Michael Connelly – Black Box (Harry Bosch 18)

Schneewittchen in der Hölle von L.A.

Während der ›L.A. Riots‹, der schlimmsten Rassenunruhen, die Los Angeles je erlebt hat, ist die dänische Reporterin Anneke Jespersen regelrecht hingerichtet worden. Wegen ihrer hellen Haut, die sie von den meisten anderen Opfern unterscheidet, erhält ihr Fall den Codenamen ›Schneewittchen‹. Er wird nie gelöst. Zwanzig Jahre später darf Harry Bosch die Ermittlungen wieder aufnehmen. Die Patronenhülse, die er damals sicherstellen konnte, führt ihn endlich zur Tatwaffe – und bis zum US-Militär. Harrys Gerechtigkeitssinn treibt ihn unerbittlich voran in diesem Fall, selbst als er ins Visier der Inneren Abteilung gerät und schließlich Urlaub nehmen muss, um weiter ermitteln zu können… (Verlagsinfo)


Der Autor

Michael Connelly war jahrelang Polizeireporter in Los Angeles und lernte das Polizeigewerbe von außen kennen. Bekannt wurde er mit seinen Romanen um die Gesetzeshüter Harry Bosch und Terry McCaleb, zuletzt besonders aufgrund der Verfilmung von „Das zweite Herz / Bloodwork“ durch Clint Eastwood. Die zwei Thriller um den „Poeten“ harren immer noch ihrer Verfilmung.

Auch „Der Mandant“, der erste Roman um Harry Boschs Halbbruder, den Strafverteidiger Mickey Haller, ist hochkarätig verfilmt worden, doch es gab „künstlerische Differenzen“, und so wurde der Regisseur gefeuert. Inzwischen ist der Streifen mit Matthew McConnaughey in der Titelrolle auch auf DVD zu haben.

In der Folge erschienen „Echo Park“, „The Overlook / Kalter Tod“, „The Scarecrow“ und „Nine Dragons“ (siehe meine Berichte). „Der fünfte Zeuge“ ist Anfang 2013 bei Droemer Knaur auf Deutsch erscheinen. Mit Renee Ballard führte der Autor ein interessante Polizistin in die Reihe ein. Der Autor lebt mit seiner Familie in Tampa, Florida.

Handlung

PROLOG

Im Jahr 1992 brechen Unruhen in South Los Angeles aus. Der Auslöser: Vier Polizisten, die den Schwarzen Rodney King verprügelt hatten, wurden von einem Gericht, freigesprochen. Die Plünderungen und Gewaltausbrüche treffen die Polizei unvorbereitet, so dass sogar Kriminaler wie Harry Bosch hinzugezogen werden, um wenigstens die Morde zu registrieren. Als endlich die Nationalgarde, also Paramilitärs, die Straßen abgeriegelt hat, kann Bosch mit seinem Partner zu einem weiteren Opfer vordringen.

Zu ihrer Überraschung ist es eine weiße Frau, und das auf dem Territorium, auf dem sich die Banden der Schwarzen bekriegen. Anneke Jespersen, so besagt ihr Presseausweis, eine Fotojournalistin aus Dänemark. Ihre Kameras fehlen, doch drei Rollen Film stecken in ihrer Tasche. Sie wurde aus nächster Nähe ins Auge geschossen. Einziges Beweismittel: die Patronenhülse einer Pistole, die Bosch sicherstellt.

20 Jahre später

Die Kriminaltechnik hat rasante Fortschritte gemacht, und als Bosch die Untersuchungsergebnisse zu der Patronenhülse aus dem Labor zurückerhält, erlebt er eine Überraschung: Die Beretta 9 mm, aus der die Hülse stammt, wurde später dreimal bei Morden verwendet, u. a. bei einem Bandenmord, den ein Vollstrecker namens Coleman auf Anweisung seines Chefs ausführte. Coleman lässt sich von Bosch überreden, den Namen des Mannes preiszugeben, der ihm die Waffe lieferte: Truman Story. Leider ist dieser vor etwa drei Jahren selbst hingerichtet worden.

End of Story? Nicht für Harry Bosch! Er glaubt wie sein früherer Partner Frank Sheehan, dass es zu jedem Fall eine Art Black Box wie in einem Flugschreiber gebe, also ein Indiz, das alle Puzzleteilchen zusammenfügt und der Tat einen Sinn verleiht. Aber kann dies auch bei einem so exotischen Opfer wie einer dänischen Fotoreporterin der Fall sein, die sich – ausgerechnet – nach South Central L.A. wagte?

Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Tricks schafft es Bosch schließlich doch, die Beretta ausfindig zu machen und sich übergeben zu lassen. Sie ist unverwechselbar, und ein Gauner identifiziert anhand der Beschädigungen, die er ihr vor 20 Jahren selbst beibrachte. Wie sich herausstellt, geschah dies direkt nach dem Mord an „Schneewittchen“, wie Anneke Jespersen scherzhaft von Cops und Gaunern genannt wird.

Weitere Tricks einsetzend, schafft es Bosch in Rekordzeit, eine Laboruntersuchung der Tatwaffe in Gang zu bringen. Der Spezialist kann ihm schlie0lich neun der zehn Ziffern der abgefeilten Seriennummer liefern, und damit geht der Detective zu seiner alten Bekannten Rachel Walling vom FBI (vgl. „The Overlook“ u. a.), die ihn wieder an die Behörde für Feuerwaffen weiterreicht. Deren Agentin wiederum hat eine Überraschung parat: Die Beretta wurde in Italien für die Revolutionsgarden von Saddam Hussein gefertigt und geliefert.

Folglich stammt sie aus dem ersten Golfkrieg, den die USA und ihre Alliierten im März 1991 gegen den Irak in Kuwait führten. Doch wie kam sie von dort nach Kalifornien? Nun beschleicht ein finsterer Verdacht den Ermittler: Die Angehörigen der Nationalgarde, die in South L. A. für Ruhe und Ordnung sorgte, waren die gleichen, die in Kuwait die Transportdienste für die Army versahen.

Und die dänische Fotoreporterin, so stellt sich heraus, kannte diese Einheit aus einer ganz persönlichen Begegnung …

Mein Eindruck

Wieder mal begibt sich Harry Bosch auf Abwege jenseits des vorschriftsmäßigen Dienstweges, um seine lebenslange Mission zu erfüllen: als Precher für die Toten für Gerechtigkeit zu sorgen und die Schuldigen dem Gesetz zuzuführen. Wieder mal ist diese Aufgabe alles andere als einfach, denn nicht nur sein Lieutenant hat etwas dagegen, nein, auch der Boss der Mordkommission selbst will nicht, dass der Fall „Schneewittchen“ aufgeklärt wird. Zumindest nicht jetzt, zum 20-jährigen Jubiläum der Unruhen in South L. A. Wie sähe es auch aus, dass nur der Fall einer WEISSEN in einem Viertel aufgeklärt wird, das vor allem von SCHWARZEN bewohnt wird?! Hier entsteht eine neue Art rassistischer Strafverfolgung, sozusagen das Negativbild zum Rodney-King-Fall.

Doch Bosch hat der toten Dänin noch am Tatort ein Versprechen gegeben und sich dafür entschuldigt, nur so wenige Minuten Zeit für sie zu haben. Auf seine trickreiche Weise treibt er nun seine Ermittlung zusammen mit Partner David Chu und etlichen Freunden voran. Er kommt einer veritablen Verschwörung auf die Spur, die bis zum ersten Golfkrieg 1991 zurückreicht und dazu dient, das, was dort in der 237. Transporteinheit der Nationalgarde passiert ist, zu vertuschen. Doch einer der fünf Betroffenen ist nervös geworden und hat sich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt. Das bringt Bosch auf die richtige Spur: ins San Joaquin Valley.

Der Haken dabei: Das San Joaquin Valley wird von zwei Männern aus der 237. beherrscht. Carl Cosgrove ist der mächtigste Mann im Tal und Sheriff J. J. Drummond ist sein langer Arm des Gesetzes. Dieses Duo deckt alle anderen Beteiligten und sorgt auch mal für Totenruhe, sollte einer aus der Reihe tanzen. Nun kandidiert Drummond, der „Kriegsheld“, sogar für den US-Kongress. Bosch gedenkt, ihm einen dicken Strich durch diese Rechnung zu machen. Dabei erhält der Cop Hilfe von unerwarteter Seite.

Zeitebenen

Auf seine kenntnisreiche Weise schafft es Connelly, die beiden Zeitebenen, auf denen dieser Fall spielt, miteinander zu kontrastieren. Was anno 1992 an primitiven Methoden angewandt wurde, bewältigt die moderne Kriminal- und Kommunikationstechnik im Handumdrehen. Wofür ein Cop 1992 zwei Wochen Recherche in Archiven und Datenbanken gebraucht hätte, kann er heute in einer Handvoll Stunden zusammenstellen, einfach mit Hilfe des Durchforstens von Online-Archiven der Ermittlungsbehörden.

Was Bosch die Arbeit zusätzlich erleichtert, sind Homepages der Betroffenen. Anneke Jespersen von ihrem Bruder Henrik sowie von ihrer Zeitung hat eine Gedenk-Seite eingerichtet bekommen. Hier findet Bosch bestimmte Fotos aus dem Golfkrieg, die sich als sehr nützlich erweisen sollen. Und eines davon stimmt auf verblüffende Weise mit einem anderen Foto überein, dass von der 237. Transporteinheit auf deren eigener Angehörigen-Homepage veröffentlicht worden ist. Das ist wieder einer dieser Aha-Momente, wie sie Bosch nur allzu selten vergönnt sind.

Verdrängt, aber nicht vergessen

Der Roman beleuchtet eine Schattenseite des amerikanischen Militäreinsatzes, die zunehmend von den US-Medien anerkannt und untersucht wird. Ich habe kürzlich die Verflmung „Jack Reacher“ mit Tom Cruise gesehen. Darin ist von einer Massenvergewaltigung im Irak die Rede, die US-Soldaten verübt hatten. Dies sind also Kriegsverbrechen, die abseits der Gefängnisse wie Abu Ghraib stattfanden. Es war alltägliche Gewalt, nur dass sie nicht ins Bild von heimkehrenden Helden passte.

Aber was „Black Box“ auf besondere Weise anprangert, ist die Gewalt der US-Soldaten, die auch vor Mitgliedern der internationalen Presse nicht halt machte. Nicht genug damit: Auch die leichte Art der Vertuschung dieser Gewalt sowohl in Kuwait als auch in South L. A. wird kritisch betrachtet. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, wenn es keinen Ankläger und keinen Richter gibt, fragt Bosch. Was, wenn das Gesetz in Gestalt eines korrupten Sheriffs selbst auf der Seite der Verbrecher steht?

Bosch privat

Daneben kommt auch die private Weiterentwicklung unseres Serienhelden nicht zu kurz. Bosch dürfte mittlerweile das 60. oder 65. Lebensjahr überschritten (er hat eine Sondererlaubnis zum Weitermachen, siehe „The DROP“ („Scharfschuss“), doch die ist nun in Gefahr) und wagt sich wieder mal in eine Beziehung mit einer Frau. Hannah Stone betreut straffällig Gewordene, ist folglich mit der Arbeit von Cops vertraut – außerdem kann sie hervorragend kochen und kennt die besten Restaurants.

Nun muss er sie nur noch seine 16-jährigen Tochter Maddie vorstellen, die gerade eine harte Teenagerphase durchmacht. Zwar hat sie noch keinen festen Freund, aber doch einige Probleme, was sie empfindlich reagieren lässt, wenn Dad ihre Sachen durchwühlt. Aber immerhin macht sie ihn auf zweierlei Weise glücklich: Sie schenkt ihm eine seltene Gesamtausgabe der Live-Aufnahmen eines seiner liebsten Jazzmusiker (Bosch ist ein Jazz-Experte) – und sie will bald auch in den Polizeidienst eintreten. Das Training, das sie mit einem Profi absolviert, kann man schon als professionell bezeichnen. Na, wenn uns das nicht fatal an einen gewissen schwedischen Top-Kommissar und sein Töchterlein erinnert!

Unterm Strich

Dieser Harry-Bosch-Thriller ist mal wieder eine klasse Story. Unermüdlich und unnachgiebig beißt sich Bosch in die Materie hinein, die zu immer weiteren Abgründen führt. Er hätte nie erwartet, dass „Schneewittchen“ Anneke Jespersen ihren Mörder in L. A. ganz persönlich kannte – und zwar aus Kuwait. Die Black Box, das ist die Tatwaffe, die die beiden Orte verbindet. Der Autor legt mit verblüffender Folgerichtigkeit dar, wie solch ein Beweisstück einen Fall um 180 Grad drehen kann – wenn man es denn überhaupt mal durch Hartnäckigkeit und gegen alle Widerstände aus der Chefetage finden kann und will.

Bis zur letzten Seite

Der Showdown findet auf dem Anwesen jener Männer statt, die sich seit 20 Jahren in Sicherheit gewähnt haben und sich nun zu höheren Aufgaben auf nationaler Ebene emporschwingen. Unglaublich, welche Tricks Bosch wieder aus dem Hut zieht und auf welche Weise er den Erzbösewicht schließlich buchstäblich zu Boden zwingt. So bleibt die Lektüre bis zur letzten Seite spannend und fesselnd.

Stranger than fiction

Sicher, so manche Wendung sieht nach Zufall aus und wirkt möglicherweise unplausibel. Andererseits schlägt das reale Leben noch viel seltsamere Kapriolen, die sich ein Romanautor gar nicht erlauben darf. Mich hat der Thriller durchweg gut und spannend unterhalten.

Das Tabu

Das Thema der amerikanischen Kriegsverbrecher ist zudem sehr wichtig und harrt weiterhin immer noch der gründlichen Aufarbeitung. Dort, in der Operation Desert Storm, werden sich noch weitere Abgründe auftun. Und sie müssen nicht zwangsläufig mit der Suche nach „Massenvernichtungswaffen“ zu tun haben. Um mal mit dem Märchen zu sprechen: Schneewittchens Sarg harrt immer noch der Öffnung. Aber Connellys Roman ist ein erster Blick hinein.

Gebunden: 441 Seiten
O-Titel: The Black Box, 2012
Aus dem Englischen übersetzt von Sepp Leeb.
ISBN-13: 9783426199909

www.droemer-knaur.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)