Worte sind Waffen: brillanter Action-Satire-Thriller
Wil Parke ist ein einfacher Zimmermann. Oder zumindest glaubt er das. Bis er auf einer Flughafentoilette in Portland von zwei Männern angegriffen wird. Sie behaupten, er sei der Schlüssel in einem geheimen Krieg, ein »Ausreißer«, immun gegen die Kraft der Worte. Sie zwingen ihn mitzukommen in die Geisterstadt Broken Hill, deren gesamte Bevölkerung bei einem Chemieunfall vor zwei Jahren ausgelöscht wurde. Dort soll ein mächtiges Artefakt verborgen liegen, das den Krieg ein für alle Mal beenden könnte. Doch der Feind ist ihnen bereits auf den Fersen … (Verlagsinfo)
Der Autor
Max Barry, 1973 geboren, war Computerverkäufer für Hewlett-Packard, bevor er sich dem Schreiben widmete. Sein Debütroman „Syrup“, der hierzulande unter dem Titel „Fukk“ veröffentlicht wurde, wurde laut Verlag ein Bestseller. Für „Logoland“ haben sich demnach bereits Steven Soderbergh und George Clooney („Solaris“) die Rechte gesichert.
Zu „Logoland“ gibt es ein begleitendes Internetspiel des Autors, das man unter der Adresse www.nationstates.net findet. Jeder Spiel könne seinen eigenen Staat mit seinen eigenen politischen Idealen kreieren, heißt es in den Buchinfos. Nationstates.net taucht auch in „Lexicon“ wieder auf. Mehr Info: www.heyne-hardcore.de.
Wichtige Werke:
1) Logoland
2) Maschinen Mann
3) Lexicon
Handlung
Wil Parke wird im WC des Flughafens von Portland, Oregon, von zwei Männern überfallen und betäubt. Sie scheinen irgendetwas zu suchen, was er anscheinend haben soll, irgendwas Einzigartiges. Sie nennen ihn „Ausreißer“, als er wieder aufwacht. Seine Beine sind so wackelig, dass sie ihn mühelos zu ihrem Transporter geleiten können. Ständig schauen sie sich nach allen Seiten, als sie verfolgt würden oder einen Angriff gewärtigen würden.
Dabei ist er doch bloß ein harmloser Zimmermann, der nur seine Ruhe haben will – und Cecilia, seine Freundin, die ihm bestimmt die Hölle heiß macht, wenn er zu spät kommt. Da fährt Cecilia auch schon in einem schicken Wagen vor, direkt auf seine zwei Entführer zu. Sie ruft etwas Undefinierbares, wird aber sofort unter Feuer genommen. Diese Typen fackeln nicht lange.
Cecilias Tod bringt Wil leicht aus der Fassung. Aber schon taucht die nächste Gefahr auf, gerade als sie den Flughaften über das Frachtterminal verlassen wollen. Der Kleinere der beiden steigt aus und geht auf die Frau zu. Auch die ruft unverständliche Worte, die für Wil keinen Sinn ergeben, bis auf den letzten Befehl, den der Kleine ohne zu zögern ausführt: Er schießt sich selbst in den Kopf. Allmählich Wil diese Gewaltkiste zuviel, aber er ist von der Droge zu schwach, um einfach abzuhauen. Der Größere seiner Entführer schießt die Frau mit einer Schrotflinte über den Haufen. Zweimal. Schöne Schweinerei.
Ein Besuch auf einer Ranch verläuft nicht weniger blutig. Eigentlich wollte sein Entführer hier Gleichgesinnte und Unterstützer treffen, doch das Gegenteil ist der Fall. Mit knapper Not entkommen sie der Gefahr. Auf der Weiterfahrt besteht Wil darauf herauszufinden, was eigentlich los ist. Und wieso er dauernd „der Ausreißer“ genannt werde. Der andere nennt sich Eliot und erklärt, Wil sei nur in statistischer Hinsicht ein Ausreißer: Er lasse sich nicht durch Worte beeinflussen. Deshalb bilde er für die „Organisation“, zu der er, Eliot, einst gehörte, eine große Gefahr. Und jemand sei hinter ihm her, eine gewisse Virginia Woolf.
Ach so, bloß eine tote Dichterin. Na, wenn’s weiter nichts ist. Und wo soll’s jetzt hingehen, hä? Nach Australien. Dorthin, wo alles begann, nach Broken Hill…
Emily Ruff
Emily Ruff ist erst 16, lebt aber schon ein paar Jahre auf der Straße. Bloß weg von ihrer dämlichen, ständig nörgelnden Mami! Am Pier von London sagt sie den Leuten die Zukunft voraus, legt Karten und führt Kartentricks vor. Sie hat Erfolg und liefert ihrem „Beschützer“ Benny ordentlich Kies ab. Doch dann gerät sie an einen geschniegelten Typen, der unverständliches Zeug redet, als sie ihren Trick vorführt. Fortan verliert sie ständig. Benny ist stinksauer.
Aus Angst vor Bennys Schlägen macht sich Emily auf die Socken in die Innenstadt. Da sieht sie doch tatsächlich diesen geschniegelten Typen wieder vor dem McDonalds, in den sie gehen wollte. Klar, dass er ihr noch was schuldet. Sie kriegt jede Menge zu mampfen, null problemo, aber ihre Versuche, ihn zu beeinflussen, versagen und machen Emily nur noch interessanter.
Am nächsten Tag kommt die Frau, die ihn gestern begleitete. Sie nennt sich Charlotte Bronte. Klingt echt schräg. Warum sich jemand nach eine toten Dichterin nennen? Jedenfalls soll Emily irgend so einen blöden Test bestehen und so viele Leute wie möglich beeinflussen. Sie darf sich dabei aber nie wiederholen und diese Straßenecke nie verlassen. Bei Methode 22 gibt Charlotte auf. Emily dürfe am Programm der „Akademie“ teilnehmen.
Nach einem Erste-Klasse-Flug fällt Emily aus dem Flieger und direkt in die fürsorglichen Arme der „Organisation“, die sie in ihre „Akademie“ steckt. Hier sieht sie Lee, ihren Entdecker, ebenso wieder wie Charlotte, die die Akademie zu leiten scheint. Momentchen mal, da gibt es einen attraktiven Mitarbeiter namens Eliot, der Charlotte dauernd widerspricht. So etwa, als Emily die Aufnahmeprüfung vermasselt und sie vor dem Abhauen bewahrt. Dieser Eliot ist klasse. Aber über ihm steht ein noch älterer Kerl, einer mit leeren Haiaugen. Der nennt sich Yeats.
Lauter Dichternamen, merkt Emily. Das liege daran, dass die Absolventen der Akademie den Titel „Dichter“ erwürben und folglich das Recht hätten, solch einen edlen Namen zu tragen. Emily würde gerne nach Emily Dickinson genannt werden. Sie findet die Idee faszinierend, jemanden nur mit Worten zu beeinflussen – so wie sie es schon in London getan hat. Aber es bleibt nicht bei der Faszination; sie muss diese Kunst zu einer Wissenschaft machen. Ihr Studium dauert Jahre, und sie wird 20, als das Ende in Sicht kommt.
Nur die Mitschüler sind absolut tabu für Beeinflussungsversuche – und natürlich Sex mit ihnen. Das wurmt Emily mächtig. Sie sehnt sich nach Berührung, Zärtlichkeit, Vertraulichkeiten. Als sie Jeremy kennenlernt, wird ihr Gehorsam auf eine schwere Probe gestellt. Er ist im letzten Semester und ständig am Büffeln. Trotzdem kriegt sie ihn rum, denn sie hat sein psychologisches Bevölkerungssegment herausbekommen. Der Sex ist großartig, aber dann will er nichts mehr von ihr wissen. Hat wohl Angst vor den Lehrern, wie? Oder vor den geheimen Wörtern, die die Schüler ausgehändigt bekommen haben?
Am letzten Tag vor Jeremys Prüfung kommt es zu einem folgenschweren Unglück…
Broken Hill
Der Ort, wo jahrzehntelang eine Mine ausgebeutet worden war, zählte zuletzt 3000 Einwohner. Die lebten alle hier am Arsch der Welt, mitten in Australiens Outback, wo er am trockensten ist. Nun ist der Ort ein streng bewachtes Sperrgebiet, das von einem hohen Zaun umgeben ist. Angeblich soll hier ein Chemieunfall stattgefunden haben, erzählt Eliot, aber das stimmt nicht. Keine der Expeditionen in das Gebiet ist je zurückgekommen, trotz bester Schutzanzüge und sämtlicher Sicherheitsvorkehrungen. Dabei ist hier kein Tschernobyl oder so was.
Will findet das auch merkwürdig. Aber was soll er hier mit Eliot? Sie kutschieren mit einem altersschwachen Gebrauchtwagen durch die absolut leere Wüste, nur um dann mitten im verbotensten Nirgendwo zu landen, das man sich vorstellen kann? Irgendetwas an dieser Rechnung, die Eliot aufmacht, stimmt ganz und gar nicht.
Als der erste Streifenwagen auftaucht, gelingt es Eliot, ihn elegant zu umkurven. Doch dann tauchen zwei weitere auf, und die wollen ihren Wagen in die Zange nehmen. „Schieß auf sie!“ ruft Eliot Will zu. „Ich hab noch nie jemand getötet!“ protestiert Will. Doch als die Cops anfangen, ihren Wagen zu rammen, um ihn von der Straße zu drängen, bekommt er Angst und feuert mit Eliots Schrotflinte. Das hält die Cops auf Abstand.
Doch dann kommt auch noch ein Hubschrauber. „Verdammt!“ ruft Eliot. „Das ist bestimmt Virginia Woolf!“ Er drückt auf die Tube und durchbricht den Absperrzaun, um zum Krankenhaus zu rasen. Doch etwas stimmt nicht mit der Straße. Sie holpern ständig über Hindernisse. Als Will genauer hinschaut, erkennt er auch, um was es sich handelt: Knochenbündel in Lumpen. Das waren einmal Menschen! Ihm dreht ganz der Magen um.
Endlich hält Eliot an. Er ist fix und fertig. Die Cops warten vor dem Sperrzaun auf Verstärkung. Eliot erzählt Will, was hier passiert ist. Vor dem Krankenhaus liegen die Leichen geradezu bergeweise. Also nicht wegen einem Chemieunfall und nicht wegen Radioaktivität. Wegen was dann, will Wil wissen. Eliot sagt es ihm: „Wegen einem tödlichen Wort, einem Blankwort… Und du holst es. Du bist der einzige, der ihm widerstehen kann. Du hast es schon einmal geschafft, Harry Wilson…“
Mein Eindruck
Worte sind Waffen, und bestimmte Worte bewirken bestimmte Dinge. Zu dieser Einsicht ist nicht mal längeres Kopfzerbrechen nötig. Jedes Wort, das ausgesprochen wird, ist mit einem Sprechakt verbunden, wie jeder Student der Sprachwissenschaft (Linguistik) lernt. Dieser Sprechakt kann vielerlei sein: ein Versprechen, ein Gebet, eine Bitte, ein Fluch, ein Schwur/Eid, ja sogar eine Segnung bei einer Trauung.
Das sind die harmlosen Worte. Aber es gibt auch weniger harmlose. Das sind die geheimen Worte, die Emily in der „Akademie“ der „Organisation“ erlernt oder zugeteilt bekommt. Sie stiehlt auch welche von den anderen Studenten, eben weil sie nun mal Emily ist. Sie lernt, dass ein wirksames Wort zu seinem Empfänger passen muss.
Dieser Empfänger ist einer von 228 Bevölkerungssegmenten, die von der Wissenschaft der Vermarktungspsychologie gefunden und eingeteilt worden sind. Die Kunst des Sprechers liegt also darin, so schnell wie möglich herauszubekommen, zu welchem der 228 Segmente sein potentielles Opfer gehört, bevor er das magische Wort zu ihm sagt. Fortwährend sind die Figuren am Kalkulieren der Segmente.
Wenn nun also jemand wie Harry Wilson alias Will Parke auftaucht, der gegen alle Worte immun ist, dann kommt das der Erfindung des Kryptonits gleich. „Superman“ Yeats muss herausfinden, was Harry so andersartig ticken lässt. Mit einem genialen Manöver, das selbst der aufmerksamste Leser erst gegen Ende des Romans durchschaut, schickt er Emily Ruff alias Virginia Woolf aus, um dieses „Kryptonit“ auf die Probe zu stellen. Dazu hat er ihr die stärkste Waffe in die Waffe fallen lassen, die ihm zur Verfügung steht: das Blankwort.
Das Blankwort ist eine in eine Steinform eingefügte, uralte Glyphe, wie es scheint, die zu lesen bereits bedeutet, dass sich alle Sprachfilter und Barrieren im Gehirn des Betrachters auflösen. Nun ist nur noch ein Befehl nötig, um diese Allmacht loszulassen und die Wirkung zu messen. Das Ergebnis ist die Katastrophe von Broken Hill.
Die Skrupellosigkeit des Organisationsdirektors, der sich nach dem irischen Dichter William Butler Yeats benannt hat, ist allerdings ein Schuss ins Knie. Denn er hat eines nicht bedacht: die Immunität Harry Wilsons und dass er Emily Ruff schon seit Jahren liebt. Und sie ihn. Die Strafe lässt nicht lange auf sich warten, doch in ganz anderer Gestalt, als er es sich hätte je träumen lassen.
Die Übersetzung
Die Zahl der Druckfehler hält sich erfreulicherweise sehr in Grenzen.
S. 158: „Flache, hässlich[e] Häuser.“ Das E fehlt.
S. 160: „Satelittenbildern“ sollte korrekt „Satellitenbildern“ heißen.
S. 346: „Limousine, die sich sich durch ihre niedrige Form…“ Einmal „sich“ reicht völlig.
S. 347: „Sie folg[t]e Neiland…“ Das T fehlt.
S. 436: „Eine unbehaglich[e] Vorstellung…“ Das E fehlt.
Unterm Strich
Wie schon das fabelhafte „Logoland“ sprüht „Lexicon“ nur so vor brillanten Einfällen. Die Linguistik hat sich hier endlich mit der Vermarktungspsychologie und Soziologie zum einen Teufelspakt vereint, um jeden Menschen, der sich ihrer nicht bewusst ist (und wer ist das schon), unter ihren zwingenden Einfluss zu bringen. Nein, hier handelt es sich nicht um unterschwellige Botschaften, die von Mikrosekundenbildern ins Unterbewusstsein übermittelt werden. Hier geht es um künstliche Worte, die wie Lenkwaffen ins Ziel gesteuert werden. Und das Ziel ist das Bewusstsein des Konsumenten.
Weltherrschaft
Ist also wieder mal die Weltherrschaft das Ziel einer anonymen Organisation? Fehlt eigentlich nur noch Blofeld mit der Katze auf dem Arm. Doch die Repräsentanten der anderen Erdteile und Zweige der Organisation könnten genauso gut von Regierungen geschickt worden sein, die ihre Bevölkerung besser unter Kontrolle halten wollen. Mit der richtigen Kampagne könnten sie ihre Untertanen dazu bringen, bis zum Umfallen zu schuften – oder einen Krieg gegen den fiesen Nachbarn anzufangen. Vorstufen dieser Psychotechnik sind bereits bei den Videos der Dschihadisten im Nahen und Mittleren Osten zu beobachten. Dort sprechen Bilder von enthaupteten Westlern ebenso deutlich wie die Hetztiraden von Hasspredigern.
Wer ist James Bond?
Von einem James Bond findet sich im vorliegenden Roman allerdings nicht der Hauch einer Spur. Emily Ruff alias Virginia Woolf ist schon ziemlich fit, aber sie hat eine Achillesferse, und die heißt Harry Wilson. Im Unterschied zu allen anderen „Dichtern“ unterdrückt sie nicht ihre Gefühle und Begierden, sondern lebt sie aus. Dazu gehört nun mal die Liebe zu Harry, dem Ambulanzfahrer von Broken Hill. Und Liebe ändert alles, denn sie verlangt, die Bedürfnisse des anderen über die eigenen zu stellen, was genau das Gegenteil dessen ist, was die „Organisation“ anstrebt. Aber kann sie es mit einem eiskalten Typen wie Yeats aufnehmen?
Erzählstruktur
Die Erzählstruktur des Romans ist dermaßen raffiniert, dass sie schon das halbe Vergnügen ausmacht, ihn überhaupt zu lesen und zu verstehen. Der Aufbau, denn ich in meinem Handlungsabriss geflissentlich ignoriert habe, erzeugt lauter Rätsel, die eine Spannung generieren, die mich das Buch in nur wenigen Tagen verschlingen ließ. Und selbst am Schluss warten noch etliche Überraschungen und Wendungen. Der Leser ist gefordert, die teile des Romans in die richtige Reihenfolge zu bringen, damit sie nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip einen Sinn ergeben. „Lexicon“ ist also ein Fall für geistige Nussknacker.
Der Titel
Der Titel selbst ist schon ein logisches Rätsel. Es erschließt sich vor allem dem Englischkenner. Wer weiß, was ein „Con Man“ ist, ist im Vorteil, denn er hält bereits die zweite Silbe des Titels in Händen. Ein solcher „confidence man“ (über den auch ein gewisser Mark Twain mal einen Roman schrieb) ist ein Betrüger, denn er missbraucht das Vertrauen (confidence) seiner Mitmenschen. Ein „con“ ist also ein betrug, der auf Täuschung und Manipulation beruht. Nimmt man noch die griechische Silbe „lexi“ hinzu, so erhält man „Betrug mit Worten“.
Das Titelbild unterstützt die Prämisse dieses Wort-Betrugs. Wer sich die Mühe macht, ganz genau hinzuschauen, entdeckt zwischen den Buchstaben des Titelworts die Frage: „WHY DID YOU DO IT?“ Dies ist Frage Nr. 4, die einem ein „Dichter“ stellen wird. Nehmt euch also in Acht. Dieses Buch könnte versuchen, euch zu manipulieren, ohne dass ihr es merkt!
Manko
Das einzige Manko, das ich mir bei diesem ideenreichen Roman vorstellen kann, ist der Umstand, dass die Herkunft des Blankworts uns nicht enthüllt wird. Es soll an die 800 Jahre alt sein, aber das war’s dann. Deshalb wünsche ich mir ein Prequel, das diese Lücke schließt. Die Druckfehler sind, wie gesagt, vernachlässigbar.
Taschenbuch: 464 Seiten
Originaltitel: Lexicon, 2014.
Aus dem Englischen von Friedrich Mader.
ISBN-13: 9783453269118
www.heyne.de
Der Autor vergibt: