Das alte London war seit jeher Schauplatz von Legenden und hat ein ganz eigenes Flair. Der deutsche Autor Christoph Marzi lässt den viktorianischen Charme der Metropole in seinem Roman „Lycidas“ neu aufleben. Dabei bedient er sich freizügig bei berühmten literarischen Vorbildern: Charles Dickens‘ Waisenhaus, John Miltons Elegie „Lycidas“ sowie Neil Gaimans Idee eines „Unter-London“, einer Stadt unter der Stadt, greift er auf. Auch Rabbi Löws Golem und Jack the Ripper geben sich die Ehre … und damit sind die Querverweise auf literarisch Werke, geschichtliche Ereignisse und bekannte Autoren bei weitem nicht erschöpft.
Heldin der Geschichte ist die einäugige Emily Laing, die in dem Waisenhaus des bösartigen Reverend Dombey aufwächst. Dort spricht sie eines Tages eine Ratte an, die sich als Lord Hironymus Brewster vorstellt. Er bittet sie, auf die kleine Mara aufzupassen. Diese wird kurze Zeit später von einem Werwolf entführt, Emily selbst bekommt Ärger mit Dombey und läuft weg. Sie wird von dem etwas verdrießlichen Wittgenstein, einem Gentleman alter Schule, und seinem Freund Maurice Micklewhite aufgenommen.
Diese offenbaren ihr ungeahnte Geheimnisse über ihre Herkunft und die Welt, in der sie lebt, über Elfen und deren Wechselbälger sowie über die uralten Familien Manderley und Mushroom. So existiert unter London eine nahezu exakte Kopie der Oberstadt, in der Fabelwesen und alte Götter sich ein Stelldichein geben. Im Tower der Unterstadt residiert der mysteriöse Meister Lycidas, in dessen Auftrag zahlreiche Kinder in die Unterwelt verschleppt werden.
Dies ist nur der Auftakt eines der drei Bücher, in die „Lycidas“ (das zweite heißt „Lilith“, das dritte „Licht“) unterteilt ist. Eine gewisse Kenntnis der literarischen Vorbilder ist zwar nicht notwendig, schadet jedoch nicht. So bestimmt John Miltons Version der Schöpfungsgeschichte große Teile der Handlung; wer sie kennt, kann erahnen, wer sich hinter dem Namen „Lycidas“ verbirgt. Die große Stärke des Buches sind zweifellos das stimmungsvolle Ambiente und seine trotz zahlloser Referenzen eigenständige Storyline. Die Charaktere sind durchweg tiefgründig; kein Bösewicht ist nur böse, alle haben gute Gründe und Motive, oft entpuppen sich die vermeintlichen Schurken als menschlicher und warmherziger als einige Engel wie Uriel – ja, auch Engel hat es nach London verschlagen …
Das Buch sprüht vor Ideenreichtum und Phantasie; ein weiterer Pluspunkt ist der dem altmodischen Ambiente entsprechende Humor der Figuren. So ist besonders Wittgensteins trockene Art sehr stilvoll und amüsant, seine Lieblingsredewendung „Fragen Sie nicht!“, meist als Antwort auf Emilys bohrende Fragen, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert und kann auf Dauer auch etwas ermüden.
Einige Schwächen lassen sich einfach nicht leugnen. So hat das Buch einen deutlichen Hänger und Spannungsabfall in der Mitte, denn der namensgebende „Lycidas“ wird bereits am Ende des ersten Buchs ausgeschaltet, um erst im späteren Handlungsverlauf wieder herausgekramt zu werden. Die folgenden zwei Bücher wurden von Marzi erst auf Bitte des Verlags geschrieben, er wollte ursprünglich erst einmal nur den ersten Teil veröffentlichen, und sie sind deutlich weniger spannend als dieser. So tritt an die Stelle einer ständig neue Elemente einführenden, flotten Handlung eine lange Zeit relativ ziellose und träge, viel zu oft wiederholt dasselbe reflektierende Erzählung. Dafür bieten diese beiden Bücher philosophische Überlegungen, die vermeintliche Engel in einem schlechten und die Übeltäter des ersten Buchs in einem sehr positiven Licht erscheinen lassen. Die Erzählperspektive ist sicher auch nicht jedermanns Geschmack: Weitgehend ist Wittgenstein der Erzähler. Jedoch werden oft Orte und Personen gewechselt, der Wechsel von Wittgenstein auf einen neutralen Erzähler und wieder zurück ist des Öfteren abrupt und verwirrend. Desweiteren verwirrt der zeitliche Aspekt: So spielt die Geschichte im modernen London, es gibt McDonald’s und sonstige Aushängeschilder unserer Zeit. Doch merkwürdigerweise sind nicht nur das Waisenhaus in Rotherhithe, sondern auch Personen wie Wittgenstein und Micklewhite komplette Anachronismen. Die Unterstadt selbst befindet sich wohl seit Ewigkeiten in einem Zustand kurz vor der industriellen Revolution. Man fragt sich, warum Marzi die aufgesetzt wirkende und selten gebrauchte Neuzeit nicht ganz gestrichen hat und stattdessen die Geschichte vollständig in dieses Zeitalter verlegt hat.
Fazit: Neue Ideen braucht das Land. Was Marzi aus alten Klassikern macht, ist wirklich bemerkenswert. Man mag sagen, er habe alles nur geklaut – aber wer es schafft, Charles Dickens‘ Waisenkinder mit der Geschichte um Jack the Ripper zu verbinden, ohne dabei ins Absurde abzugleiten, sondern vielmehr zu begeistern, der muss sich nicht verstecken. Man merkt Marzi noch eine gewisse Unerfahrenheit an, schließlich ist „Lycidas“ sein erster größerer Roman. Die Wege die er beschreitet, sind frisch und unverbraucht, so dass man über einige Haken und Ösen hinwegsehen kann. Für Winter 2005 ist bereits ein Folgeband mit den Arbeitstitel „Pequod“ geplant, die Reihe ist laut Marzi eine Trilogie. Man darf gespannt sein, ob Marzi auf Walfang geht und sich zu China Miéville ([Perdido Street Station)]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=695 nun auch noch Herman Melville gesellt … nur eines verrät der Autor: Das verschlagene Kopfgeldjägerduo Mr. Fox und Mr. Wolf wird wieder mit von der Partie sein.
Eine Leseempfehlung nicht nur für Fantasyfreunde – „Lycidas“ hat Stil, Charme und Niveau.
Homepage des Autors:
http://www.christophmarzi.de/