Stefan Melneczuk – Marterpfahl. Sommer der Indianer

Ein Auto kommt von der Straße ab und stürzt einen Abhang hinunter. Als die Rettungskräfte das Fahrzeug erreichen, finden sie eine schwerverletzte Frau zusammengesunken hinter dem Steuer. Sie stirbt in den Armen eines Feuerwehrmannes, doch zuvor flüstert sie ihm noch etwas ins Ohr. Er behält ihre letzten Worte für sich und auch das, was er in diesem Moment gesehen hat – etwas, das ihm niemand glauben würde …

Tausende Meilen weiter, an der kanadischen Küste, tobt ein schwerer Sturm. Doch er kann dem Haus der Familie Bauer nichts anhaben. Die Bewohner haben alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die Fenster sind mit Holzlatten vernagelt, das Haus gesichert. Doch die Nachricht, die David Bauer in dieser Nacht erhält, trifft ihn härter als jede Sturmböe. Es ist eine Mail aus Deutschland und ihre Betreffzeile lautet: „Indianer kennen keinen Schmerz.“ David wird nicht schlafen in dieser Nacht und auch nicht in den folgenden. Er muss zurückkehren, zurück in die Vergangenheit …

Um die gleiche Zeit erhält auch Thomas Wagner, ein ehemaliger Journalist und aktiver Alkoholiker, einen Brief, der ihn schlagartig nüchtern werden lässt. Auch er wird sich dem Ruf nicht entziehen …

Es ist wieder Sommer – Indianersommer – wie vor zwanzig Jahren. Sie waren Freunde damals, Sonja, David, Thomas und Roland, der sie nun zusammengerufen hat. Sie waren Freunde, und nicht nur Roland war in Sonja verliebt. Aber dann ist etwas geschehen, an dem ihre Freundschaft zerbrechen musste, und jetzt wissen die Männer, dass ihr Schweigen vergeblich war, dass es noch nicht zu Ende ist.

Mit diesen Szenen beginnt Stefan Melneczuks Roman „Marterpfahl“, und es gelingt dem Autor tatsächlich, die unheilschwangere Atmosphäre und die Spannung des Auftaktes bis zum Ende aufrechtzuerhalten. Dabei sind die Fußstapfen groß, an denen jeder Autor zwangsläufig gemessen wird, wenn er sich auf das von englischsprachigen Schriftstellern dominierte Feld des Mystery-Thrillers wagt. Wer hat als Leser nicht mitgezittert bei der Lektüre von Kings Meisterwerk „Es“, wer sieht nicht Jack Nicholson vor sich in der grandiosen Verfilmung von „Shining“, und wer glaubt nach so vielen missglückten King- oder Koontz-Klonen überhaupt noch daran, dass ein einheimischer Autor etwas auch nur annähernd Gleichwertiges zustande bringen könnte?

Stefan Melneczuk ist dieses Kunststück gelungen, auch wenn sein Roman ’nur‘ 270 Seiten umfasst und nicht die heutzutage üblichen 600 bis 800. Es ist ein durchweg spannendes Buch geworden, das man als Leser nur ungern aus der Hand legt. Dabei ist das Personal durchaus überschaubar, die Handlung geradlinig und der Verlauf scheinbar zwangsläufig, dennoch kommt bei der Lektüre nicht einen Augenblick Langeweile auf. Vielleicht sind es die geschickt eingestreuten Rückblenden, die den Leser bei der Stange halten, oder die glaubwürdige Charakterisierung der Protagonisten, die ihn an deren Schicksal Anteil nehmen lassen. Vielleicht ist es aber auch das Gefühl, dass einem selbst durchaus Ähnliches hätte passieren können, wenn es das Schicksal gewollt hätte, damals. Mittlerweile sind die Zeiten der im Wald gebauten Räuberverstecke, der Höhlen- und Tunnelerkundungen, der Verkleidungen und Mutproben wohl endgültig vorbei, und so schwingt vielleicht auch ein wenig nostalgische Sentimentalität in der Beurteilung des Rezensenten mit.

Aber selbst fern von allen persönlichen Befindlichkeiten bleibt die Tatsache, dass der „Marterpfahl“ auch aus handwerklicher Sicht positiv aus dem Gros der Kleinverlagspublikationen herausragt. Man kann Autor und Verlag nur zu dieser Veröffentlichung gratulieren. Weshalb sich bislang keiner der ‚großen‘ Verlage dieses hervorragenden Manuskripts bemächtigt hat, gehört zu den Mysterien eines Büchermarktes, dessen Mainstream sich mehr und mehr in Richtung eines durch die letzten Pisa-Studien ausreichend beschriebenen Niveaus bewegt. So bleibt nur zu hoffen, dass der „Marterpfahl“ über den Achtungserfolg hinaus ein möglichst zahlreiches Publikum findet.

Broschiert: 265 Seiten
www.virpriv.de

Frank W. Haubold