Lisa Marklund – Paradies (Lesung)

Dieser Roman schließt direkt an den Bengtzon-Krimi „Studio 6“ an. Die Journalistin Annika Bengtzon beschäftigt sich diesmal mit einer Privatorganisation, die bedrohte Menschen verschwinden lassen kann, und mit der serbischen Mafia in ihrem Land. Außerdem findet sie einen neuen Mann in ihrem Leben. Leider ist er schon verheiratet. Aber das lässt sich ja ändern.

Die Autorin

Liza Marklund, geb. 1962, verließ mit 19 die nordschwedische Provinz, um in Tel Aviv Orangenbäume zu pflanzen und in London Pizza zu verkaufen. Nach ihrer Rückkehr nach Schweden studierte sie Journalismus und arbeitete bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Mehrere Jahre war sie Nachrichtenchefin des schwedischen Privatsenders „TV 4“. Diesen Traumjob kündigte sie, um Romane zu schreiben. Der Erfolg gibt ihr Recht: Für ihr Debüt „Olympisches Feuer“ (dt. 2000) erhielt sie 1998 den Poloni-Preis sowie den Debütpreis der schwedischen Kriminalakademie. Der Nachfolgeroman, „Studio 6“ war weltweit ein Erfolg. Liza Marklund lebt mit ihrem Mann Micke, einem Fernsehproduzenten, und ihren drei Kindern in Stockholm. Bei |Hoffmann und Campe| erschienen bisher die Romane „Olympisches Feuer“ (2000), der fürs Kino verfilmt wurde, „Studio 6“ (2001), „Paradies“ (2002), das Doku-Drama: „Mia – Ein Leben im Versteck“ und „Der Rote Wolf“ (2004). (Verlagsinfo)

Die Sprecherin

Judy Winters Karriere am Theater begann 1962. Die 1944 Geborene wurde von Peter Zadek ans Bremer Theater engagiert und feierte in Musicals wie „My Fair Lady“ oder „Hello Dolly“ große Erfolge. Es folgten zahlreiche TV-Filme, u. a. Simmel-Verfilmungen und der Kult-Tatort „Reifezeugnis“. Mit dem Programm „Marlene“ hat Judy Winter einen Meilenstein ihrer Kunst gesetzt. Damit ging sie im Sommer 2001 auf Japan-Tournee. Sie hat bereits Marklunds Romane „Prime Time“ und „Studio 6“ gelesen.

Winter liest die von Gisela Mathiak gekürzte Fassung.

Handlung

Die ehrgeizige „Abendblatt“-Journalistin Annika Bengtzon, 24, hat den beruflichen Durchbruch nach den Ereignissen um „Studio 6“ noch nicht geschafft. Sie ist erst Textredakteurin, bereitet also die Artikel ihrer Kollegen und der freien Autoren auf. Wenigstens ist ihr direkter Vorgesetzter Jörnsson zufrieden. Sie darf für die Kriminalredaktion arbeiten, aushilfsweise.

Da erhält sie die Meldung, dass im Stockholmer Freihafen zwei Leichen in einem Flugzeugwrack gefunden worden seien. Waren es Schmuggler? Zigarettenschmuggel aus Russland und Estland scheint ein großes Geschäft geworden zu sein. Und was alles in den Sattelschleppern steckt, die am Freihafen herumstehen, weiß nicht einmal der Zoll ganz genau. Was Annika nicht weiß: Ein Laster mit 50 Millionen Zigaretten ist verschwunden; Wert: 50 Millionen Kronen. Und das bereitet in der Unterwelt mächtigen Ärger und führt zu weiteren Toten.

Kurz darauf erhält Annika am „Idiotentelefon“, auf dem die Öffentlichkeit die Redaktion erreichen kann, einen merkwürdigen Anruf, dem sie aber nachgehen will. Eine Frau namens Rebecca Björgstig hat eine private Organisation für von Mord bedrohte Frauen gegründet und will dies nun publik machen – nur um von den Sozialbehörden entsprechende Geldspritzen zu erhalten, wie Annika bald herausfindet. Doch wie ist es möglich, einen Menschen überhaupt in Schweden zu verstecken, ihn aus sämtlichen öffentlichen Verzeichnissen zu „löschen“? Das wundert Annika doch sehr. Die Stiftung Björgstigs nennt sich „Paradies“, nach dem Garten Eden, der von einer Mauer vor dem Bösen geschützt wurde.

Noch ein Anruf, der wichtigste. Aida Begovic ist eine bosnische Flüchtlingsfrau, die angeblich in Schweden von der jugoslawischen Mafia verfolgt wird: Auch sie hätte im Freihafen erschossen werden sollen, erzählt sie. Nach einem Interview gibt Annika der Frau aus Mitgefühl die Geheimnummer zu der „Paradies“-Organisation. Gerade noch rechtzeitig, denn schon taucht vor der Tür ihres Hotelzimmers Aidas Verfolger auf, Radko, ein serbischer Söldner. Annika gelingt es, ihn abzuwimmeln und Aida in Sicherheit zu bringen. Aida schenkt ihr zum Dank eine symbolträchtige Goldkette.

Ist „Paradies“ wirklich, was es zu sein vorgibt? Annika kommen durch ihre Interviews und Recherchen immer größere Zweifel, ob es sich überhaupt um eine legale Stiftung handelt und nicht vielmehr um die Geldbeschaffungsmaschine einer Serienbetrügerin. Ein Domizil von „Paradies“ ist Voxhavn, wo auch Aida lebte. Der Sozialkämmerer des dortigen Sozialamtes, Thomas Samuelsson, lebt unglücklich in einer kinderlosen Ehe mit einer stellvertretenden Bankdirektorin (wir treffen Eleonor in [„Prime Time“ 385 wieder) und verliebt sich sofort in Annika, aber natürlich dauert es bis zum Schluss, bis die beiden zusammenkommen. Er gibt Annika entscheidende Information über das fiese Spiel, das Rebecca Björgstig alias Ingrid Agneta Nordin alias Eva Ingrid Andersson mit dem Sozialamt treibt.

Durch ihre Einmischung geraten Annika und Thomas zwischen die Fronten, denn Radko sucht immer noch Aida Begovic, und Rebecca Björgstig scheint in Verbindung mit ihm zu stehen. Ist „Paradies“ nur ein Schleusernetz der serbischen Mafia? Das fragt sich Annika, als die beiden Schurken Thomas bewusstlos schlagen und Annika einsperren. Da ahnt sie, dass noch viel mehr dahinterstecken muss.

Mein Eindruck

War „Studio 6“ der reinste Zickzacklauf und nicht gerade das glorreichste Abenteuer für die Anfängerin Annika Bengtzon, so ist „Paradies“ wesentlich spannender sowie actionreicher und Annika kann sich endlich erfolgreich durchsetzen, beruflich wie privat.

Diesmal nimmt die engagierte Reporterin und Autorin Marklund zwei heiße Eisen ins Visier: die Asylantenpolitik und die vielfältigen Aktivitäten der jeweils herrschenden Mafia, der nicht nur Schmugglerbanden, sondern auch Asylantenschleuser angehören. Wenn Henning Mankell die afrikanischen Einwanderer zu Protagonisten machen kann, so kann Marklund mit gleichem Recht bosnische und serbische Flüchtlinge in das Personal ihres Romans aufnehmen. Sehr intensiv sind die Zitate aus Aida Begovics privatem Tagebuch, in dem sie von ihrer Vertreibung erzählt.

Die Probleme, mit denen die Asylanten zu tun haben, sind ähnlich gelagert wie bei Mankell, so etwa die Abhängigkeit von Schleusern und anderen mafiosen Gestalten. (Nur dass Aida noch einen anderen Grund hatte, nach Schweden zu kommen: Rache an den Mördern ihrer Familie.)

Dass die Kripo sich als machtlos gegenüber der jeweiligen Mafia erweist, prangert Marklund gnadenlos an. Offenbar mangelt es an politischem Willen, etwas gegen die Mafia zu unternehmen. Daher können auch Pseudo-Organisationen wie „Paradies“ fröhlich Profit herausschlagen, indem sie die Sozialämter betrügen. Die Steuerzahler haben ja eine Eselsgeduld.

Beruflich scheint Annika endlich in eine festere Position zu gelangen. Dafür aber bemüht sich ihr Redaktionschef Anders Schüman, seinen eigenen Chef Torstensson wegen kompletter Unfähigkeit abzusägen. Erst in „Prime Time“ soll es ihm gelingen.

Annikas Privatleben befindet sich in einem dynamischen Übergang, der nicht ohne Stress abläuft. Erst stirbt ihre über alles geliebte Großmutter, dann klagt ihre eigene Mutter sie als „Unglücksrabe“ der Familie an! Schließlich habe Annika mindestens einen Menschen auf dem Gewissen! In Thomas Samuelsson findet Annika zunächst einen Liebhaber für eine Nacht, doch als sie feststellt, dass sie von ihm schwanger ist, muss sie eine Entscheidung herbeiführen. Ob Thomas‘ Frau ihn einfach so gehen lässt?

Diese privaten Wechselfälle schildert Marklund ebenso anschaulich, einfühlsam und verständlich wie die großen politisch-mafiosen Hintergründe und Zusammenhänge, denen ihre Heldin auf die Spur kommt. Die Auffassungsgabe des Zuhörers wird jedoch auf die Probe gestellt: Die Erzählstruktur, derer sich Marklund diesmal bedient, ist wesentlich komplizierter als in dem einfach gestrickten „Studio 6“. Auch hier gibt es wieder Zitate aus einem Tagebuch, aber der Verlauf der drei Haupthandlungsstränge ist verschlungener.

Daher fiel es mir beispielsweise schwer, die bedeutsame Verbindung zwischen der Stiftung „Paradies“ und der serbischen Mafia unter Radko herzustellen. Vielleicht habe ich einen Moment nicht aufgepasst, und schon war’s passiert. Wer diesen Zusammenhang nicht herstellen kann, hat Probleme, das „Paradies“-Thema mit den Radko-Szenen in Verbindung zu bringen und ihre Bedeutung zu intepretieren. Diese Schwäche seitens der Darstellung kann auch auf die Kürzungen im Hörbuchtext zurückzuführen sein.

Die Sprecherin

Judy Winter verfügt über einen unglaublichen Stimmumfang, möglicherweise geschult durch ihre Musicalkarriere. Die Stimme reicht vom maskulinen Bass bis in die Höhen von Kinderstimmchen und Zickengekreisch. Deswegen fällt es ihr auch nicht schwer, Vertreter beider Geschlechter ebenso glaubwürdig zu sprechen wie etwa ein Kind. Sehr schön gelingt ihr Vortrag bei der einfühlsamen und tränenreichen Liebesszene zwischen Thomas und Annika – die Sprache wird hier recht poetisch, und bei unsensiblen Zuhörern könnte dies auf Ablehnung stoßen. Judy Winter rettet die Stelle, die ganz wesentlich für die Glaubwürdigkeit der zarten Liebesbande zwischen Thomas und Annika ist.

Die Wirkung von Judy Winters Vortrag ist durchaus fesselnd. An spannenden Stellen liest sie langsam, an actionreichen natürlich schneller. Dennoch gehört die Mehrheit der Stimmen weiblichen Figuren, und da könnte die Charakterisierung durch unterschiedliche Stimm- oder Tonlage größer sein, um die jeweilige Figur besser unterscheidbar zu machen – eines der Hauptprobleme bei einem Hörbuchvortrag. Bei einer Handlung mit über einem Dutzend Figuren ist dies umso notwendiger.

Beeindruckend ist Winters Beherrschung des Englischen und Schwedischen, die sie gleichermaßen korrekt aussprechen kann. Ihre Aussprache des Schwedischen stellt sicher gehobene Ansprüche, und wie im Englischen und Deutschen entspricht das geschriebene Wort nicht immer dem gesprochenen. Das kann besonders bei den zahlreichen Namen des Romans Verwirrung stiften, insbesondere dann, falls die Aussprache schwankt.

Unterm Strich

„Paradies“ ist noch besser als „Studio 6“, indem es spannender, actionbetonter und ehrgeiziger in seiner politischen Aussage ist. Aber es verlangt vom Konsumenten auch ein höheres Maß an Aufmerksamkeit, Intelligenz und Kombinationsfähigkeit – die Erzählstruktur ist komplexer, abwechslungsreicher. Sehr befriedigend ist es natürlich, endlich zu erfahren, dass sich Annika nach ihren massiven Niederlagen in „Studio 6“ wieder berappelt und unter ihrem neuen Chef anspruchsvollere Aufgaben erhält. Natürlich deckt sie auch diesmal wieder eine hammerharte Affäre auf, die das Ende der serbischen Mafia in Schweden bedeutet. (Im zynischen Epilog wird erwähnt, dass die abgeschobenen Serben sofort von den Russen ersetzt wurden.)

Ich kann dem Leser bzw. Zuhörer nur dazu raten, sich sofort die Fortsetzung „Prime Time“ zu Gemüte zu führen. „Olympisches Feuer“ hingegen spielt nach Angaben der Autorin erst acht Jahre nach den Ereignissen in „Studio 6“. Man kann diesen Roman also gut als Letzten lesen.

Im August 2004 wurde auch der Marklund-Roman „Der Rote Wolf“ als Hörbuch bei |Hoffmann und Campe| veröffentlicht und von mir besprochen.

CD: 373 Minuten auf 5 CDs.
ISBN-13: 9783455302998

https://hoffmann-und-campe.de/

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