Mary Fortune – Weiß (Gruselkabinett 75)

Spannend & erotisch: Das Geheimnis des weißen Hauses

Ein junger Arzt, der sich gerade in einem Vorort Londons niedergelassen hat, wird auf seinem Nachhauseritt auf ein gerade bezogenes, einsam gelegenes Landhaus aufmerksam. Es lässt ihn die Frage nicht mehr los, weshalb die neuen Besitzer sämtliche Fensterscheiben von innen weiß gestrichen haben … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Die Autorin

Mary Fortune (1833-1909) hatte ein überaus interessantes Leben. Geboren 1833 in Belfast, Nordirland, wanderte sie mit ihrem Vater nach Kanada aus und heiratete dort 1851 Joseph Fortune, mit den sie einen Sohn hatte. Doch statt bei ihm zu bleiben, folgte sie ihrem Vater bei dessen Auswanderung nach Australien. Dort traf sie am 3.10.1855 ein und bekam im November 1856 einen zweiten Sohn. Im Januar 1858 starb der ältere Sohn, und im Oktober heiratete sie Percy Rollo Brett (möglicherweise bigamistisch).

Unter den Pseudonymen Waif Wander and W. W. schrieb sie in 40 Jahren über 500 Detektivgeschichten, als eine der ersten Autorinnen der Welt. In den 1968 und 1908 im „Australian Journal“ als „The Detective’s Album“ Geschichten erzählt der Detektiv – er heißt Mark Sinclair – stets von sich in der ersten Person. Sie wurde enorm beliebt, starb aber zu einem unbekannten Zeitpunkt als Alkoholikerin. (Quelle: Wikipedia)

Der komplette, englischsprachige „The White Maniac“ ist im Gutenberg-Projekt zu lesen.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher

Dr. Charles Elveston: Johannes Raspe
Duke de Rohan: Niels Clausnitzer
Blanche d’Alberville: Stephanie Kellner
Mr. Tanning: Mogens von Gadow
Mat: Wolfgang Welter
Prinz d’Alberville: Hans Bayer
Dr. Bernard: Horst Naumann
Maurice: Tim Schwarzmaier
Thomas: Rolf Berg

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio und im Fluxx Tonstudio statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Dr. Charles Elfston ist ein junger Arzt, der sich 1858 in Kensington, einen Vorort von London, eine erfolgreiche Praxis aufgebaut hat. Nun denkt er daran, eine Familie zu gründen, natürlich möglichst standesgemäß, also nicht mit einer Dorfschönheit.

Nach einem arbeitsreichen Tag bei Patienten kehrt er in die Dorfschenke beim Wirt Tanning ein und lässt sich Wein und Wasser kredenzen. In diesem Moment stiller Einkehr fällt sein Blick auf eine schneeweiße Kutsche, die vor einem Landhaus gegenüber hält: Es ist ebenfalls völlig in Weiß gehalten, sogar die Fensterscheiben sind weiß gestrichen oder verhängt. Was für ein kurioser Anblick, denkt er. Wie mögen wohl die Bewohner erst aussehen?

Das weiße Haus

Zwei Männer treten aus einem kleinen Türchen in der Gartenmauer, offenbar ein älterer Gentleman und sein Bediensteter. Sie steigen in die Kutsche, doch diese fährt nicht ab. Vielmehr entsteigt ihr der Diener nach zehn Minuten, mit den Kleidern seines Herrn auf dem Arm, und verschwindet im Türchen. Dann erst fährt die Kutsche los. Charles versteht: Die Kutsche dient dem Herrn als Umkleideraum!

Aber, wozu diese ganze Charade, fragt Charles den Wirt. Nun, diese Leute kommen wohl aus dem Ausland, meint Mr Tanning – man nenne sie im Dorf nur „die weißgekleideten Irren“. Das kann sich Charles gut vorstellen. Dieses Umkleiden bei der Abfahrt und der Rückkehr gehe nun schon seit sechs Monaten. Der Kutscher, der nicht Teil dieses Theaters sei, sagte, auch innen sei alles weiß gestrichen oder aus weißem Marmor. Es ist ein Rätsel, das den medizinischen Forscherdrang des jungen Arztes weckt. Wenn dieser Wahnsinn Methode hat, was mag der Grund dafür sein? Womöglich könnte er darüber einen wissenschaftlichen Artikel schreiben und berühmt werden!

Nach einem Tipp des Wirtes begibt sich Charles zum Küster der nahen Kirche, einem Bekannten von Tanning. Matt nimmt ihn mit auf den Kirchturm, von wo Charles einen exzellenten Blick über das Dorf und das weiße Haus hat. In dessen Garten wachsen keine Pflanzen, sondern stehen nur Marmorstatuen – in Weiß, versteht sich. Aber wer wohnt dort? Matt weiß zu berichten, dass zweimal die Woche große Mengen von Lebensmitteln geliefert werden. Aber wer außer den beiden Bewohnern, die Charles bislang gesehen hat, soll diese Mengen verzehren?

Die Prinzessin

Das Geheimnis lässt Charles keine Ruhe mehr. Deshalb erweist es sich als Glücksfall, dass der Gentleman aus dem weißen Haus sich selbst an ihn wendet, um ihn als Arzt zu konsultieren. Unter dem Siegel höchster Diskretion, versteht sich, das ihm Charles ohne Zögern zusichert. Er sei der Duke de Rohan und es gehe um seine Nichte, deren Vormund er sei. Die Prinzessin d’Alberville leide seit zwei Jahren an einer unbekannten Krankheit. Ob Dr Elfston sie wohl untersuchen könnte? Mit Freuden sagt Charles zu.

Weil nur die Farbe Weiß die junge Dame zu beruhigen vermöge, muss sich auch Charles der Umkleideprozedur unterziehen. Welche Farbe es ist, die die Krankheit bei der Dame auslöst, hat ihm der Duke aber nicht gesagt. Der gibt ihm eine dunkle Brille, damit Charles‘ Augen in der Lage sind, trotz des Gleißens der strahlend weißen Objekte noch etwas zu sehen, und führt ihn ins Obergeschoss zum Zimmer der jungen Dame, wo er die Tür aufschließt.

Ein schöneres Frauenzimmer hat Charles seinen Lebtag noch nicht gesehen! Schwarzes Haar umrahmt ein weißes Gesicht, in dem ihn blaue Augen und ein scharlachroter Mund hypnotisieren. Natürlich heißt sie „Blanche“, die Weiße. Sie ist völlig bei Vernunft, und nach einer eingehenden Untersuchung kann er nur feststellen, dass sie auch in körperlicher Hinsicht in bester Verfassung ist. Wie kann sie sich nur hier so einsperren lassen, fragt er sie.

Nun, ob das nicht offensichtlich sei? Ihr Onkel sei völlig verrückt. Und sie, Blanche, könne zwar zu fliehen versuchen, wüsste aber nicht, wohin sie sich in einem fremden Land wenden solle, da sie hier niemanden kenne. Nun, das zumindest lasse sich ändern, denkt Charles, der sich bis zu den Ohrenspitzen in die Prinzessin verliebt hat, Wahnsinn hin oder her. Er gedenkt, nach angemessener Zeit beim Duke um ihre Hand anzuhalten.

Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn selbst eindringlichste Warnungen des Vormundes vermögen den Verliebten nicht davon abzuhalten, das letzte Tabu zu brechen und die verbotene Farbe in das weiße Haus zu bringen …

Mein Eindruck

Wieder mal bietet ein Gruselkabinett-Hörspiel sehr gepflegten und stimmungsvollen Horror. Die australische Autorin Mary Fortune (s.o.) zeigt, dass sie sich mit dem Genre und den Vorlagen bestens auskennt, aber etwas durchaus Eigenständiges daraus gestalten kann. Wie Charles selbst andeuten darf, scheint die Prinzessin Blanche d’Alberville, gerade mal 20 Jahre jung, direkt einem deutschen Märchen der Brüder Grimm entsprungen zu sein. Sie ist nicht die brave Schwester Schneeweißchen, sondern die dunkle, wilde Schwester Rosenrot (das Märchen erschien zuerst 1827, dann 1833 und 1837 in Bearbeitungen; siehe dazu http://de.ask.com/wiki/Schneewei%C3%9Fchen_und_Rosenrot?lang=de&o=2802).

Wahnsinn

Blanche scheint in einem verwunschenen Schloss zu leben, doch bevor Charles zu ihr gelangen kann, muss er erst das Labyrinth aus Wahnsinn bewältigen. Die Dörfler von Kensington sind sich ja einig, dass die Weißgekleideten alle irre sind. Dann gehört möglicherweise auch der Duke dazu, obwohl der ganz vernünftig spricht. Der sagt, vielmehr sei es Blanche, die völlig irre sei, doch die junge Dame redet ebenfalls vernünftig und beschuldigt ihrerseits den Onkel des Wahnsinns. Wer hat nun Recht?

Der Bann

Doch ohne es zu ahnen, gerät auch Charles unter den Bann des Wahnsinns: Er verliebt sich. Auf einmal erschließt sich ihm eine zweite, wunderbare Welt, nämlich die der schönsten Gefühle, die er für Blanche hegt. Als er um ihre Hand anhält, ist zu erwarten, dass der mittlerweile bettlägerige Duke – er leidet an Arthritis – ihm dringend von der Heirat abrät. Doch den Grund verrät er ihm erst auf heftiges Zureden hin, und dann auch nur mit Hilfe eines Briefes, den Charles den Eltern schicken muss, um die Antwort auf das Rätsel zu bekommen, das Blanches Innerstes umhüllt.

Dornröschen

Die Spannung steigt auf diese Weise ins Unermessliche, und Charles, wiewohl verliebt und vor Liebe blind, erscheint uns wie ein Ermittler in eigener Sache, der das Objekt seines Sehnens vollständig enträtseln will – gleichsam wieder Prinz im Märchen „Dornröschen2, der es sich in den Kopf gesetzt hat, das Dickicht der Lügenranken zu lichten und die Prinzessin aus ihrem Zauberschlaf zu erwecken.

Dieser aufwändige Prozess ist wie eine geistige Entjungferung. Die körperliche Defloration kann eigentlich nicht ausbleiben und müsste spätestens in der Hochzeitsnacht erfolgen. Doch die entscheidende Begegnung zwischen Charles und Blanche, der weißen und zahmen Frau, und der verbotenen Farbe bringt die schreckliche Wahrheit ans Licht: In der Prinzessin verbirgt sich eine ganz andere Frau…

SPOILER

Nein, dies ist keine weitere Vampirgeschichte, wie wir sie schon Dutzende Male gelesen und gehört haben. Blanche will weitaus mehr als Charles‘ Blut und ist auch selbst weder untot noch unsterblich. Dennoch ist sie als Bewohnerin eines völlig in Weiß getauchten Gefängnisses von einer entrückten Natur, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, etwas Spirituellem. Das wäre im Mittelalter sicher noch der Fall gewesen.

Charles nimmt an, es mit einer schönen Prinzessin von edler Abkunft zu tun zu haben, doch die Wahrheit könnte nicht weiter entfernt sein. Denn mittlerweile schreibt man das 19. Jahrhundert, und Autorinnen wie Mary Fortune kennen die Entdeckungen der Wissenschaft, so etwa die Kopernikanische Wende 1493, die Evolutionstheorie Charles Darwins (1859) und die Religionskritik Ludwig Feuerbachs (1841) und Karl Marx‘ (1844), die Nietzsches Satz „Gott ist tot“ erst möglich machte.

Ultimatives Tabu

Deshalb wandte sie die deutschen Märchen von „Schneeweißchen und Rosenrot“ und „Dornröschen“ in eine tiefenpsychologisch motivierte Gruselgeschichte. Allerdings ohne dabei ihre bürgerlichen Leser/innen in Australien vor den Kopf zu stoßen, indem sie die Tatsachen beim Namen nannte. Hier kommt kein Geschlechtsakt vor, sondern ein Akt von weitaus größerer – wie es damals schien – Grausamkeit: Kannibalismus. Das ist das ultimative Tabu.

Doch wie es dazu kam, dass Blanche diese „Krankheit“ befiel, verrät uns die Autorin nicht. Nur die Erwähnung, dass Blanche eine solche Tat bereits mit 18 Jahren beging, könnte darauf hinweisen, dass die Krankheit mit ihrer Regelblutung zusammenhängt – damals bluteten die Mädchen wesentlich später als heute, wo die erste Menses manchmal schon mit zehn Jahren auftritt. Welche Farbe die „verbotene“ ist, kann man sich deshalb an drei Fingern ausrechnen.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Charles Elfston ist trotz seines mehrdeutigen Namens als ein intelligenter, einfühlsamer und sehr neugieriger Bursche zu erkennen. Johannes Raspe spricht ihn als sympathischen jungen Kerl, der sich zudem Hals über Kopf verliebt. Dennoch verdirbt nicht leidenschaftliches Gefasel den Eindruck von Integrität und Autorität, den Charles vermittlen soll.

Doch wer von seinen Klienten ist wirklich wahnsinnig? Ist es der alte Duke, ausgezeichnet dargestellt von Niels Clausnitzer, der den besorgten und zudem empörten Vormund gibt? Oder ist es die berückend schöne Blanche, anmutig dargestellt von Stephanie Kellner, die nichtsdestotrotz eine zweite Natur offenbart: als reißendes Tier.

Alle anderen Figuren sind lediglich Beiwerk, aber die älteren Herren Tanning und Matt werden von Mogens von Gadow respektive Wolfgang Welter als vertrauenswürdige Herrschaften dargestellt, deren Informationen die Hauptfigur Charles durchaus Glauben schenken kann.

Akustisch interessant ist die Überblendung, die erfolgt, als die Briefe gelesen werden, einmal der AN Blanches Familie, einmal der VON ihr. So kommt es, dass wir Blanches Vater sprechen hören, den Prinzen.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in fast allen Szenen ungewöhnlich dicht und realistisch aufgebaut. DRAUSSEN sind in Kensington die Geräusche und Laute eines Dorfes zu hören: Hundegebell, Schafe meckern, tauben gurren, Krähen krächzen, Kirchenglocken schlagen. Und das Pferd von Charles erhält in akustischer Hinsicht ganz besondere Aufmerksamkeit: Es schnaubt, wiehert und klappert mit den Hufen genau wie ein echtes Pferd.

DRINNEN sind die Geräusche einem Standard unterworfen, der sich in den Gruselkabinett-Hörspielen aus viktorianischer Zeit immer wieder zeigt: Es tickt eine Uhr, gleich welcher Bauart, und im allgegenwärtigen Kamin knistert ein munteres Feuerchen – die Leute hatten eben noch keine Zentralheizung. Stets pfeift der Wind durch die schlecht abgedichteten Fenster- und Türritzen. In der Kneipe plätschert der Wein, und man kann sogar Charles trinken hören. Türen quietschen, weil sie schlecht geölt sind, und Münzen klimpern, wenn Charles zahlt.

Aus dieser DRINNEN und DRAUSSEN wohlgeordneten Welt bricht sowohl das weiße Haus in optischer Hinsicht als auch das Tiergebrüll aus, das Blanche in ihrem Anfall von sich gibt. Um diese surreal anmutenden Elemente – ich fühlte mich an „Alice im Wunderland“ erinnert – glaubwürdig wirken zu lassen, muss ihre Umgebung so realistisch wie möglich gestaltet sein. Das ist glücklicherweise der Fall.

Musik

Die Musik entspricht der eines Scores für einen klassischen Spielfilm, also nicht zwangsläufig für einen Horrorstreifen. Am Anfang gibt es überhaupt keine Musik, sondern nur Geräusche (s. o.), die allerdings ausgefeilt sind. Hanz allmählich nähert sich der Hörer mit Charles dem Mysterium des weißen Hauses. Dieses Mysterium ist allerdings selbst bei seinem bloßen Anblick mit einem unheimlichen Akkord belegt und mit gleichfalls unheimlichen, tiefen Geräuschen verknüpft.

Mit diesen vorausverweisenden Unheilsklängen kontrastiert das heitere Spiel von Harfe und Piano aufs Heftigste: Sie signalisieren das Liebesglück, in das sich Charles durch Blanche versetzt sieht. Klar, dass der Himmel für ihn auch voller Geigen hängt.

Dieser Kontrast aus These und Antithese kracht im Finale zusammen: in einer dissonanten Hintergrundmusik, die stürmische Emotionen, ein hereinbrechendes Unglück und maximale Unordnung signalisiert. Das dissonante Crescendo ist so toll gestaltet, dass es im Epilog nochmals wiederholt wird. Ob ein Schuss fällt? Das sei hier nicht verraten.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet sowie Werbung für den Illustrator Firuz Askin zu finden. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf. Die innere Doppelseite listet sämtliche Titel von Titania Medien auf, und zwar auch alle Neuerscheinungen bis Herbst 2013.

Hinweise auf die nächsten Hörspiele:

Nr. 74: E. Nesbit: Die Macht der Dunkelheit (04/12)
Nr. 75: Mary Fortune: Weiß (04/12)
Nr. 76: Bram Stoker: Das Teufelsloch (05/12)
Nr. 77: R. E. Howard: Das Feuer von Asshurbanipal (05/12)

Herbst 2013:

Nr. 78: Lovecraft: Das Ding auf der Schwelle
Nr. 79: Lodoiska (nach Levent und Mayr)
Nr. 80+81: Lewis: Der Mönch 1+2
Nr. 82: Der Zombie
Nr. 83: Heimgesucht

Die Titelillustration führt den Hörer ein wenig in die Irre: Nicht Blanche hat Angst vor dem Besucher. Vielmehr sollte sich der Besucher – im Spiegel zu sehen – vor ihr in Acht nehmen!

Unterm Strich

Mir hat das Hörspiel ausnehmend gut gefallen, nicht nur wegen der sorgfältigen Produktion, sondern auch wegen der enorm spannenden Geschichte, die obendrein eine romantische Stimmung aufbaut. Für Hörer, die psychologisch beschlagen sind, bildet die Geschichte einen Fundus von Rätseln, Symbolen und Phänomenen, die es zu entschlüsseln gilt. Das blendend weiße Haus ist quasi die äußerste Schale, die den Kern namens Blanche d’Alberville umgibt. Doch das, was für ihren Vormund ihr zum Schutze dient, ist für sie in Wahrheit ein Gefängnis. Auch die Frage, wer denn nun hier wahnsinnig sei, wird je nach Standpunkt und Blickwinkel anders beantwortet.

Schon bald mutete mich die Geschichte wie eine Episode aus „Alice im Wunderland“ an, wo in einem verwunschenen Königreich im Innersten eine weiße Königin und eine Rote Königin herrschen – mit dem Unterschied, dass nicht die Weiße, sondern die Rote Königin die vertriebene und verborgene ist. Wehe dem, der sie weckt!

In jedem Fall wird die Doppelnatur der Frau anhand der Figur der Blanche beispielhaft demonstriert: Alles in Deckung, wenn die Prinzessin zum Tier wird. Dann wird aus dem Inbild der Unschuld, die durch die Weiße ihres Hauses anschaulich sichtbar gemacht ist, durch einen Schlüsselreiz – eine bestimmte Farbe – das genaue Gegenteil.

Doppelnatur

Man kann in dieser Umkehr bzw. Erweiterung des bei den Viktorianern akzeptierten Frauenbildes einen emanzipatorischen Vorstoß erblicken: Eine Frau sei demnach mehr als nur Mädchen, Mutter und Matrone, fertig. Nein, sie habe eine verborgene Natur, die aus sexueller Leidenschaft besteht und die eine sehr tiefe Befriedigung sucht – vorzugsweise im Verschlingen eines Mannes.

Mittlerweile ist diese Natur anerkannt und bereits wieder als Ware ausgebeutet worden, etwa in Pornofilmen und Büchern wie „Shades of Grey“. Das Pendel der kulturellen Entwicklung schlägt mittlerweile wieder zurück: Nun ist wieder das viktorianische Heimchen am Herd gefragt. Höchste Zeit also, wieder weiße Häuser aus reinem Marmor zu bauen.

Das Hörbuch

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Besonders gut gefiel mir die sehr sorgfältig ausgearbeitete Geräuschkulisse, die so realistisch wie möglich ist, um das surreale Geschehen im weißen Haus auszugleichen.

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 3,00 von 5)

Spielzeit: 66 Minuten
Originaltitel: The White Maniac: A Doctor’s Tale, veröff. in „Australian Ghost Stories“ (2010)

http://www.titania-medien.de