Thrillerspannung im Doppelpack
In seinem 19. Fall ermittelt Harry Bosch zusammen mit seiner neuen Partnerin Lucia Soto vom Los Angeles Police Department in einem rätselhaften Mordfall, der weit in die Vergangenheit zurückreicht.. Vor zehn Jahren wurde der mexikanische Mariachi-Musiker Orlando Merced bei einem Live-Auftritt von einer angeblich verirrten Kugel schwer verletzt. Doch Harry Bosch glaubt nicht an diese offizielle Version. Wem galt die Kugel, die schließlich zu Merceds Tod führte, in Wirklichkeit? Und wer war der Schütze? Eine aufregende Spurensuche vor der Kulisse der US-Metropole Los Angeles nimmt ihren Lauf … (Verlagsinfo)
Und während Harry Bosch noch über dieses Rätsel grübelt, entdeckt er, dass seine neue Partnerin Lucia Soto insgeheim eine eigene Ermittlung gestartet hat. Sie will den kindlichen Opfern eines vor 20 Jahren gelegten Brandes Gerechtigkeit widerfahren lassen, dem sie als einzige lebend entkam.
Der Autor
Michael Connelly war jahrelang Polizeireporter in Los Angeles und lernte das Polizeigewerbe von außen kennen. Bekannt wurde er mit seinen Romanen um die Gesetzeshüter Harry Bosch und Terry McCaleb, zuletzt besonders aufgrund der Verfilmung von „Das zweite Herz / Bloodwork“ durch Clint Eastwood. Die zwei Thriller um den „Poeten“ harren immer noch ihrer Verfilmung.
Auch „Der Mandant“, der erste Roman um Harry Boschs Halbbruder, den Strafverteidiger Mickey Haller, ist hochkarätig verfilmt worden, doch es gab „künstlerische Differenzen“, und so wurde der Regisseur gefeuert. Inzwischen ist der Streifen mit Matthew McConnaughey in der Titelrolle auch auf DVD zu haben.
In der Folge erschienen „Echo Park“, „The Overlook / Kalter Tod“, „The Scarecrow“ und „Nine Dragons“ (siehe meine Berichte). „Der fünfte Zeuge“ ist Anfang 2013 bei Droemer Knaur auf Deutsch erscheinen. Mit Renee Ballard führte der Autor ein interessante Polizistin in die Reihe ein. Der Autor lebt mit seiner Familie in Tampa, Florida.
Handlung
Nach zehn Jahren ist Orlando Merced schließlich doch noch an einer Schusswunde gestorben, die er im April 2004 erhielt. Der mexikanische Musiker entspannte sich damals gerade auf der Mariachi Plaza im Latino-Viertel East Los Angeles, als ihn eine Kugel durch sein Saiteninstrument hindurch in den Bauch traf. Sie wurde von einem Brustwirbel gestoppt. Nun, nach seinem Tod, kann dieses ganz spezielle Projektil von der Rechtsmedizin in L.A. untersucht werden. Das Ergebnis ist eine Überraschung: Es stammt aus einem Jagdgewehr, einer Distanzwaffe. Vorher waren die Cops von einer Pistolenschuss aus einem vorbeifahrenden Auto oder einem Zufallstreffer ausgegangen.
Nicht nur das: Bei dem Projektil handelt sich um Jagdmunition, die durch den Aufprall im Körper verbreitert wird und somit mehr Schaden anrichtet. Ein Wunder, dass Orlando Merced dies überlebt hat, wundert sich Harry Bosch, der den bislang offenen Fall auf Befehl von ganz oben im Polizeipräsidium zugeschanzt bekommt. Bosch braucht nicht lange, um zu kapieren, dass an diesem Fall eine ganze Menge Politiker interessiert sind. Denn was zehn Jahre lang wie ein Zufallsopfer alltäglicher Gewalt aussah, ist plötzlich zu einem gezielt ausgesuchten Mordopfer geworden.
Blick in die Vergangenheit
Allen voran zeigt sich der ehemalige Bürgermeister von L.A., Armando Zeyas, der nun den Posten des kalifornischen Gouverneurs anstrebt, interessiert. Indem Zeyas den verwundeten Merced im Rollstuhl herumzeigte, sammelte er vor acht Jahren Sympathien – und errang so den Wahlsieg. Folglich passen Zeyas und dessen „politischer Berater“ Conner Spivak nun ganz genau auf, was bei Boschs Ermittlung herauskommt.
Dass Zeyas eine satte Belohnung für Hinweise aussetzt, die zur Ergreifung des oder der Mörder/s führen, erhöht die Publicity auf in Boschs Augen unerwünschte Weise. Wenige Minuten nach der Ankündigung durch die Medien steht sein Telefon nicht mehr still und er lässt alle Anrufe zu seinem Abteilungsleiter umleiten.
Demarkationslinie
Zusammen mit seiner neuen Partnerin Lucia Soto, einer erst 27 Jahre jungen Medienheldin, begibt er sich zum Tatort. Die Mariachi Plaza liegt im Gebiet der Latino-Gang der White Fence, aber nicht weit von der First Bridge entfernt – jenseits dieser bei Selbstmördern beliebten Brücke liegt das Gebiet der Weißen.
Die beiden Cops Rojas und Rodriguez haben hier 2004 ermittelt und Überwachungsvideos eingesammelt. Als wichtigsten Verdächtigen haben sie einen Bandenführer namens C.B. Gallardo verhört und ihn wegen einer Lappalie eingebuchtet. Er schlachtete gestohlene Autos aus und verhökerte den Schrott und die Einzelteile. Später klagte ihn des Mordes an. Aber was macht er heute?
Entdeckungen
Ein Besuch in dem renovierten Gebäude an der Plaza, das damals ein uraltes Hotel aus dem Jahr 1889 beherbergte, führt zu zwei Erkenntnissen: Erstens, dass sie beschattet werden, und zweitens, dass jeder unangemeldete Besuch zu einer Menge Aufregung und Sorge führt. Jetzt ist das Gebäude teils Apartments, teils Büros. Bosch fällt auf, dass Apartment Nr. 211 gesperrt ist. Wurde von hier der Schuss abgefeuert, fragt er sich.
Als er die forensische Auswertung der Ü-Videos vorgeführt bekommt, lenkt die Beamtin seinen Blick tatsächlich auf das ehemalige Hotelzimmer Nr. 211. Dort ist für den Bruchteil einer Sekunde das Aufblitzen von Mündungsfeuer zu sehen – eine Millisekunde, bevor Orlando Merced getroffen zusammenbricht. Doch die Schusslinien ergeben eine weitere Überraschung: Nicht Merced war das Ziel des unbekannten Schützen, sondern der Trompeter der kleinen Mariachi Band. Dieser Trompeter mit dem Namen Angel Ojeda ist seitdem spurlos verschwunden. Offenbar hat er verstanden, dass der Anschlag ihm galt.
Private Investigations
Schon in der ersten Nacht des neuen Falles macht Bosch eine unangenehme Entdeckung, was seine neue Partnerin betrifft. Sie hat ihm nicht ganze Wahrheit über sich erzählt. Als er spät abends nochmals ins Polizeigebäude geht, um zu arbeiten, ruft er sie an. Sie sagt, sie sei zu Hause, doch ihr Handy befindet sich im Büro. Nicht nur das: Als er dem Klingelton folgt, entdeckt er sie in einem Teil des Aktenarchivs, in dem sie nichts zu suchen hat. Sie kopiert alte Aktenordner. Nicht irgendwelche, sondern solche, die zu einem Fall aus dem Jahr 1993 gehören: die Brandstiftung in der Bonnie Brae Street.
Anno 1993: In einer unlizenzierten Kita, die sich in einem heruntergekommenen Mietsblock befand, wurde laut Cop-Theorie von einer der Latino-Gangs ein Feuer gelegt, um den Hausverwalter dazu zu bewegen, sie dort mit Drogen dealen zu lassen. Der Plan ging dergestalt nach hinten los, dass an den giftigen Rauchschwaden zwei erwachsene Lehrerinnen und ein halbes Dutzend Kinder erstickten. Lucia Soto war das einzige Kind, das die Feuerwehrmänner wiederbeleben konnten.
Nun will sie den Fall alleine und heimlich aufklären. Bosch macht ihr rasch klar, dass dieses Vorgehen sie ihre Karriere kosten könne, wenn nicht sogar ihre Freiheit. Er will ihr OFFIZIELL helfen. Aber das geht nur, wenn er die beiden Fälle miteinander verknüpft. Ein anonymer Anruf wegen der Zeyas-Belohnung genügt als Legitimation. Die Spur spürt zu einer Schießerei, an der Bosch selbst beteiligt war…
Mein Eindruck
Mittlerweile leben in Kalifornien mehr Bürger hispanischer Abstammung als angloamerikanischer, weißer Herkunft. Daher erschien es dem Erfolgsautor wohl ratsam, seine Handlung erneut in den Latino-Kreisen von Los Angeles und Umgebung spielen zu lassen. Da er sich als ehemaliger Polizeireporter stets auf seine Recherche verlassen hat, erweisen sich alle Angaben als solide und plausibel. Bosch, der inzwischen Spanisch gut versteht, aber nicht gut spricht, hat als Dolmetscherin seine neue Partnerin Lucia Soto dabei. Zusammen ergänzen sie sich gut und kommen rasch voran.
Wie so häufig in den Bosch-Romanen (und in US-Thrillern allgemein) treiben die Ermittler ihre Untersuchungen in gleich zwei Fällen voran. Das sorgt zwar für eine Menge Abwechslung, fordert aber den Leser, der nun wie ein Schießhund aufpassen muss, welche Namen, Orte und Fakten zu welchem Fall gehören. Wer unaufmerksam ist oder längere Pausen einlegt, kann da schon mal den Faden oder den Überblick verlieren.
Eine Verbindung, bitte!
Meine naheliegende Erwartung war, dass die beiden Fälle irgendetwas miteinander zu tun haben müssen. Lange musste ich warten, bis sich endlich so etwas wie eine Verbindung abzeichnete – und schließlich zweifelte ich auch noch am Schluss, ob wirklich eine Verbindung vorliegt. Spektakuläre Wendungen durch unerwartete Verknüpfungen sind die Sache Connellys nicht, sondern er ist eher ein systematischer Arbeiter, genau wie sein Held Harry Bosch. Dass die Verknüpfung immer wieder NICHT zustande kam, frustrierte mich zunehmend.
Weiterungen
Aber man kann seinen Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten. Der Leser muss dem folgen, was der Autor ihm erzählt, folgen oder das Buch zur Seite legen. Die erste Ermittlung um Merced/Ojeda/Broussard führt schließlich zu dem erwarteten Erfolg. Ihre Informantin können Bosch und Soto in letzter Sekunde vor dem Schlimmsten rette. Wieder mal hat Bosch Mist gebaut und nicht schnell genug nachgedacht, so dass er mit Soto der falschen Zielperson hinterherjagt. Aber wird er auch Zeyas, den potentiellen Mitwisser Broussards, drankriegen? Das hängt ganz von der „Kooperationsbereitschaft“ Conner Spivaks ab.
Der zweite Fall wird ebenfalls wasserdicht abgeschlossen. Zunächst sieht der Brand in der Kita wie schon der Merced-Schuss wie ein Akt der Latino-Gangs aus, aber das trifft nicht zu. Die Botschaft ist klar: Die Behörden und die Medien sollten nicht alle Verbrechen auf das Konto dieser Gangs gehen lassen. Wie sich herausstellt, war der Brand nur das Ablenkungsmanöver einer kleinen Bande, die eine Scheckauszahlungsstelle überfallen wollte.
Muttertag
Diese Scheckauszahlungsstellen, ein Kuriosum des amerikanischen Alltags, weckten mein Interesse. Die Schecks, die Berechtigte hier einlösen, kommen nämlich von den Sozialkassen der US-Regierung, und ihre Empfänger sind von der Wohlfahrt abhängige Rentner, Invaliden – und vor allem Mütter. Deshalb heißt der Tag, an dem die Schecks eintreffen, „Muttertag“.
Das hat aber nicht mit unserem Muttertag zu tun. Die Bezeichnung kam zustande, weil an diesem Tag die Kinder dieser Wohlfahrtsempfänger ihre Mütter besuchen, um selbst das Geld einzusacken, das die Mütter zuvor an der Scheckauszahlungsstelle ausgezahlt bekommen haben. Die Kinder, das sind häufig Mitglieder der Latino-Gangs, die es wirklich nicht nötig haben, ihre Mütter abzuzocken.
Schwester Esi
In der Scheckauszahlungsstelle arbeitete anno 1993 eine Latina namens Ana Maria Acevedo. Sie ist seitdem spurlos verschwunden. Aber wie sich nun herausstellt, war sie die Insiderin, die den Räubern nicht nur den Tipp gab, sondern auch die sonst gesicherte Tür öffnete. Die Räuber haben ihr verdientes, höchst blutiges Ende gefunden, wie Bosch selbst bezeugen kann. Doch was wurde aus Ana Acevedo, fragt er sich.
Ihre Spur führt zu einem klitzekleinen Nonnenkloster an der Grenze zu Mexiko, wo sie als Schwester Esther alias Esi ihre Missionsarbeit ausübte. Sie wurde vor kurzem ein Opfer der Drogenkartelle, finden Bosch und Soto heraus. Doch was sie in Schwester Esis spärlichen Habseligkeiten finden, überzeugt sie, dass sie hier Ana Acevedo vor sich haben. Doch warum nannte sie sich ausgerechnet nach jener Lehrerin, die in dem Brand in der Bonnie Brae Street ums Leben kam? Dafür hat Lucia Soto eine einleuchtende Erklärung…
Unterm Strich
Die doppelte Ermittlung in den Kreisen der Latinos von L.A. und ihrer Ausbeuter will und will nicht zusammenkommen. Dass die beiden Fälle miteinander zu tun haben, ist eine Grundannahme des Lesers und er erwartet wie ich, dass die beiden parallel geführten Stränge sich nicht wie parallele geraden irgendwo in der Unendlichkeit treffen, sondern sich irgendwann mal kreuzen müssen. Anknüpfungspunkte gäbe es unzählige – leider einer unplausibler als der andere.
Ausbrecher
Das dürfte auch den Autor bewogen haben, ein ganz anderes literarisches Prinzip anzuwenden, nämlich das der Spiegelung. Die Schlüsselfiguren in diesem Beziehungsgeflecht sind die Frauen. Ana Acevedo ist das Gegenteil zu Maria Broussard. Sie hilft bei einem blutigen Verbrechen, um aus ihrer Slum-Existenz (mit gleich zwei Lovern) auszubrechen, während Maria Broussard auszubrechen versucht, indem sie eine Affäre mit Angel Ojeda anfängt.
In beiden Fällen führt dieses Ausbrechen zu Opfern, die gar nicht beabsichtigt waren: einmal in der Bonnie-Brae-Kita, einmal auf der Mariachi Plaza. Interessant ist für die Ermittler aufzudecken, was auf den jeweiligen Frauen geworden ist. So stößt das dynamische Duo auf Alicia, die quasi als Gefangene im Broussard-Haushalt gehalten wird. Sie gilt es zu befreien, und das gelingt, nicht zuletzt wegen Boschs Fehler, erst in letzter Sekunde. Ein feiner Showdown.
Aber es gibt noch eine dritte Frau, die ausgebrochen ist: Lucia Soto selbst. Während Ana Acevedo ins Kloster ging, ist Lucia zur Polizei gegangen. So kann sie wenigstens für ein bisschen Gerechtigkeit auf der Straße sorgen, hat sie gehofft. Dass sie dabei einen Polizeipartner verloren und als Revolverheldin von den Medien gefeiert wird, hätte sie am wenigsten erwartet. Nun ist ihr Arbeit als Rächerin für das Bonnie-Brae-Feuer umso schwieriger, als alle ihr auf die Finger schauen. Aber Harry Bosch, der genauso gepolt ist, hilft ihr.
Geduld und Akribie
Der Leser muss schon ein wenig nachdenken, um auf diese Zusammenhänge zu stoßen. Vor allem braucht er eine Engelsgeduld, um der akribische Ermittlungsarbeit der beiden Ermittler zu folgen. Allein die Beschreibung der Entdeckung der vielen Waffen, die der verblichene David Willman in seiner angeblich von der Polizei ausgeräumten Garage zurückgelassen hat, ist ein Meisterstück. Jeder Handgriff sitzt, jede Ortsbeschreibung, jede Vorgehensweise, jede Meldung – und alles vor den entsetzten Augen einer hochschwangeren Hausbesitzerin, die dachte, ihr neues Haus wäre frei von den Schatten der Vergangenheit.
Bei Szenen wie dieser merkt der Leser, dass er sich bei einem Erzähler wie Connelly in den besten Händen befindet – auch wenn sich die Geraden erst in der Unendlichkeit treffen dürften. Sein Held Bosch erzieht seine Tochter Maddie ebenfalls zu einer Polizistin, und wie er mit der Chefreporterin von der „L.A. Times“ umgeht, ist von feiner Ironie umrankt.
Zwitschern
Das verdeckt keineswegs seine Kritik an dem Verlust, den das Verschwinden der gedruckten Zeitung als Autorität der öffentlichen Meinung darstellt. Aus Printmedien sind Online-Medien geworden, und wer keinen X- oder Insta- oder Telegram-Account besitzt und ihn zum Hinausposaunen nutzt, existiert praktisch nicht.
Wieder mal erweist sich ein Bosch-Roman als anrührende, relevante Kritik an der US-amerikanischen Wirklichkeit, betrachtet aus dem Blickwinkel der Latinos, die heute in Kalifornien die Mehrheit stellen. Das „brennende Zimmer“ des Originaltitels – es befindet sich gleich direkt hinter der Oberfläche der schönen, neuen Realität, und wehe dem, der die Tür dorthin öffnet. Er muss schon das Format eines Harry Bosch haben, um die Folgen zu überstehen.
Gebunden: 461 Seiten.
O-Titel: The Burning Room, 2014
Aus dem Englischen von Sepp Leeb.
ISBN-13: 9783426281437
Der Autor vergibt: