Die Wiederaufnahme eines Mordfalls stört erheblich jene, die einst dafür verantwortlich waren. Zwei hartnäckige Polizisten geraten unter Druck, der sich zur Lebensgefahr steigert, als sie der Wahrheit näherkommen … – Der 19. Band der Harry-Bosch-Reihe bietet weder inhaltlich noch formal Neues, sondern bewährte Krimi-Unterhaltung auf hohem Niveau, wobei im Detail weiterhin Bizarres & Boshaftes zu entdecken ist: Autor Connelly behält sein scharfes Auge für die Grauzonen der US-Gesellschaft.
Das geschieht:
Straßenmusiker Orlando Merced hatte vor zehn Jahren offenbar das Pech, in den sinnlosen Schusswechsel einer jener Gangs zu geraten, die in Los Angeles ihre ‚Reviere‘ verteidigen. Zwar überlebte er die Kugel, die ihn in den Bauch traf, aber er blieb querschnittsgelähmt und wurde nie wieder gesund. Nun haben ihn die Spätfolgen seiner Verletzung umgebracht – und erst jetzt kann das Projektil aus seinem Körper geschnitten werden, was zuvor aus medizinischer Sicht zu gefährlich war.
Die Kugel wurde aus einem Jagdgewehr abgefeuert. Gangs bevorzugen Faustfeuerwaffen oder Maschinenpistolen. Offenbar wurde Merced gezielt beschossen. Die Behörden beschließen, den Fall wieder aufzurollen und als Mord zu behandeln. Das L. A. Police Department betraut die Abteilung „Offen-Ungelöst“ und hier den ältesten und erfahrensten Mitarbeiter: Detective Hieronymus „Harry“ Bosch, der sofort ahnt, dass hier nicht unbedingt der Fall im Vordergrund steht, sondern Politiker ihre Finger im Spiel haben. Merced wird als Mitglied der rassistisch abgehängten hispanischen Minderheit instrumentalisiert, was die Medien begierig aufgreifen.
Während Bosch weiß, wie er dem Druck ausweichen kann, gerät seine neue Partnerin in Bedrängnis. Lucia Soto ist ein leichtes Opfer im politischen Intrigenspiel, zumal sie heimlich in einem Fall ermittelt, der sie selbst betrifft: ein gefährliches Manöver, das jenen, die aus guten Gründen verhindern wollen, dass die Wahrheit hinter dem Fall Merced offenbart wird, willkommene Munition für hinterlistige Gegenmaßnahmen liefern könnte. Im Dienst der gerechten Sache greift ihr Bosch auch hier hilfreich unter die Arme. In den folgenden Tagen verfolgen die Detectives die beiden Fälle parallel. Wider Erwarten kommen sie gut voran, was zumindest im Fall Merced für Unruhe in den Oberetagen der lokalen Macht sorgt: Anscheinend wurde dieser Opfer eines Komplotts, das nie aufgeklärt wurde, weil sich die Beteiligten auf eine für alle lukrative Lösung einigten, die man keineswegs durch Bosch und Soto aufgedeckt sehen will …
Alter aber nicht müder Spürhund
Die Uhr tickt – für Harry Bosch, dessen letztes Jahr als aktiver Ermittler im Dienst der Polizei von Los Angeles angebrochen ist. Mit allen Tricks klammert er sich trotz mehrfacher Suspendierungen und ungeachtet aller Bemühungen, den alten Detective endlich loszuwerden, hartnäckig an seinen Job, der für Bosch sein Leben ist.
Gerade dass er ein geborener und durch lange Berufserfahrung geschulter Polizist ist, macht ihm zwar die Arbeit leichter aber dem System den Umgang mit einem Mann schwer, der sich nicht mehr und durch hohe Ränge noch nie beeindrucken ließ. Für Autor Michael Connelly ist Harry Bosch ein Symbol für vergangene Zeiten, die keineswegs besser aber ‚menschlicher‘ waren. In der globalisierten Gegenwart ist auch die Polizei zu einem Betrieb geworden, der rationalisiert und auf ‚Erfolg‘ getrimmt wird, was nach Ansicht von Bürokraten und Politikern in erster Linie bedeutet, Kosten zu senken und Straftäter vor Gericht zu bringen. Bosch definiert seinen Job dagegen altmodisch: Er will Verbrechen aufklären und zukünftige Straftaten verhindern, indem er notorische Gesetzesbrecher von der Straße holt. An dieser rigorosen Haltung ist vor kurzem eine Beziehung zerbrochen, da Harry kein gutes Wort für den einsitzenden Sohn seiner Freundin einlegen wollte: Rehabilitierung ist kein Wort, das auf der Werteskala von Harry Bosch einen der oberen Ränge belegt.
So muss dieser Mann, der sich nur in kriminalistischer Hinsicht an die Vorschriften hält, praktisch immer wieder anecken, obwohl man ihn bereits dorthin abgeschoben hat, wo er eigentlich Ruhe geben müsste: Die Abteilung „Offen-Ungelöst“ ist für ‚kalte“ Straftaten zuständig, sodass Bosch theoretisch bei den Ermittlungen niemand auf die Füße treten müsste. Doch böse Taten bzw. ihre Folgen lösen sich keineswegs in Nichts auf. Stattdessen sehen sich plötzlich Verbrecher in Gefahr, die nicht erwischt wurden und es womöglich zu Vermögen, Prominenz und Einfluss gebracht haben.
Penetrantes Bohren bis hinab zur Wunde
Natürlich beschränkt sich Bosch nicht darauf, den Mörder des Pechvogels Orlando Merced zu fassen, wie es ihm befohlen wurde. Er stochert weiter und enthüllt allmählich ein Mordkomplott ganz anderer Dimension. Dabei gerät er zum Verdruss seiner Vorgesetzten an Politiker und Geschäftsleute, die über Geld, Verbindungen und Anwälte Druck ausüben. Bosch ist dagegen immun, während die genannten Vorgesetzten weiter im System aufsteigen und es sich dabei mit niemandem verderben wollen.
Aus der daraus resultierenden Spannung bezieht „Scharfschuss“ eine Dynamik, die einer ansonsten recht schleppenden Handlung auf die Sprünge hilft. Ein grundsätzliches Problem liegt in der Zweiteilung des Geschehens. Connelly lässt Bosch in zwei Fällen ermitteln, die nichts miteinander zu tun haben. Zwar begeht er nicht den Fehler, eine solche Verbindung plötzlich doch aus dem Hut zu zaubern, doch auf diese Weise wird umso deutlicher, dass die Handlung immer wieder ‚springt‘.
Zudem ist „Scharfschuss“ ein „Whodunit“, der die Ermittlungsarbeit ins Zentrum der Schilderung rückt. Connelly hält den Kontakt zur Polizei und ist gleichermaßen über forensische Methoden wie über administrative Veränderungen informiert. Diese Fakten lässt er geschickt und unaufdringlich in seine Geschichte einfließen und mischt hin und wieder typische = bizarre, absurde und blutige Polizei-Anekdoten darunter. Ermittlerarbeit besteht jedoch primär aus Routinen und aus viel Fußarbeit, Telefonaten und Internet-Recherchen sowie Irrtümern und Sackgassen. Auf diesen Weg nimmt uns Connelly unerbittlich mit. Selbstverständlich ist es faszinierend zu beobachten, wie Bosch und Soto Steinchen für Steinchen zum endgültigen Fall zusammenfügen, aber es hat auch Längen, zumal es wie gesagt zweimal geschieht.
Action – nachgereicht
Gerade weil Connelly so systematisch vorgeht, fällt auf, wie unvermittelt er ein dramatisches Finale weniger inszeniert als vom Zaun bricht. Irgendwann nach Seite 400 beschloss der Autor, allmählich zum Schluss zu kommen, und ließ Harry Bosch urplötzlich einen dummen Fehler begehen, der eine Zeugin in Lebensgefahr bringt, woraus sich eine rasante Rettungsfahrt mit Schusswechsel entwickelt. Fall 2 wird den Beamten im Bemühen um Kontrast quasi vom Schicksal aus der Hand genommen; eine funktionierende aber keineswegs originelle Auflösung.
Ansonsten vergeht viel Zeit, wenn Harry Bosch und Lucia Sota sich zusammenraufen. Alter Hase – unerfahrener Neuling: Diese Konstellation ist nicht nur im Cop-Thriller klassisch. Sie funktioniert auch hier, weil Connelly schreiben kann. Gleichzeitig fällt durchaus auf, dass er auch für diese Geschichte einer ungleichen Freundschaft vor allem Routinen bemüht. Immerhin hält er Bosch-Tochter Maddy weitgehend handlungsfern und umschifft damit sein Problem, ‚echte‘ Gefühle zu vermitteln; sie entgleiten Connelly zuverlässig endgültig, wenn er sich an einer Liebesnacht versucht. Auch damit verschont uns der Verfasser dieses Mal.
Um die relative Ereignisarmut des Finales ein wenig auszugleichen, lässt Connelly „Scharfschuss“ mit einem Knalleffekt für Harry Bosch enden. Wir erleben mit, wie er gedemütigt und unter einem Vorwand aus dem Dienst gejagt wird: Das System nimmt sich Bosch vor, und es ist Connelly zu verdanken, dass diese Gefahr sehr viel bedrohlicher wirkt als ein Schurken-Colt, der auf unseren Anti-Helden gerichtet wird. Auch das ist ein Trick, aber wir wollen trotzdem wissen, wie es nun mit Harry Bosch weitergeht!
Autor
Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.
Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.
Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida. Über das Connellyversum informiert stets aktuell dieser Website:www.michaelconnelly.com.
Gebunden: 458 Seiten
Originaltitel: The Burning Room (New York : Little, Brown and Company 2014)
Übersetzung: Sepp Leeb
www.droemer-knaur.de
E-Book: 1215 KB
ISBN-13: 978-3-426-44009-4
www.droemer-knaur.de
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