D. E. Meredith – Der Leichensammler

Eine Serie bizarrer Morde erschüttert London im Winter des Jahres 1856; ein Polizist, ein eifriger Arzt und ein junger Aristokrat bemühen sich um die Auflösung einer Verschwörung, die ihrerseits ein unfassbares Verbrechen verbergen soll … – Gut recherchierter Historienkrimi, der zeitgenössische Missstände aufgreift und dramatisiert, wobei die Autorin ein wenig zu didaktisch in Empörung und Gräueln schwelgt: noch etwas verhaltener Einstieg in eine neue Krimi-Serie.

Das geschieht:

Der Chirurg Adolphus Hatton gehört in diesem Jahr 1856 zu den wenigen Ärzten, die sich der noch jungen Wissenschaft der Forensik verschrieben haben. Im Leichenkeller des St. Bartholomew’s Hospital zu London sucht er mit seinem Assistenten und Freund Albert Roumande nach verborgene Spuren sonst unentdeckt bleibender Verbrechen. Obwohl Ignoranz und Ablehnung noch stark gegen Hatton wirken, beginnt sich sein Ruf zu verbreiten.

Inspector George Adams von Scotland Yard zieht Hatton als Berater in einem spektakulären Mordfall zu Rate. In ihrem Arbeitszimmer wurde Lady Katherine Bessingham mit einem versteinerten Ammoniten aus ihrer Fossilien-Sammlung erschlagen. Der Mord an einer Adeligen schlägt hohe Wellen, zumal die Lady eine bekannte Förderin der Wissenschaften war.

Gestohlen wurden nur einige Briefe, die der junge Benjamin Broderig seiner Gönnerin aus Borneo geschrieben hatte. Dort arbeitete er als „Artensammler“, der exotische Tiere und Pflanzen sucht, die er in England an Museen oder Sammler verkauft. Im Laufe dieser Reise stieß Broderig zufällig auf ein Geheimnis, dessen Offenbarung einem der ältesten Adelshäuser des Empires ein schmähliches Ende bereiten könnte.

Kurz nach Lady Bessingham sterben weitere Wissenschaftler auf grausame, groteske Weisen. Parallel dazu tauchen die Leichen junger, übel zugerichteter Mädchen auf. Auch wenn diese ’nur‘ der Unterschicht angehören, um die sich die Polizei höchstens strafend kümmert, gerät Adams zusehends unter Druck. Die Indizienlage ist verwirrend. Während einige Spuren ins ferne Borneo führen, weisen andere eindeutig nach London. Die Theorie einer Mordserie muss neu überdacht werden, da die Wahrheit offensichtlich wesentlich komplizierter ist.

Hatton ahnt nicht, dass ein mächtiger Widersacher seine Augen, Ohren & mörderischen Hände überall hat. Der unsichtbare Drahtzieher gedenkt sein Geheimnis zu wahren – um jeden Preis …

Früher war vieles anders aber nicht besser

Krimis im ‚historischen‘ Ambiente sind weiterhin überaus beliebt. Dies erstaunt kaum, kommt doch zu einem (hoffentlich) spannend-verzwickten Verbrechen eine exotische Kulisse, deren Schöpfer nicht allzu lautstark widersprechen, sollte ihr Publikum diese für real(istisch) halten.

Dieses Mal ist es wieder einmal London in (früh-) viktorianischer Zeit, die größte Stadt dieser vergangenen Welt und ein Schmelztiegel, in dem seine Bewohner nicht selten spurlos untergingen: „Devoured“ heißt dieser Roman deshalb im Original, während der deutsche Titel erneut eine Studie in reißerischer Plump-Werbung darstellt: Niemand sammelt Leichen – sie sammeln sich höchstens auf Professor Hattons Seziertisch an.

D. E. Meredith thematisiert eine Ära, in der ein Menschenleben von der Herkunft bestimmt wurde oder sogar abhängen konnte. Eine strikte gesellschaftliche Hierarchie trennte Ober- und Unterschicht. Während die eine praktisch uneingeschränkt herrschte und sich dabei in ihrem göttlich verliehenen Recht sah, wurde die andere beherrscht, kontrolliert, ausgebeutet und ihrem Schicksal überlassen. Armut und Elend wurden als Schwächen betrachtet, die am besten mit den davon ‚Befallenen‘ aussterben sollten. Ein soziales Netz existierte höchstens in Andeutungen, die Armenhäuser waren Arbeitshäuser, Hygiene oder Krankheitsprophylaxe Fremdworte.

Am Morgen einer neuen Zeit

Ähnlich düster sah es für die Wissenschaft aus. Als oberste Instanz in diesbezüglichen Fragen galt die Kirche. Die Bibel war wortwörtlich zu nehmen. Doch im Gegensatz zur Unterschicht ließ sich die Forschung nicht mehr unterdrücken. Vor allem der Glaube an eine Welt, die binnen sieben Tagen erschaffen wurde, geriet ins Wanken. Der Streit war hart und wurde kompromisslos geführt. Erbittert bekämpften Kirchenfürsten und gläubige Anhänger des Establishments die Evolutionslehre. Wer sich zu ihr bekannte, konnte leicht Beruf und Reputation verlieren.

Auch die Medizin hatte nicht nur mit Ignoranz, sondern auch mit Misstrauen zu kämpfen. 1856 lagen die Untaten der „Leichenmacher“ Burke & Hare kaum dreißig Jahre zurück, und offiziell war das Sezieren von Leichen zu Studien- und Lehrzwecken erst seit 1832 gestattet. Ein Mann wie Adolphus Hatton kann deshalb nicht mit breiter Zustimmung rechnen, wenn er darauf besteht, rätselhafte Todesfälle zu klären, indem er die Leichen der Opfer zerlegt.

Immerhin beginnen nüchtern denkende Zeitgenossen, die Vorteile des Verfahrens allmählich zu erkennen. Hatton ist Inspector Adams auch deshalb so eifrig zu Diensten, weil er sich einen Verbündeten schaffen will und Scotland Yard für die Forensik zu interessieren versucht.

Einfache oder doppelte Mordserie?

Der erste Fall des besessenen Forschers steht freilich unter keinem günstigen Stern. Hatton ist ein fähiger Wissenschaftler aber ein unerfahrener Ermittler, weshalb ihm Irrtümer gleich in Serien unterlaufen. Es ist fraglich, ob Autorin Meredith bei der Zeichnung dieser Figur so weit gehen wollte. Eigentlich gerät Hatton nie auch nur in der Nähe der Lösung. Der Mörder muss ihn nicht in diese Richtung schieben, sondern kräftig in den Hintern treten, bis der Groschen bzw. Schilling endlich fällt.

Zu Hattons Verteidigung sei ihm zugestanden, dass sich Meredith für ihren Roman-Erstling einen wahrlich komplizierten Plot einfallen ließ. Um die Verwirrung noch zu steigern, springt die Autorin kapitelweise zwischen ihre Figuren, ohne erklärende Verbindungen zu schaffen. Darüber hinaus arbeitet sie einige Handlungsstränge aus, die für das Hauptgeschehen ohne Bedeutung sind, sondern eher zur Schaffung einer düsteren Stimmung beitragen sollen.

Denn Meredith will nicht ’nur‘ unterhalten, sondern sich stellvertretend für ihre Leser auch empören. Im realen Leben war sie viele Jahre für verschiedene Hilfsorganisationen tätig. Das dabei erlebte Unrecht und Grauen arbeitet sie in ihren Roman ein – und übertreibt es dabei.

Wehe, wehe, die Welt ist schlecht!

Mord, Jugendprostitution, Kinderhandel, Korruption, Amtsmissbrauch, Ausbeutung, Heuchelei, Rassismus, Naturfrevel, Umweltzerstörung – dies sind nur einige Glieder in der schier endlosen Kette der Übeltaten, mit denen Meredith ihre literarische Welt förmlich spickt. Sie versäumt darüber oft, die für die eigentliche Krimi-Handlung relevanten Aspekte herauszuarbeiten, welche stattdessen in dem Wust illegaler, moralisch fragwürdiger oder anderweitig empörender Ereignisse halbwegs untergehen. Weniger wäre mehr gewesen, vor allem der Ober-Schurke ist eher Popanz als das übermächtige, gesellschaftlich unangreifbare, personifizierte Böse.

Der ohnehin gemächliche Gang der Geschichte wird auf diese Weise weiter entschleunigt. Man rattert mit Adams, Hatton und manchmal Roumande in der Kutsche durch London und einmal (recht unmotiviert) mit der Eisenbahn nach Cambridge; diese stellen einander Fragen, diskutieren miteinander oder streiten sich. Wirklich spannend ist das wohl nur für Leser, die einen historischen Stadtplan von London neben ihr Buch legen.

Es ist schon gut, sollte aber besser werden

Dazu passt eine Hauptfigur, mit der man nicht warm werden kann. Adolphus Hatton hat keine Ecken und Kanten; er ist vielleicht ein fähiger Forscher aber ganz sicher kein Sherlock Holmes. Hatton ist viel zu brav, ihm fehlt inneres Feuer, und er regt sich ein wenig zu oft bzw. zu demonstrativ auf, wenn er wieder einmal über eine Ungerechtigkeit stolpert. Albert Roumande ist wiederum kein Watson, sondern ein profilloser Gutmensch sowie als Franzose in London vor allem Reibungsfläche für frankophobe Briten.

Auf der Haben-Seite gilt es ausdrücklich zu vermerken, dass Meredith zwei potenziellen Schwachstellen angenehm konsequent aus dem Weg geht: Weder ertränkt sie ihre Geschichte in übertriebenen, hysterischen Gefühlsausbrüchen wie Anne Perry (Inspector-Pitt-Reihe), noch konfrontiert sie ihre Leser wie Ann Granger mit als Krimi verkappten Lovestorys auf Seifenoper-Niveau (Lizzie-Martin-Reihe). Es steckt deshalb gleichermaßen Entwicklungspotenzial sowie Entwicklungsbedarf in der Hatton/Roumande-Serie, die inzwischen in ihre zweite Runde ging.

Autorin

Denise Ellen Meredith hat irische Vorfahren, wuchs aber in England auf. Sie studierte Englische Literatur in der britischen Universitätsstadt Cambridge. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in den 1980er Jahren in der Werbung. Sie wechselte in die Presseabteilung des Roten Kreuz, eine Tätigkeit, die Meredith in zahlreiche Krisen- und Kriegsgebiete dieser Erde führte.

Die Gründung einer Familie ließ Meredith nach England zurückkehren und sesshaft werden. Nun beriet sie Institutionen wie den World Wildlife Found, Greenpeace oder die International Union for Conservation of Nature.

Das Interesse an englischer Geschichte mischte sich nach Merediths Auskunft mit einem starken Gefühl für Recht und Gerechtigkeit. Beides mischt sich in einer Serie von Historien-Krimis, die Meredith 2007 mit einem Roman startete, der 2010 unter dem Titel „Aroused“ (dt. „Der Leichensammler“) veröffentlicht wurde. Sie schildert die Fälle und Abenteuer des frühen Forensik-Experten Adolphus Hatton und seines Mitstreiters und Freundes Albert Roumande im London der Jahre nach 1850.

D. E. Meredith lebt und arbeitet im Londoner Stadtteil St. Margaret’s.

Taschenbuch: 351 Seiten
Originaltitel: Devoured (New York : Minotaur Books/St. Martin’s Publishing Group 2010)
Übersetzung: Ellen Schlootz
http://www.randomhouse.de/goldmann

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