Gustav Meyrink – Der Golem

Meyrinks „Golem“ gehört zu den besten Werken seines Genres. Wie sein Vorbilder E.T.A. Hoffmann und E.A. Poe lässt Meyrink das Traumhafte schon in der Alltagswelt beginnen, Realität und Überwirklichkeit fließend ineinander übergehen. Hier werden Erfahrungen im Grenzbereich der Seele zwingend in eine spannende Handlung umgesetzt. Die kongenialen Illustrationen von Hugo Steiner-Prag, einem Zeitgenossen Meyrinks, erhöhen den Reiz dieser Ausgabe. (Amazon.de)

„Der Golem“ ist ein spannender, unheimlicher Schauerroman, der aber in einer modernen, einfachen Sprache geschrieben wurde. Wer E. A. Poe und Kafka mag, ist hier richtig.

Wer je in der Altstadt von Prag den alten jüdischen Friedhof besucht hat (so wie ich 1979), wird erstens auf das Grab des Rabbi Löw hingewiesen und zweitens seinen Augen kaum trauen: Da stehen Grabsteine dicht an dicht, manche halb umgestürzt, fast von Grün überwuchert und ungepflegt, auf jedem Stein eine verwitterte Inschrift in hebräischer Schrift. So viele Tote, Legenden, so viel Vergangenheit. Dort unten, auf diesem kleinen Grundstück, lebt er noch, der Geist des Golems.

Die Legende vom Golem

In der hebräischen Sage ist der Golem ein Mann, der – in Nachahmung der Erschaffung Adams – aus Lehm gemacht wurde, zum Leben erweckt durch einen magischen Spruch, der „shem“ genannt wird. Der Zauberspruch wird zu diesem Zweck auf ein Stück Papier geschrieben und in den Mund des Golem gesteckt. In der Folge ist der Golem seinem Herrn untertan.

Die physische Erschaffung eines Golem ist am engsten verbunden mit der Sage vom Wunderrabbi Judah Loew oder Lowe, der von 1512 bis 1609 lebte (immerhin 97 Jahre, und das zu jener Zeit!). Nach volkstümlichem Glauben erschuf er einen Golem, um die Juden des Prager Ghettos gegen ein Pogrom zu schützen, das der Habsburger Kaiser Rudolf II. (1552-1612) befohlen hatte.

Der Golem ist nur halb menschlich. Er hat hat keinen Begriff von Gut und Böse, er kann nicht sprechen, und er kann sich nicht fortpflanzen. Die Geschichte vom Golem hat Ähnlichkeit mit der von Frankensteins Kreatur, insbesondere in einer Geschichte, die einem Elijah von Chelm aus Polen zugeschrieben wird. Dieser erschuf Mitte des 16. Jahrhunderts einen Golem, um die Stadt zu schützen, doch der Golem wurde zu mächtig und Elijah musste ihn zerstören, indem er den „shem“ zurückholte. Somit ist klar, dass der Golem stets vor einem großen Unglück erscheint: ein rein städtischer Mythos.

Der Roman

Gustav Meyrinks Roman erschien 1913 und 1914 in der Zeitung „Die weißen Blätter“, erst 1915 als Buch. Diesmal ist es nicht der Golem selbst, der Prag im 19. Jahrhundert unsicher macht, sondern die Macht hinter ihm. Es gab mehrere Verarbeitungen des Motivs für Romane mit schauerromantischer Gaslicht-Stimmung, so etwa von Peter Ackroyd. Sean Stewart, ein Newcomer der Fantasy, ließ Golems in Todeslagern des 2. Weltkriegs auftauchen (Resurrection Man, 1995). Marge Piercy verknüpfte das alte Bild mit der Moderne, indem sie Kyborgs und Androiden als moderne Golems auffasste (in „Er, Sie und Es“, 1991, dt. beim |Argument|-Verlag). Auch in Frances Sherwoods historischer Fantasy „Die Schneiderin von Prag oder Das Buch des Glanzes“ spielt Löws Golem eine zentrale Rolle.

Der Autor

Gustav Meyrink (1868-1932) hatte vor „Der Golem“ eine Reihe von „sonderbaren Geschichten“ veröffentlicht, deren Symbolsprache grotesk und spöttisch war. Sie nahmen gewissermassen die Brutalitäten des kommenden Ersten Weltkriegs vorweg, mit Visionen von Wildheit, Apokalypse und Untergang. Ihre Verspottung einer versinkenden Epoche erinnert in den expressionistischen Formulierungen an E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe zu deren schwärzesten Zeiten.

Dennoch kann man „Der Golem“ als romantische Fantasy lesen und genießen. Sie ist nur die seltsame Blüte, die am Ende einer langen Ära des Wachstums und Wandels gedeiht. Dieser Roman war einer der größten Bucherfolge der 1920er Jahre und wurde mehrmals verfilmt, u. a. 1920 von Paul Wegener.

Die Handlung

Ein namenloser Erzähler, zu Besuch in Prag, fällt in seinem Hotelzimmer nach der Lektüre eines Buches über das Leben des Buddha Gautama in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem er in einen Traum driftet. Er findet sich hier als der Gemmenschneider Athanasius Pernath im geheimnisvollen Labyrinth des Prager Ghettos wieder (Gemmen: Halbedelsteine für Broschen etc.).

In der gespenstischen Atmosphäre, die geschwängert ist von Liebe und Leidenschaften (Bordellszene), Verbrechen, Hass und Intrigen, Angst und Grauen, begegnet Pernath dem Golem, der als Doppelgänger des Menschen erscheint. Doch der Golem ist nur ein Schemen, ein Symbol für die Kollektivseele des alten Ghettos einerseits, andererseits die ständig wechselnde Spiegelung der seelischen Erlebnisse des Erzählers – also auch eine Projektion eines im Ghetto gefangenen Bewusstseins auf seine Umgebung. Die wiederholten, recht unterschiedlichen Begegnungen mit dem Wesen gipfeln darin, ein erlöstes unsterbliches Ich zu erlangen.

Als der namenlose Erzähler wieder erwacht, findet er einen verwechselten Hut mit dem Namen Athanasius Pernath. Bei Nachforschungen entdeckt er Spuren des Geträumten in seiner Realität. Der Schluss, in dem der Erzähler seinem geträumten Ich (Pernath) begegnet, bleibt offen und lässt somit Leser und Erzähler gleichermaßen im Ungewissen über die Qualität des Erlebten – war es wirklich nur ein Traum, oder mehr?

Mein Eindruck

Die Erzählung ist recht leicht zu lesen, denn die Sätze sind einfach gehalten und vielfach, besonders gegen Ende hin, vielfach von Dialogen durchsetzt. Doch Meyrink benutzt die Wörter auf eigenartige Weise: da stehen Häuser wie Eckzähne und nehmen ein Eigenleben an. Man merkt schnell: Hinter diesen anschaulichen Beschreibungen vibriert ein verborgenes Leben, das unsichtbar Einfluss auf die Figuren der Erzählung ausübt. Schon bald fand ich mich im Banne dieser zweiten Schicht, dieses geheimen Klanges. Das ist es, was den Horror im Kopf auslöst, nicht die Special Effects. Die gibt’s hier nämlich nicht.

Auch die Kapitelüberschriften muten modern an und nicht wie so verschnörkelt-barock wie die aus dem 19. Jahrhundert: Jede Überschrift besteht nur aus einem einzigen Wort, einmal sogar nur aus einem Buchstaben – als wäre jedes Wort ein „shem“.

Das heute völlig versunkene Prag steht hier für Europa und seine uralte Kultur selbst, zu der wir nach den Zerstörungen, die zwei Weltkriege angerichtet haben, kaum noch einen echten Bezug haben. Meyrink stellt den Fall des Prager Ghettos als Reinigung der materiellen Welt dar, auf dass danach höhere geistige Mächte walten mögen – ein frommer Wunsch?

Um dies auszusagen, hat er die mystische Erlösungsvorstellung der Golem-Legende mit den damit verknüpften kabbalistischen Traditionen sowie religiös-messianischen Heilsideen verschmolzen. Ägyptische Mysterienweisheit ergänzt Meyrink mit indisch-theosophischem Gedankengut. Der Roman selbst ist konsequenterweise aus gegensätzlichen Positionen heraus aufgebaut: Der natürlichen Weltsicht, wie sie normalerweise verwendet wird, steht eine geistig-spirituelle gegenüber. Dies erklärt, warum Athanasius Pernath sein Seelenheil nicht hienieden, sondern in einem geheimnisvollen Drüben erlangt.

Inzwischen gilt „Der Golem“ als ein Vorläufer der modernen Traum- und Visionsdichtung, wie sie beispielsweise Franz Kafka hervorbrachte („In der Strafkolonie“, „Die Verwandlung“, „Der Prozess“ u. a.), doch Kafkas Grundlagen waren ganz andere. Ein moderner Klassiker, der, sobald er neu aufgelegt wird, binnen kürzester Zeit ausverkauft ist.

Und wer Kafka, Poe und Hoffmann sowie die gesamte Schauerromantik interessant findet, der wird auch „Der Golem“ mit Interesse und Vergnügen lesen. Es ist ein Eintauchen in ein Prag, wie es einst war, vor 1885, erfüllt von einem Raunen.

Die Taschenbuchausgabe

Es gibt sicher schönere Leinenbandausgaben dieses wunderbaren Buches, doch auch die ungekürzte bibliophile Taschenbuchausgabe des Ullsteinverlags vermittelt einen guten Eindruck von den ersten Ausgaben. Die 25 kongenialen Schwarzweißzeichnungen von Hugo Steiner-Prag, einem Zeitgenossen Meyrinks, bringen das mittelalterliche Dunkel des Ghettos ausgezeichnet zur Geltung und heben jede Figur, jede Lichtquelle prägnant hervor. In der Atmosphäre erinnern sie an manche Zeichnungen von Alfred Kubin.

„Der Golem“ lasse sich als Er- und Bekenntnis-Literatur nur aus der Biografie des Autors heraus verstehen, meint der Verfasser des Nachworts, Dr. Eduard Frank. Das lasse ich mal dahingestellt sein, aber im weiteren Verlauf seiner Ausführungen bietet er eine Reihe von Erklärungshilfen an, darunter auch Psychoanalyse und Historie. So etwa erfahren wir, dass das alte Ghetto 1885 abgerissen und durch neue, hygienischere Bauten komplett ersetzt wurde. Noch Kafka wähnte sich im Grunde seines Herzens im alten Ghetto, er fühlte sich selbst wie ein Spuk in der Neuzeit. Niemand traute sich bis in die 20er Jahre in jenen geheimen Raum in der Altneusynagoge, in den der Legende nach der Golem des Rabbi Löw zur ewigen (?) Ruhe zurückgeschickt worden war.

Lesetipp: Wem Meyrink zusagt, der sollte auch einen Blick auf Leo Perutz‘ Werke werfen, darunter besonders „Nachts unter der steinernen Brücke“.

Sondereinband : ‎ 304 Seiten.
ISBN-13: ‎978-3548201405
https://www.ullstein.de/

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)