wir haben es nicht mit einem klassischen Kriminalfall zu tun, beispielsweise mit einem Serienmörder. Das wäre für Henning Mankell sicherlich auch zu profan gewesen. Stattdessen nimmt er sich wieder einmal eines heißen politischen Eisens an, nämlich der Spionage. Dazu lässt er das Ehepaar von Enke auf den Plan treten, das praktischer Weise zu Linda Wallanders neuer Familie geworden ist. Håkan ist in seiner Funktion als Korvettenkapitän viel herum gekommen und war stets politisch interessiert. Aber auch Louise stand dem in nichts nach und ist früher häufig nach Ostdeutschland gereist. Diese beiden nun verschwinden nacheinander spurlos. Kurt Wallander wühlt sich durch alte Unterlagen, die er in Håkans Schreibtisch findet und merkt, dass das letzte Gespräch, das er mit Håkan an dessen 75. Geburtstag geführt hat, wichtiger gewesen ist, als ihm damals bewusst war. Irgend etwas wollte der alte Mann ihm erzählen, was über die Geschichte mit dem U-Boot hinaus geht. Doch wie so häufig weiß Wallander, dass er etwas übersehen hat, kommt aber nicht auf den richtigen Gedanken.
Diese Eigenart kennt man bereits aus den anderen Wallander-Krimis, aber in diesem Fall bringt er den Leser damit nahezu zur Weißglut, denn ständig sieht er den Wald vor lauter Bäumen nicht, macht nur Andeutungen und lässt den Leser mit einer Ahnung zurück, dass etwas Wichtiges geschehen sein muss, was man aber noch nicht durchschauen kann. Dadurch steigert Henning Mankell natürlich immer weiter die Spannung. In diesem Buch allerdings ist das auch nötig, denn da Mankell seine Hauptfigur dermaßen in den Mittelpunkt des Buches stellt und Wallander mehr Aufmerksamkeit denn je angedeihen lässt, hapert es mitunter am Spannungsbogen. So gab es aus meiner Sicht selten einen Punkt, an dem ich das Buch nicht mehr aus der Hand hätte legen können. Wallander beschäftigt sich mit so vielen unterschiedlichen Dingen und Menschen, dass das Verschwinden der von Enkes oft genug in den Hintergrund tritt. Mich hat der Fall an sich deswegen bis zum Schluss nicht wirklich mitgerissen. Auch die Auflösung ist zwar stimmig und birgt ein nettes Überraschungsmoment, aber es führte nicht zu einem Aha-Erlebnis, das mich wirklich begeistert hätte. Zudem bleiben am Ende leider einige Fragen offen, die Kurt Wallander bei seinen Ermittlungen nicht aufklären konnte. Dadurch lässt Mankell seine Leser etwas unbefriedigt zurück.
_Typisch Wallander_
Unter dem Strich gefällt Wallanders letzter Fall durchaus gut. Henning Mankell ist sich treu geblieben und hat sich für den letzten Auftritt seines Helden einen brisanten Fall heraus gesucht, der hochpolitisch ist und viele ausländische Verstrickungen Schwedens aufdeckt. So hebt sich das Buch zwar deutlich vom durchschnittlichen Kriminalroman ab, doch zum vielleicht ersten Mal konnte mich Mankell nicht von der ersten Seite an mitreißen, da das Verschwinden der von Enkes erst zu einem späteren Zeitpunkt im Buch geschieht und Wallander auch häufig genug mit anderen Dingen beschäftigt ist und man dadurch das Verschwinden des Ehepaars völlig aus dem Fokus verliert.
Wo Mankell aber punktet, ist seine stimmige und dichte Charakterzeichnung. „Der Feind im Schatten“ ist eine Huldigung an Kurt Wallander. Der kauzige Kommissar nimmt Abschied von seinem bisherigen Leben und auch von seinen Lesern. Dazu passt, dass er längst nicht mehr in der Mariagata wohnt, sondern in einem kleinen Häuschen auf dem Lande – ganz in der Nähe, wo einst sein Vater gelebt hat. Wallander ist alt geworden und müde und so müssen wir ihm seine Ruhe lassen – fernab von weiteren Kriminalfällen. Wir werden ihn vermissen, sind aber mit einem würdigen Abschied belohnt worden, der aus meiner Sicht inhaltlich allerdings nicht vollkommen überzeugen kann.
Gebundene Ausgabe: 592 Seiten
ISBN-13: 978-3552054967