Marc Agapit – Die Agentur

Die Hölle, das ist die Ewigkeit

Eine etwa 50-jährige Frau findet sich ohne Gedächtnis in einer unbekannten Kleinstadt wieder. Man verweist sie an eine Agentur namens A.V., die ein seltsames, unheimlich wirkendes, aber sichtlich routiniertes Unternehmen ist: Sie stellt binnen kürzester Zeit fest, wer die Frau ist und wo sie wohnt.

Doch daheim erkennt sie die Leute nicht mehr, mit denen sie früher verkehrt haben soll. Stück für Stück kehren Erinnerungen zurück. Sie misstraut ihnen, denn sie besagen, dass sie Zeugin einer grausigen Bluttat gewesen sei. Nur Zeugin?

Ihre Suche nach der eigenen Identität wird zum Horrortrip, der geradewegs in die Hölle führt und immer wieder ins Vergessen – und zu dieser Agentur, die für alle Verbrecher zuständig ist… (aus der Verlagsinfo)

Der Autor

Marc Agapit ist ein Pseudonym des französischen SF- und Krimiautors Adrien Sobra (12.10.1897 bis 21.9.1985). Geboren in Perpignan als Sohn belgischer Eltern, lehrte Sobra Englisch. Er benutzte die Pseudonyme Marc Agapit, Ange Arbos und „Le ch’ti“. (Wikipedia)

Werke

1) Die Agentur (1976)
2) Greffe mortelle (1980)
3) Ecole des monstres (2007)
4) L’ile magique. collection Angoisse n° 142 (1967)
5) Le doigt de l’ombre. collection Angoisse (1959)
6) Le fluide magique (1965)

Handlung

Eine Frau entdeckt, dass sie gerade durch eine unbekannte Kleinstadt geht, an die sie sich nicht erinnern kann. Die Verwirrte wird an eine Agentur namens A.V. verwiesen, die sich anscheinend mit Fällen wie ihrem auskennt. Im Wartesaal, in dem ein lebhaftes Kommen und Gehen herrscht, wird sie als „Jaqueline Vermot“ aufgerufen. Natürlich reagiert sie erst, als die Angestellte auf sie zeigt. Der Mitarbeiter, zu dem sie gebracht wird, leitet alles für ihre Rückkehr in die Wege. Doch woher kennt er ihre Identität?

Die Mutter

Auch in ihrer Heimatstadt erinnert man sich an sie, selbst wenn ihr alles fremd vorkommt. Sie findet die angegebene Adresse, und sogleich stellt sich ihre Haushälterin Marie ein. Als diese wieder geht, um eine Besorgung zu machen, spaziert Jaqueline in den ausgedehnten Garten, der neben dem Friedhof liegt. Hier hört sie eine Stimme – und als sie ihre Mutter sieht, gehorcht sie sofort deren Befehl, eine Klopfpeitsche zu holen. Damit soll nämlich ein kleiner Junge verdroschen werden, Jaquelines Neffe Denis.

Als Jaqueline mit der Peitsche wiederkommt, trifft Marie ein. Die ist entsetzt: Jaquelines Mutter sei bereits lange tot und der nicht anwesende Neffe Denis sicher schon längst aus dem Alter des Bestraftwerdens heraus. Jaqueline erleidet einen Nervenzusammenbruch. Seit wann sieht sie denn Gespenster! Nur für Sekundenbruchteile kann sie sich an eine Bluttat erinnern, doch diese Gedächtnissplitter egeben keinen Sinn.

Der Neffe

Als sie wieder mal allein ist, findet sie auf dem Dachboden ihr Tagebuch. Es erzählt von Denis, ihrem sogenannten „Neffen“, der aber in Wahrheit eine Art Ziehsohn war, wie ihr Marie sagte. Doch wo ist er jetzt? Der Bengel, den sie mit ihrer Mutter aufzog, muss ein wahrer Satansbraten gewesen sein, den sie beide regelmäßig bestrafen mussten. Und doch fühlte sie sich zu ihm hingezogen, besonders wenn sie ihm die Hose herunterzog, um ihm den Hintern zu versohlen. Und da hört sie eine Stimme: Denis, erwachsen, schön wie ein griechischer Gott! Sie will ihn umarmen – und fällt auf die Bretter des Dachbodens.

Der Idiot

Später hört sie einen Ruf aus dem Garten. Es ist Clément, der missgestaltete Sohn des Friedhofsverwalters und zugleich Dorfidiot, wie er behauptet. Sein Oberkörper ist der eines Riesen, doch er ruht auf Zwergenbeinen. Als er sich ihren Liebhaber nennt, ist sie empört. Doch die Vorstellung reizt sie. Was er unter Liebe versteht, hat allerdings wesentlich mehr mit Vampirismus zu tun. Immerhin: Er kennt das Geheimnis, warum sie ihr Gedächtnis verloren hat. Vor Entsetzen verliert sie erneut die Besinnung und das Gedächtnis.

Der Verehrer

Nicht genug damit, erscheint ein ihr völlig unbekannter Mann an der Haustür, der sie zu kennen scheint. André Magnan behauptet, er habe ihr seit 30 Jahren jedes Jahr einen Heiratsantrag gemacht, den sie stets zurückgewiesen habe. Als Beweis händigt er ihr einen Packen Briefe aus, und tatsächlich: Er ist ihr treuester Verehrer! Wie konnte sie nur so herzlos sein, ihn ständig zurückzuweisen? Nur ihre Liebe zu Denis, ihrem Neffen, hat sie daran gehindert.

Nun jedoch nimmt sie seinen Antrag dankend an und beschließt, mit ihm in ein gemeinsames Haus zu ziehen. Er will nur schnell etwas besorgen, als Clément zurückkehrt und ihr die traurige Wahrheit eröffnet: André Magnan sei seit einem Jahr tot, wie man unschwer an seinem Grab auf dem nahen Friedhof erkennen könne…

Dies ist nicht der letzte Schock, den Jaqueline hinnehmen muss, bevor sie akzeptiert, was sie ist…

Mein Eindruck

Es gibt nur eine plausible Erklärung für Jaquelines Zustand und die Schicksalsschläge, die sie scheinbar hinnehmen muss. Sie ist schon längst selbst tot. Ebenso wie die vielen Leute, die sie kennenlernt und von deren Ableben ihr regelmäßig Clément berichtet. Ob er wirklich ein Idiot und Vampir ist, wäre zu überlegen, aber die Meinung, dass er ebenfalls tot ist, hat einiges für sich. Das Problem für den Leser besteht darin, dass alle Kulissen wie im wirklichen Leben aussehen. Wenn dies aber nicht unsere Seinsebene ist, welche denn dann?

Und wozu kehrt Jaqueline überhaupt an die Stätte ihres früheren Lebens zurück und worin besteht die Rolle der mysteriösen Agentur A.V.? Die Tätigkeit der Agentur bringt uns auf die richtige Spur, denn wie in einer Ermittlung müssen wir die Indizien zusammensetzen. Wenn Jaqueline tot ist und die Agentur sie „nach Hause“ schickt, dann handelt es sich im Rahmen der christlichen Metaphysik entweder um den Himmel oder die Hölle. Allerdings ist dieses Jenseits vollbürokratisiert und sieht aus wie der bürgerliche Alltag der siebziger Jahre.

L’enfer

Schon bald beschleicht uns der Verdacht – spätestens beim zweiten Lesen -, dass Jaqueline weit davon entfernt ist, erlöst worden und im Himmel gelandet zu sein. Denn wozu sonst ist sie gezwungen, alle Verstorbenen wiederzusehen und noch dazu ihre eigene Bluttat (die hier nicht verraten werden darf) neu zu erleben? Offensichtlich befindet sie sich nicht im Himmel, sondern in einer Art Hölle. Hier ist sie dazu verdammt, zwecks Bestrafung ihrer Tat als Untote ihr früheres Leben immer wieder neu zu erleben. Und da sie stets neu das Gedächtnis verliert, tut sie dies bereits schon wer weiß wie lange.

Ganz nach Sartes Diktum „Die Hölle, das sind die anderen“, muss sich Jaqueline ihren Sünden stellen: die Liebe zu ihrem Neffen, das Abweisen eines Verehrers, v.a. aber ihre Eifersuchtstat mit blutigen Folgen. Sie ist sich dessen nicht bewusst, aber auf existentialistische Weise wird sie durch ihre Amnesie immer wieder in die gleiche Hölle zurückgeworfen.

Ewiger Kreislauf

Da sie niemals etwas für die nächste Runde lernt und nichts bereut, kann sie jedoch niemals erlöst werden. Ein Ende ihrer Tantalusqualen ist also gar nicht vorgesehen. Das ist nicht sonderlich christlich gedacht, noch nicht einmal existentialistisch, sondern einfach fatalistisch. Man fragt sich wirklich, welchen Zweck eine derart fiese Agentur A.V. – das Kürzel steht für „alle Verbrechen“ – eigentlich hat. Sie verwaltet ja nur einen ewigen Kreislauf der Strafe. Es gibt keine höhere Sinngebung. Entspricht dies wirklich unserer Wirklichkeit? Nein, auch dies ist Teil der teuflischen Erfindung namens „Bürokratie“.

Psychologie

Ich hatte meine Probleme mit der Psychologie Jaquelines. Sie ist eine Liebende und eine Mörderin, doch sie hat ein schweres Handicap: der ständige Gedächtnisverlust. Kann man es ihr also vorwerfen, dass sie zu 99 Prozent aus Gefühl und nur zu einem Prozent aus Vernunft besteht? Eigentlich nicht, und dennoch würde ich ihr als Gespenst wesentlich mehr Intelligenz wünschen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist einwandfrei. Allerdings würde man „defekte Mauer“ (Seite 97 und anderswo) bei uns nicht sagen, sondern vielmehr baufällige oder brüchige Mauer.

Unterm Strich

Jaquelines Schicksal, als Geist mit Amnesie immer wieder die Sünden ihres Lebens neu zu durchleben, ist eine Strafe ohne Hoffnung auf Erlösung. Fern von christlichem jenseitsglauben und existentialistischer Selbstbehauptung in einem sinnlosen Universum mutet uns Jaquelines Schicksal zu, jede Hoffnung fahren zu lassen. Mag ihr Leben als Endlosschleife auch noch so interessant sein, so erfüllt es doch letzten Endes keinerlei Zweck, weil außer einer permanenten Strafe nichts dabei herauskommt.

Die Erzählweise weist weit über Edgar Allan Poes Geistergeschichten oder Guy deMaupassants „Horla“ hinaus. Ich kenne Alfred Kubins „Die andere Seite“ nicht, wohl aber Kafka. Doch selbst Kafka kennt jenseitige Instanzen, die strafen können, wenn ein Grund vorliegt, und der Sünder, warum er bestraft wird. Selbst dieser Lichtblick ist Jaqueline Vermot nicht vergönnt. Die Hölle mit dem Namen „Agentur A.V.“, sie erfüllt hier nur einen Selbstzweck, als befände sie sich selbst in einer Endlosschleife ohne Hoffnung.

Das klingt nach einem wirklich sehr pessimistischen Buch. Doch die Erzählung vermittelt genau das Gegenteil: Stets wagt die des Gedächtnisses beraubte Heldin auf Liebe zu hoffen und wird, als diese ihr entzogen wird, zur Mörderin. Weil wir keine Hinweise darauf erhalten, was noch kommt, müssen wir miträtseln und ermitteln, worin Jaquelines Verbrechen besteht. Das macht das Buch wieder spannend. So seltsam es klingen mag: Die Strafe der ewigen Wiederholung ist der Sinn von Jaquelines Geist-Leben, und dies ist sogar besser als die Alternative, nämlich die emotionale Leblosigkeit.

Erst im letzten Absatz gibt der Autor preis, worin Jaquelines Schicksal wirklich besteht. Wer’s bis dahin noch nicht kapiert hat, dem wird die Lösung zum Rätsel von Jaquelines Existenz endlich enthüllt. Wir müssen uns Jaquelines als einen glücklichen Menschen vorstellen, genau wie Sisyphus.

Fazit: drei von fünf Sternen.

Michael Matzer © 2018ff

Taschenbuch: 128 Seiten
Originaltitel: Agence tous crimes, 1976
aus dem Französischen von Martin Fischer
ISBN-13: 9783453305625

www.heyne.de

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