Ed McBain – Heißer Sonntagmorgen

Auf dem Weg zu einem Mord erlebt eine Jugendgang, wie ihr kriminelles Idol in eine Polizeifalle gerät; aus der Festnahme wird ein öffentliches Spektakel, das unterdrückten Volkszorn und tödliche Gegenattacken auslöst … – Das spannende Geschehen gleicht einer bedrückend reibungslos arbeitenden Maschine, die durch rassistische Vorurteile angetrieben wird und mit hoher Produktionsrate neue Gewalt erzeugt: ein manchmal didaktisch wirkender aber weiterhin eindrucksvoller Kriminalroman.

Das geschieht:

Über der Stadt Isola liegt im Sommermonat Juli eine Glocke aus Hitze und Dunst. In dieser Zeit sind die Polizeibeamten des 87. Reviers besonders auf der Hut. Das Klima lässt die ohnehin beeindruckende Kriminalitätsrate noch einmal steigen; Gewalttaten werden plötzlich und aus nichtigen Anlässen begangen.

Für zusätzliche Anspannung sorgt aktuell die Jagd auf Pepe Miranda. Der ehemalige Anführer einer Straßengang ist auf der Flucht und gerade erst fünf Polizisten entkommen, die er zu allem Überfluss entwaffnet hat. In jenem Stadtteil Isolas, das vor allem die Einwanderer aus Puerto Rico bewohnen, gilt Miranda als Rebell und Held, der sich gegen die rassistische Unterdrückung durch das ‚weiße‘ Establishment auflehnt.

Vor allem der 17-jährige Zip verehrt Miranda. Nach seinem Vorbild will er eine eigene Gang gründen. Bisher zählen die „Purple Jackets“ allerdings nur vier Mitglieder, die vor allem Zips Mitläufer sind. Egoistisch bis ins Mark, skrupellos und machtgierig plant Zip den ‚Aufstieg‘ zum gefürchteten Kriminellen durch Mord: Weil Alfredo Gomez angeblich seine Freundin China beleidigt hat, wollen Zip, Cooch, Sixto und Papá ihn umbringen.

Dass China ihren ‚Beschützer‘ höchstens vom Sehen kennt, spielt für Zip keine Rolle. Er will befehlen und herrschen. Doch während das Quartett sich auf den Weg zum Tatort macht, schnappt einige Straßen weiter die Falle um Pepe Miranda zu. Sein Schlupfwinkel wird von einem schwer bewaffneten Polizeiaufgebot umstellt. Rasch spricht sich die Neuigkeit im Viertel herum. Neugierig strömen die Bürger zusammen. Auch Zip und seine Begleiter schließen sich an.

Die Belagerung wird zum Volksfest, aber die Stimmung droht umzuschlagen. An diesem Sonntagmorgen wollen die Menschen jemanden sterben sehen. Es könnte Miranda sein, aber ein anderes Opfer wäre dem Mob ebenso recht …

Schmelztiegel oder Dampfkochtopf?

Kleine Ursache führt zu großer Wirkung, heißt ein Sprichwort, aber Ed McBain zeigt uns, dass die auslösende Ursache oft nur scheinbar geringfügig ist. Für seine mehr 50 Krimis um das 87. Polizeirevier, gelegen in der fiktiven US-Großstadt Isola, wählte er immer wieder Themen, die das Korsett des klassischen Cop-Thrillers und typischen Kriminalromans sprengten. Er stellte aktuelle politische und vor allem gesellschaftliche Probleme ins Handlungszentrum und verbannte die Männer des 87. Reviers, die doch nominell die Hauptfiguren der Serie waren, nicht selten in den Hintergrund.

Damit erinnert „Heißer Sonntagmorgen“ eher an Romane wie „The Blackboard Jungle“ (1954, „Saat der Gewalt“) oder „A Matter of Conviction“ (1959, „Harlem-Fieber“/“Recht für Rafael Morrez“), die McBain unter seinem ‚richtigen‘ Namen Evan Hunter veröffentlichte. Dieses Mal ist es das Thema Rassismus, das McBain aufgreift und in zahlreichen Facetten durchspielt. Obwohl er dabei nach heutigen Maßstäben didaktisch manchmal dick aufträgt, beeindruckt „Heißer Sonntagmorgen“ dennoch durch die klar herausgearbeiteten Strukturen der Unterdrückung, die an Geltung bis heute kaum verloren haben.

McBain richtet den Fokus auf einen Stadtteil Isolas, in dem sich vor allem Einwanderer von der Insel Puerto Rico angesiedelt haben. Diese liegt weit vom nordamerikanischen Kontinent entfernt in der Karibik, gehört aber seit 1898 zu den USA. Ihre Bewohner genießen seit 1917 volle Bürgerrechte. Viele Puertoricaner nutzten die Chance, der Armut ihrer zudem von politischen Krisen geschüttelten Insel den Rücken zu kehren, um in den USA den Neuanfang zu versuchen. Dort wurden sie von den ‚echten‘ Amerikanern mit Misstrauen empfangen, als Konkurrenten gefürchtet und als Menschen zweiter Klasse geschmäht; „Spics“ nannte man sie abschätzig, das Pendant zum Schimpfwort „Nigger“.

Sinnlos und brutal im Kreis

Die Puertoricaner besiedelten eigene Stadtviertel, blieben unter sich. Durch diese kulturelle und auch sprachliche Isolation wurde die Integration zusätzlich behindert. Den ersten Einwanderern folgte eine Generation, die in den USA geboren wurde, sich als Amerikaner fühlte, von den ‚echten‘ Amerikanern aber nicht als solche anerkannt wurde. Im Gegensatz zu ihren Vätern und Müttern wollten diese Jugendlichen sich nicht an den Rand drängen lassen. Der Ausgrenzung setzten sie Furcht und Gewalt entgegen. Sie bildeten Straßenbanden und fühlten sich endlich stark. Der Schritt in die Kriminalität war dann nicht mehr weit, die Ausgrenzung erreichte eine neue Ebene.

McBain beschreibt das bewusste Viertel Isolas als Pulverfass, das an einem Sonntagvormittag zu explodieren droht. Der Auslöser ist banal. Das heiße Sommerwetter lässt die Menschen die Kontrolle verlieren. Sie werden zum Mob, der gierig auf Sensationen ist und unkontrollierbar das Publikum einer Belagerung darstellt, die zwei Männern das Leben kosten wird.

Doch das eigentliche Drama spielt sich zwar unter den Augen der Polizei aber dennoch unsichtbar ab. Um endlich ein Jemand zu sein, will Nachwuchs- bzw. Möchtegern-Führer Zip einen Menschen umbringen. Dieser Alfredo Gomez ist völlig unschuldig, wie Zip selbst sehr wohl weiß, und er ist selbst Puertoricaner: Die Gewalt richtet sich gegen einen Menschen, mit dem sich Zip eigentlich solidarisch fühlen sollte. Stattdessen übt er sich in Gruppenzwang und Manipulation.

Drama en miniature

Um diesen Mordplan spinnt sich einer der beiden Handlungsstränge. Um die Spannung aufrecht zu erhalten und zu schüren, bedient sich McBains eines Kniffs, den Alfred Hitchcock „Suspense“ nannte: Nur der Zuschauer bzw. hier der Leser weiß von einem Geschehen, das auf einen tödlichen Höhepunkt zusteuert. Auf die Auflösung wartet er zunehmend nervöser, während sich die Ereignisse in die Länge ziehen. Immer wieder gibt es einen Zwischenfall, der den Ablauf des Planes aufhält. Zip gerät mit einem Matrosen aneinander, die Mordgruppe gerät in die Belagerung vor Pepe Mirandas Unterschlupf, die Mutter verbietet Alfredo den Kirchgang, der sein letzter werden soll. Doch stets geschieht etwas, das dem Verhängnis einen neuen Anstoß gibt. Über die volle Romandistanz muss der Leser um das Schicksal von Alfredo Gomez bangen.

Wie der Blick in Zips Zukunft wirkt der zweite Handlungsstrang. Pepe Miranda ist den Weg gegangen, den Zip gerade einschlagen will. Aus dem großen, gefürchteten, verehrten Mann ist freilich ein Flüchtling geworden, der selbst am besten weiß, dass er das Ende seines Weges erreicht hat. Nicht einmal ein großer Abgang wird ihm mehr gelingen. Ein moralisierender Autor würde dies dem Miranda-Jünger Zip vor die Augen führen, woraufhin dieser sein Unrecht einsähe und geläutert wäre. McBain ist für solche ‚Botschaften‘ nicht zu haben. Zip bemerkt nicht einmal, was Miranda umtreibt. Sein Untergang als Führer erfolgt denkbar unspektakulär, als ihn seine ‚Untertanen‘ fallen lassen. Dass er sich dem fügt, scheint angesichts der Unberechenbarkeit, die Zip bisher an den Tag gelegt hat, doch recht optimistisch. Andererseits lässt McBain die Zukunft sehr wohl offen. Die Katastrophe ist womöglich nur aufgeschoben.

Das Umfeld als Kampfzone

Um diese beiden Handlungsstränge ranken sich Episoden, die exemplarisch den alltäglichen, nur mühsam oder schlecht unterdrückten Rassismus illustrieren und die klaustrophobische Atmosphäre dieses Romans unterstreichen. Da ist der Polizist, der sich leutselig und vorurteilsfrei gibt und dabei nicht merkt, wie er die Kollegen und die Menschen, die er schützen soll, vor die Köpfe stößt. Der alte Coffee-Shop-Besitzer repräsentiert den Einwanderer der ersten Generation, der lernen musste, Beleidigungen zu schlucken und ‚brav‘ zu bleiben. Der Matrose auf Landurlaub steht für den Außenstehenden, der ahnungslos zwischen die Fronten gerät. Alfredo Gomez versucht den ‚Langen Marsch durch die Institutionen‘. Er nimmt den Kampf um die Gleichberechtigung friedlich auf. Sein Überleben ist das kleine Happy-end, das McBain seinen Lesern gönnt.

Den Weg dorthin muss sich der Leser verdienen. Die Stimmung ist düster, die Dialoge sind knapp und schneidend. In ihrer unterschwellig bedrohlichen Zweideutigkeit erinnern sie an einen Tarantino-Film. Überhaupt scheint „Heißer Sonntagmorgen“ mit einer auf 100 Meter Stadtstraße und fünf Handlungsstunden verdichteten, quasi in Realzeit ablaufenden, durch schnelle ‚Schnitte‘ ge- aber nie unterbrochene Handlung für den Film geschrieben zu sein. McBain, der auch als Drehbuchautor erfolgreich war, liefert mit „Heißer Sonntagmorgen“, nicht nur den 13., sondern auch einen der besten Bände seiner Serie um das 87. Polizeirevier ab.

Autor

Ed McBain wurde als Salvatore Albert Lombino am 15. Oktober 1926 geboren. Dies war in den USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Name, der einem ehrgeizigen Nachwuchsschriftsteller hilfreich gewesen wäre. Also ‚amerikanisierte‘ sich Lombino 1952 zu Evan Hunter und schrieb Literatur mit Botschaft und Anspruch, darüber hinaus Kinderbücher und Drehbücher.

Da sich der Erfolg in Grenzen hielt, wählte Vollprofi Hunter ein neues Pseudonym und verfasste als „Ed McBain“ den ersten der von Anfang an als Serie konzipierten Kriminalromane um das 87. Polizeirevier. Schnelles Geld sollten sie bringen und ohne großen Aufwand zu recherchieren sein. Deshalb ist Isola mehr oder weniger das Spiegelbild von New York, wo Lombino im italienischen Ghetto East Harlems groß wurde. Aber Hunter bzw. McBain kochte nicht alte Erfolgsrezepte auf Er schuf ein neues Konzept, ließ realistisch gezeichnete Polizisten im Team auf ‚echten‘ Straßen ihren Job erledigen. Das „police procedural“ hat er nicht erfunden aber entscheidend geprägt.

1956 erschien „Cop Hater“ (dt. „Polizisten leben gefährlich“). Schnell kam der Erfolg, es folgten bis 2005 54 weitere Folgen dieser Serie, der McBain niemals überdrüssig wurde, obwohl er weiter als Evan Hunter publizierte und als McBain die 13-teilige Serie um den Anwalt Matthew Hope verfasste. Mehr als 100 Romane umfasste das Gesamtwerk schließlich – solides Handwerk, oft genug Überdurchschnittliches, geradlinig und gern fast dokumentarisch in Szene gesetzt, immer lesenswert -, als der Verfasser am 6. Juli 2005 einem Krebsleiden erlag.

Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: See Them Die (New York : Simon & Schuster 1960)
Übersetzung: Arno Dohm
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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