Max Barry – Maschinenmann

Es beginnt mit einem Arbeitsunfall. Wissenschaftler Charlie Neumann verliert ein Bein. Eigentlich eine Tragödie, doch Neumann sieht darin eher eine Chance. Er erkennt, dass sein Körper verbesserungsfähig ist – durch eine hochkomplexe Prothese. Aber dabei bleibt es nicht. Bald ist das zweite Bein fällig. Dann eine Hand. Charlie ist auf dem besten Weg, sich in eine Maschine zu verwandeln. Doch wo liegt die Grenze? (Verlagsinfo)

Der Autor

Max Barry, 1973 geboren, war Computerverkäufer für Hewlett-Packard, bevor er sich dem Schreiben widmete. Sein Debütroman „Syrup“, der hierzulande unter dem Titel „Fukk“ veröffentlicht wurde, wurde laut Verlag ein Bestseller. Für „Logoland“ haben sich demnach bereits Steven Soderbergh und George Clooney („Solaris“) die Rechte gesichert.

Zu „Logoland“ gibt es ein begleitendes Internetspiel des Autors, das man unter der Adresse www.nationstates.net findet. Jeder Spieler könne seinen eigenen Staat mit seinen eigenen politischen Idealen kreieren, heißt es in den Buchinfos. Nationstates.net taucht auch in „Lexicon“ wieder auf. Mehr Info: www.heyne-hardcore.de.

Wichtige Werke:

1) Logoland
2) Maschinenmann
3) Lexicon

Handlung

Dr. Charlie Neumann ist Mitte 30, ledig und arbeitet als Ingenieur bei „Better Future“: Als Kind wollte er nicht Zugführer sein, er wollte selbst der Zug sein und fühlt sich wohler in Gesellschaft von komplexen Algorithmen als gewöhnlichen Mitmenschen – von Frauen ganz zu schweigen. Sein Labor ist ein Hochsicherheitstrakt.

Cassandra

Als Charlie durch Unachtsamkeit bei einem Unfall ein Bein verliert und dieses durch eine biomechanische Prothese ersetzt, die mehr kann als sein altes Gelenk, findet er Gefallen an der Vorstellung, seinen Körper weiter zu „verbessern“. Als er auch sein anderes Bein amputiert, gerät er allerdings in den Verdacht, selbstmordgefährdet zu sein. Einen Psychiater lässt Charlie abblitzen. Die Krisenmanagerin von Better Future, Cassandra Cautery, beginnt sich aber ebenfalls Sorgen um ihn zu machen und ihn im Auge zu behalten.

Lola

Ein Glück, dass sich die Prothesenexpertin Lola Shanks um ihn kümmert – sie entpuppt sich als Seelenverwandte und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Erst als er zu ihr eilt und dabei von vier Wachleuten seiner Firma verfolgt wird, enthüllt ihr scheinbarer „Tod“ ihre Besonderheit: Sie trägt ein Herz aus Metall. Natürlich bekommt sie von Better Future eines, das viel besser ist. Aber das ist nicht der Punkt. Fortan kann Charlie nicht mehr auf Lolas menschlichen Blickwinkel auf seine eigenen Experimente verzichten. Das zeitigt bald ungeahnte Folgen.

Schnittstelle

Charlies vier Teams von 100 Assistenten entwickelt erst „bessere Augen“, dann eine „bessere Haut“, schließlich „bessere Organe“. Aber erst Lolas Berührungen machen Charlie auf das grundlegende Defizit im Bereich der sensorischen Rückkopplung aufmerksam: Warum hat sich bislang kaum jemand gründlich darum gekümmert? Seine eigenen Schenkel stecken in Metallbeinen, doch die Schnittstelle schmerzt, juckt und verursacht Phantomschmerzen. Man sollte sich darum kümmern, findet er.

Zu einer ersten Krise zwischen ihm, Lola und seiner Firma (d.h. Cassandra Cautery) kommt es, als man ihm „seine“ künstlichen Arme wegnimmt, die für den Einsatz bereitlagen, und sie einem der Wachleute anmontiert. Selbst Lola ist überzeugt von dieser Maßnahme. Warum nur?! Nun beginnt es in Charlie zu brodeln. Eifersucht und Neid recken ihr hässliches Haupt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er die Firma verlässt – oder sie vernichtet beziehungsweise sie ihn…

Mein Eindruck

Nein, Charlie strebt nicht die Weltherrschaft an. Er ist anders als „Iron Man“, der „Terminator“ und alle anderen kybernetischen Organismen, die als Kyborgs abgekürzt werden. Charlie will bloß Lola. Doch das ist gar nicht so einfach, denn zu seinem Leidwesen muss Charlie entdecken, dass ein wesentlicher Teil von ihm gar nicht ihm selbst gehört – sondern seinem Arbeitgeber: alle seine Mechanik.

Natürlich ist sein Arbeitgeber, vertreten durch Cassandra, der letzte, der ihm diese nicht ganz unbedeutende Tatsache auf die Nase binden würde. Was wir schon früh ahnen, muss Cahrlie erst noch lernen. Das bedeutet, der Leser hat der Hauptfigur einiges an Weltwissen voraus, und das wiederum bleibt nicht ohne Wirkung: Charlie wirkt entweder lächerlich, naiv oder unbedarft.

Das liegt allerdings an seiner verzerrten, einseitigen Sicht der Welt – für soziale Interessen hat er ja herzlich wenig übrig. Folglich muss sich der Erzähler abmühen, seinen Helden halbwegs respektabel zu gestalten. Das gelingt nur zum Teil, aber wenigstens wird Charlie etwas liebenswürdig – vor allem in den Augen Lolas.

Zunehmend erscheint Charlie als das Schlachtfeld, auf dem der Krieg der Interessen stattfindet, die einerseits seine Firma durchsetzen will, andererseits Lola anmeldet. Kommerz oder Menschlichkeit, was solls denn sein, Dr. Neumann? Cassandra Cautery, die Ausputzerin des Konzerns, trägt einen sprechenden Namen. „Cautery“ ist ein Instrument für das Ausbrennen und Sterilisieren von Wunden. Auch Lolas Nachname spricht Bände. „Shanks“ bedeutet „Schenkel“.

Charlies Schenkel hingegen sind mechatronische Wunderwerke, die ihm übermenschliche Kräfte verleihen. Ist er ein Flugzeug, ein Zug, ein Riesen-Grashüpfer? Nein, er ist nicht „Superman“, sondern nur ein Ingenieur mit einem neuen menschlichen Drang: Lola für sich zu gewinnen und mit ihr abzuhauen. Dieses Unterfangen führt zu einem finalen Zweikampf, der filmreif ausgestaltet ist.

Schwächen

Wie der Autor in seinem Nachwort schreibt, postete er den ersten Teiltext dieser Geschichte am 18. März 2009. Vor allem, um seinen ungeduldigen LOGOLAND-Fans zu beweisen, dass er nicht bloß Däumchen drehte. So entstand ein interaktiver Fortsetzungstext, aus dem er schließlich einen zusammenhängenden Roman formen musste.

Diese Entstehungsgeschichte erklärt zum Teil, warum die Bestandteile des Ergebnisses so disparat wirken. Da findet man – v.a. am Anfang – hinreißende Dialogszenen, die von Ironie nur so triefen. Auch das Finale ist von der Titelfigur, die als Ich-Erzähler auftritt, anschaulich geschildert.

Leider muss der Leser davor und danach immer wieder lange Prosastrecken überwinden, in denen der Autor uns das Leben, das Denken und das Nichtlieben von Charlie Neumann erläutert. So bestehen etwa die Seiten 229/230 aus nur drei, sehr langen Absätzen. Zum Glück sind solche Bleiwüsten eher die Ausnahme.

Zudem: Wer nicht weiß, was ein „Bizeps“ ist und in welcher Gegend der sich im Körper herumtreibt, erhält vom Buch keinerlei Hilfe in Form eines Glossars. Da muss der Leser dann schon die Wikipedia bemühen. Gleiches gilt natürlich auch für Ingenieurwesen, Konstruktion und Elektronik.

Die Übersetzung

S. 11: „das Radio war ein hervorragende[s] Werbemedium…“ Das S fehlt.

S. 107: „Laborbedingu[n]gen“. Das N fehlt.

S. 156: „Das war eine[s] der sinnlichsten Erfahrungen meines Lebens.“ Das S ist überflüssig.

Auf dem Titelbild befindet sich ein Fehler in einer der Beschreibungen. Ganz unten links heißt es „Ineratialauspuffkrümmer“. Dass es kein Wort „ineratial“ gibt, wohl aber „inertial“ („Trägheits-„), dürfte hier das A überflüssig sein.

Unterm Strich

Max Barrys Metier ist die schwarze Komödie, die mit etwas Glück über den satirischen Biss verfügt, der nötig ist, um die vergifteten Pfeile der Kritik ins Ziel zu bringen. In LOGOLAND fanden praktisch alle Pfeile ihr Ziel, doch in „Maschinenmann“ geht doch einiges daneben und manche Pfeile sind einfach nur stumpf.

Wenigstens kann keiner Barry nachsagen, es mangele ihm an Konsequenz. Er führt die Entwicklung seines Anti-Helden bis zum bitteren Ende weiter. Was anfangs nur als nette Erweiterung der eigenen körperlichen Fähigkeiten ganz im Sinne der amerikanischen Alltagsphilosophie des „self-improvement“ begann, wächst sich erst ins Extrem aus, bevor es sich ins Gegenteil verkehrt: Diese Erweiterungen übernehmen das Kommando über den Restkörper. Sie sind eben keine Phantomglieder, die der amputierte Patient sich einbildet, sondern wirklich vorhanden und verfügen über ihr eigenes elektronisches Gedächtnis.

Niemand kann gegen „die Firma“ gewinnen, ganz egal, was John Grisham schreiben mag. Der „militärisch-industrielle Komplex“ (Eisenhower) ist viel zu mächtig, um so etwas zuzulassen, das den technischen Fortschritt behindern könnte. Und Charlies Arbeitgeber ist ein Rüstungskonzern, der für die „Better Future“, die seinen Namen bildet, buchstäblich über Leichen gehen würde. Na, danke für eine solche Zukunft!

Folglich muss Charlie letzten Endes auf seine künstlichen Erweiterungen verzichten – er ist quasi enteignet worden. Doch das ist nicht das Ende seines Leidenswegs: Wichtig ist im Grunde nur sein Hirn. Und auch darf nur in einem Hochsicherheitsbehälter existieren. Ganz wie es schon Stanislaw Lem in seinen satirischen „Sterntagebüchern“ vorhergesagt hat. Aber nun hat Lola ihren Charlie ganz für sich. Das ist die ultimative Ironie.

Die Kombination aus schwarzer Komödie, Thrilleransätzen und menschlichem Drama ist Barry in „Logoland“ und „Lexicon“ wesentlich besser gelungen. Aber das bedeutet nicht, dass man nicht auch mit dem „Maschinenmann“ seinen Spaß haben kann.

Broschiert: 352 Seiten
Originaltitel: Machine Man
ISBN-13: 978-3453267978

www.heyne.de

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