Markus Heitz – Totenblick

Magie oder Wissenschaft: Der Totenblick bringt den Tod

„Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters.“ Diese Nachricht hinterlässt ein Serienmörder an sorgfältig inszenierten Tatorten, die Todesbildern nachempfunden sind: alte Gemälde, moderne Fotografien oder Bilder aus dem Internet. Anfangs glauben die Ermittler noch, die Hinweise wären am Tatort versteckt oder es gäbe einen Zusammenhang zwischen den Vorlagen und den Opfern. Doch dann machen sie eine grausige Entdeckung: Auf den Vorlagen erhöht sich die Zahl der abgebildeten Toten – aber da ist noch mehr: Die Spuren für die Ermittler sind an einem besonderen Ort vom Täter verborgen worden … (Verlagsinfo)

Der Autor

Markus Heitz, geboren 1971, studierte Germanistik und Geschichte und arbeitete als Journalist bei der Saarbrücker Zeitung. Sein Debütroman „Schatten über Ulldart“ wurde mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet. Seit dem Bestseller „Die Zwerge“ gehört Heitz zu den erfolgreichsten deutschen Fantasy-Autoren. Er lebt in Homburg. „Die Zwerge“ hat er ebenso fortgesetzt wie das mehrbändige Ulldart-Epos. Er hat sich im Horror mit der Judas-Trilogie ebenso betätigt wie in der Science-Fiction („Collector“).

Handlung

Armin Wolke, ein junger Klaviergott, wird in Leipzig auf höchst seltsame Weise ermordet. Der Sohn des mächtigen Direktors des Leipziger Gewandhausorchesters wurde nämlich vom Mörder gemäß der Vorlage des Gemäldes „Die Ermordung Marats“ aus dem Jahr 1793 drapiert. Drei Briefseiten in Französisch sind originalen Vorlagen nachgebildet, eine vierte Seite auf Deutsch warnt vor einem „Totenblick“, der dem jeweils ersten Betrachter der Leiche Unheil und Tod bringe.

Kommissar Peter Rhode von der Leipziger Mordkommission ist mit seinen Kollegen mit der Ermittlung betraut. Prompt setzt Wolke senior ihn massiv unter Druck: Er habe viele Feinde, und Verschwiegenheit sei oberste Pflicht. Dennoch riecht die Presse Lunte, denn Armin Wolkes „Gesundheitsprobleme“ scheinen sich verdächtig lange hinzuziehen.

Wolke senior hatte an eine Erpressung geglaubt und ließ von seinem Freund, dem „Schnäppchenkönig“ Herbie Tzschaschke eine Million Euro besorgen. Dieser wiederum hat seinen Personal Trainer Ares Leon Löwenstein gebeten, um bei der Übergabe zu helfen. So kommt es, dass der Zwei-Meter-Hüne Ares in den Fall des Totenblick-Mörders hineingezogen wird. Eine Hellseherin prophezeit ihm nichts Gutes, und wenn er sich mal „bäsondärs fuhlen“ sollte, habe er sie sofort anzurufen.

Noch am gleichen Tag dieser „Offenbarung“ stößt ein Unbekannter einen der beiden Streifenpolizisten, die Armin Wolke vor Wochen fanden, vor eine Straßenbahn. Und als sich der geschockte Kollege angstvoll zu duschen wagt, ereilt auch ihn ein vorzeitiger Tod auf bizarre Weise. Der Fluch des Totenblicks, der den Betrachter eines Toten verfolgen soll, schein sich zu bewahrheiten.

Kein Wunder daher, dass sich bei der nächsten derart inszenierten Leiche, eine Kleopatra mit Giftschlange, keiner der Polizeibeamten darum reißt, die verblichene Lady als Erstes in Augenschein zu nehmen. Aileen, eine junge rothaarige Schottin auf Studienaufenthalt in Leipzig, lieferte diesmal das lebende Modell für die Todesinszenierung. Rhode und seine fleißige Kollegin Anke Schwedt sind angewidert, und auch die marode Umgebung einer alten VEB-Druckerei trägt nicht gerade zu einer enthusiastischen Arbeitsweise bei.

Doch dann spitzen sich die rätselhaften Zwischenfälle zu. Ares Löwensteins Tochter Dolores Engel macht mit ihrer Karatekunst einen gesuchten Straßenräuber kampfunfähig, ihr Vater sucht die seherische Frau Flatow – „hat nie hier gewohnt“ – vergeblich und Wolke senior verliert eine fatale Auseinandersetzung mit einem rabiaten Autofahrer, der ihn gerammt hatte. Im steigenden Eiswasser eines Kanals kämpft er um sein Leben…

Mein Eindruck

Offensichtlich musste sich Fantasy-Spezialist Heitz schwer am Riemen reißen, um auf dem Teppich der Realität zu bleiben. Mit zahlreichen technischen und organisatorischen Fachdetails spickt er seine mehr oder weniger banale Erzählung, um den Eindruck zu erwecken, dieser Thriller habe Hand und Fuß und könne sich jederzeit in einer deutschen Großstadt zu tragen. Doch gewisse Figuren strafen dieses Bemühen Lügen.

Magie – oder weniger?

Da ist zuallererst der Bestattungsunternehmer und „Thanatologe“ Konstantin Korff. Er liebt es, sich mit dem Nimbus des Todesspezialisten zu umgeben. Ganz in Schwarz gekleidet, sieht er selbst aus wie jener Gevatter Schnitter. Noch dazu trägt er einen ganz besonderen Ring am Finger, der ihn angeblich vor dem Zugriff des Schnitters schützen soll – mit einem eingelegten Heiligenknochen. Wers glaubt, wird nicht nur selig, sondern nimmt – wie der Serienmörder – Reißaus. Wer jetzt an Magie denkt, liegt keineswegs falsch: Magie, wie sie von den großen Illusionisten praktiziert wird, beruht auf einem Gutteil auf solcherlei Suggestion.

Dann wäre da noch die – neben Peter Rhode – zweite Hauptfigur des Romans zu nennen. Ares ist nach dem griechischen Kriegsgott benannt. Sein zweiter Vorname Leon passt zu Löwenstein. Kurz und gut: Er ist ein moderner Ritter und Krieger, Beschützer der Waisen und Witwen – pardon: Beglücker eines weiblichen Mathegenies und Beschützer dreier junger Grazien, die er seine Töchter nennt.

Doch dieser wackere Recke, der in Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ keineswegs zufällig den Richter spielt, hat auch eine dunkle Seite. Er gehörte in seiner finsteren, weitgehend verdrängten Vergangenheit einem Bikerklub an, der sich „Heavenly Demons“ nennt. Dabei soll er das Gehirn hinter so manchem Raubzug gewesen sein. Seine Vorliebe für schwere Motorräder – was bei einem Ritter wohl einem Schlachtross entspräche – nimmt in seiner zweiten Inkarnation schon manische Züge an. Dass er auf eine solche Maschine gehört, wird jedem Leser klar, wenn Ares in seinen „Elefantenfuß“ steigt, besser als „Daimler Smart“ bekannt: Seine zwei Meter Körpermaß sind darin einfach fehl am Platz.

Auch der Schlüssel zum Rätsel des Totenblicks ist so weit hergeholt, dass er schon an Magie grenzt. Die Aussage „Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters“ funktioniert, wie Rhode spät erkennt, nach beiden Seiten: Der jeweilige Leichnam starrt den ersten Betrachter ebenso aus geweiteten Augen an wie dieser ihn. Doch welches Bild kann man dann im Auge einer solchen Leiche finden – und auf welche Weise? Darüber darf nicht zuviel verraten werden, aber es handelt sich um eine authentische wissenschaftliche Methode und ein belegtes Phänomen, das keineswegs der Parapsychologie entstammt.

Todeskunst mit Aussage

Der Trick mit dem Totenblick entspricht natürlich ebenso der Suggestion wie Korffs Schnitterring – doch dabei hilft der Serienmörder mit weiteren „Unglücksfällen“ kräftig nach. Rhode und seine wackeren Kollegen – die nacheinander den Löffel abgeben müssen – fragen sich natürlich als Erstes, was all die bizarr zitierenden Totenstilleben bezwecken sollen. Marat, Kleopatra, Guernica, schließlich Laokoon – sie alle zeigen Darstellungen vom Sterben. Der Tod ist eine Macht, aber eine, die hier in Menschenhand liegt: Marat wurde ermordet, Kleopatra gab sich den Freitod, Guernica wurde von der Luftwaffe zerbombt. Nur die Familie Laokoon soll von den Göttern mit einer Würgeschlange getötet worden sein. Und Götter sind bekanntlich menschliche Erfindungen.

Löwenstein betätigt sich schließlich als freischaffender Detektiv, in Kooperation mit einem Kommissar, den alle bislang unterschätzt haben. Das ist schon höchst ironisch. Aber die beiden haben eine brillante Idee: Wenn der Todeskünstler, wie er sich auf seiner Homepage nennt, ein Statement machen und nicht nur die deutsche Polizei (LKA und BKA sind auch schon da) bloßstellen will, dann verbirgt sich hinter seinen „Kunstwerken“ eine ernstzunehmende Botschaft. Die Frage ist nur welche. Ich darf sie an dieser Stelle nicht verraten, aber dem Autor ist eine plausible und nachvollziehbare Aussage des Todeskünstlers eingefallen.

Textfehler

S. 384: „davon ausgehen, dass es [s]ich um einen sehr gebildeten Täter handelt…“ Das S fehlt.

S. 200: „unnegierbar“ schreiben andere Autoren einfach als „unleugbar“. Wollte sich der Autor hier mit seinem „sehr gebildeten Täter“ auf eine Stufe stellen?

Unterm Strich

Ich habe für diesen Roman einige Wochen benötigt. Er ist völlig anders geschrieben als die US-amerikanische Thrillerkost, die ich bevorzuge. Zum einen handelt es sich um einen Regionalkrimi, wie sie heute so beliebt sind. Da die Stadt Leipzig anhand exakter Ortsdetails den glaubhaften Schauplatz liefert, entsteht der Eindruck, die Handlung könne nur dort spielen. Und das ist in der Tat so: Alle Leichenszenen sind in den zahlreichen leerstehenden und verfallenden Gebäuden aufgebaut, die diese Stadt kennzeichnen. Selbst in der zentralsten Innenstadt finden sie sich, diese alten DDR-Ruinen – undenkbar in einer westlichen Großstadt.

Zum anderen gibt es hier einige Originale in der Bevölkerung, die man woanders länger suchen müsste. Seien es russische Hellseherinnen, gewiefte Obdachlose oder Nacktfotografen mit einer Vorliebe für ausgefallene Hintergründe – skurrile Typen zeichnen diese Stadt offenbar aus. Da der Stadt noch der Ruch eines Entwicklungsgebietes anhängt, üben sich Abgesandte des LKA und BKA in hochmütigem Dünkel – was ihnen ganz schnell, wir ahnen es lange im Voraus, zum Verhängnis wird. Obwohl der Autor in Homburg lebt, erweckt er Leipzig doch zum Leben.

Was wir noch vorausahnen, ergibt sich aus den seichten Psychoprofilen der meisten Figuren und ihren Beziehungen zueinander. Selbst wenn sich der Autor darum bemüht, alle gegen den Strich zu bürsten, so erfüllen sie doch wie der Ritter Löwenstein und der Bestatter Korff ihre vorhersehbare Rolle.

Selbst Kommissar Lackmann, der immer noch in Siebziger-Jahre-Klamotten rumläuft, weil ein Alkoholiker nur an seinen Fusel denkt, ist ein verborgenes Juwel, wie es im Buche steht. Weil aber alle anderen um ihn herum besser „funktionierten“ (sprich: ihre Stunden pünktlich runterrissen), wurde seine Brillanz nie entdeckte, geschweige denn gefördert. Stattdessen setzt man ihm, da Rhode nicht mehr „funktioniert“ (also keinen Erfolg liefert), eine BKA-Tusse vor die Nase. Erst als auch diese dem Killer unterliegt, schlägt Lackmanns Stunde: ein verborgener Held, der sich mit wackeren „Dämon“ Löwenstein zusammentut – dieses dynamische Duo hätte ich gerne schon viel früher in Aktion gesehen. Aber erst einmal muss gehörig der Amtsschimmel wiehern, dann erst schlägt die Stunde der Außenseiter.

Das letzte Fünftel des Romans ist denn auch das beste. Eine Erkenntnis, eine Herausforderung jagt die nächste, die Krise spitzt sich zu, und der passende Action-Showdown kann nicht ausbleiben. Endlich – darauf haben wir 500 Seiten lang gewartet, viel zu viel Leerlauf auf uns genommen und uns durch seitenweise seichte Psychologien gewühlt. Selbst der geheimnisvolle „Messermann“, der Löwenstein in seinen Albträumen so plagt: ein Flop, der diesem Gruselelement die Luft rauslässt. Diese und ähnliche Eigenheiten des Stils machten es mir nicht gerade leicht, mich gut oder wenigstens spannend unterhalten zu fühlen. Dies war jedenfalls der erste und letzte Heitz-Thriller, den ich gelesen habe.

Taschenbuch: 528 Seiten
ISBN-13: 978-3426505915

www.droemer-knaur.de

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