Walter M. Miller jr. / Terry Bisson – Ein Hohelied für Leibowitz

Das geschieht:

Die menschliche Zivilisation ist vor zwölf Jahrhunderten im atomaren Feuer eines dritten Weltkriegs untergegangen. Auf den Ruinen versuchten die Überlebenden eine neue Welt aufzubauen. Im Jahre 3244 ist Nordamerika noch immer ein weitgehend menschenleerer Kontinent mit unzugänglichen Todeszonen. In den unbelasteten Regionen sind zahlreiche Territorien entstanden, die miteinander um die Vorherrschaft ringen. Wehrhafte Nomadenstämme durchstreifen das Land. In abgelegenen Winkeln suchen genetisch geschädigte Mutanten Zuflucht.

Zwischen allen Stühlen sitzt die Katholische Kirche. Wie einst im Mittelalter beschränkt sie sich nicht auf gottes- und seelsorgerische Dienste. Ein Netz von Klöstern, Pfarrkirchen und Missionsstationen überzieht Nordamerika. Dort wird das Wissen vergangener Zeiten gesammelt und weitergegeben. Die Abtei St. Leibowitz ist eine dieser Bastionen von Wissenschaft und Kultur. Hier lebt und arbeitet der junge Mönch Schwarzzahn St. Georg. Der Sohn sesshaft gewordener Nomaden hat nur aus Mangel an Alternativen die geistliche Laufbahn eingeschlagen. Er will dem Orden den Rücken kehren. Der Abt hofft Schwarzzahn umzustimmen. Er vermittelt ihn an Elia Kardinal Braunpony, den er als Dolmetscher in die Stadt Valana begleiten soll. Dort weilt der Papst, das Oberhaupt der Kirche und aller Christen.

Ursprünglich residierten die Päpste in New Rome an den Ufern des Mississippis. Doch die Stadt wurde von den Truppen des Reiches von Texarkana besetzt, das seit Jahrzehnten der Clan der Hannegans diktatorisch führt. In New Rome haben die Hannegans einen eigenen Papst eingesetzt.

Nun scheint sich ein Ende des Schismas abzuzeichnen. Beide Päpste sind gestorben. Doch die Vertreter der Kirche und der Hannegans setzen sich gegenseitig matt. Braunpony schickt Schwarzzahn als Botschafter in die Mutanten-Kolonie New Jerusalem. Er soll die Bewohner auf seine Seite ziehen. Der Kardinal lässt sich zum Apostolischen Vikar für die drei größten Nomadenstämme ernennen – ein Fehler, denn diese lassen sich nicht kontrollieren und verheeren die texarkanischen Grenzterritorien. Hannegan VII. droht mit Vergeltungsschlägen. Kardinal Braunpony und Schwarzzahn ziehen in die Hauptstadt des Reiches, um zu vermitteln, doch Hannegan lässt sie ins Gefängnis werfen. Der Konflikt flammt zum Kreuzzug auf, der ganz Nordamerika in einen neuen Abgrund zu reißen droht …

Chronik einer (noch) nicht existierenden Welt

Selbst eine nur skizzierte Inhaltsangabe zum vorliegenden Roman zu verfassen, wird rasch zur Herausforderung. Nicht der Seitenumfang ist das Problem, sondern die unglaubliche Komplexität der Geschichte. Mit überbordender Detailfreude entwirft Walter M. Miller jr. sein postatomares Nordamerika. Er skizziert keine Mad-Max-Öde, in der nach dem großen Knall zerlumpte Überlebende einander stumpfsinnig durch sonnenverbrannte Steinwüsten jagen, sondern erschafft eine ganze Welt samt historischem, politischem und gesellschaftlich-kulturellem Unterbau.

Sein unerhörter inhaltlicher Reichtum macht die Bedeutung dieses Romans aus. Ansonsten geschieht verhältnismäßig wenig. Wenn Miller seine Figuren reisen lässt, tut er das in erster Linie, um seinem Mosaik ein weiteres Steinchen einzufügen. Hat man sich erst einmal eingelesen und sich an Millers sehr eigenen Stil gewöhnt, macht es einen Heidenspaß zu verfolgen, wie versiert der Autor mit barocker Sprachgewalt Puzzlestück um Puzzlestück zu einem stimmigen und eindrucksvollen Mosaik zusammensetzt.

Er spart dabei nicht mit ironischen, sarkastischen und auch zynischen Kommentaren, wie überhaupt sein Weltbild recht pessimistisch ist. Die Menschheit lernt nicht dazu, und Geschichte wiederholt sich – im Guten, aber besonders im Bösen, so Millers Sicht der Dinge. Nicht grundlos erinnert sein Amerika an Europa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, zersplittert in unzählige Königreiche, Fürstentümer, Grafschaften, Reichsstädte und Bistümer und zerrissen durch einen jahrzehntelangen Glaubensstreit.

Worum geht es eigentlich?

In seiner Stärke liegt allerdings auch die einzige echte Schwäche des Buches. Miller übertreibt es mit seinen Abschweifungen, Anekdoten und Exkursen. Dann tritt die Handlung auf der Stelle, was deutlich macht, dass Miller – absichtlich oder notgedrungen – kein Meister darin war, eine Geschichte einem roten Faden folgen zu lassen. Schon der erste Leibowitz-Roman war eigentlich keiner, sondern eine (mehr oder weniger gelungene) Verknüpfung dreier Novellen.

„Ein Hohelied für Leibowitz“ ist ein sperriger und gewiss nicht ‚einfach‘ zu lesender Roman. Umso dankbarer muss man sein, dass der Heyne-Verlag ihn einst in sein Programm aufnahm. Ob dies heutzutage noch möglich wäre, ist fraglich. Bücher wie dieses sind wie Juwelen, die sich zwischen dem Schutt der immer gleichen Endlos-Serien nur selten entdecken lassen.

Im Loblied auf den Verfasser sollte die Übersetzerin (Isabella Bruckmann) nicht vergessen werden. Es muss eine fürchterliche Plackerei gewesen sein, Millers Anspielungen, die zitierten ‚historischen‘ Quellen, die historischen, theologischen, juristischen (etc.) Fachtermini sowie die Wortspiele zu übertragen, ohne dass diese ihren Sinn verloren.

Vom Gipfel geht es nur noch bergab

Mindestens ebenso interessant wie der Roman ist seine Entstehungsgeschichte. Walter M. Miller jr. (1923-1995) verkörperte ein Phänomen der Literatur-Szene: das „One-Hit-Wonder“. 1959 debütierte Miller mit dem „Post-Doomsday“-Roman „A Canticle for Leibowitz“ (dt. „Lobgesang auf Leibowitz“). Dieses Werk schlug ein wie die sprichwörtliche Bombe, fand allgemeine Anerkennung, wurde millionenfach verkauft und war niemals vergriffen.

Kritiker und Leser warteten gespannt auf das nächste Buch ihres neuen Lieblingskindes, doch Miller, der vor dem „Lobgesang“ 41 Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht hatte, zog sich völlig zurück. Nach Aussagen der wenigen Personen, die ihn näher kannten, war er ein schwieriger, unzugänglicher Mann, den der plötzliche Ruhm überforderte und der sich angesichts seines erfolgreichen Erstlings unter lähmenden Erwartungsdruck gesetzt sah.

Miller begann mit Gott und der Welt zu streiten und brach schließlich sogar den Kontakt zur eigenen Familie weitgehend ab. Für seine Leser wurde er zu einer mystischen Gestalt, einem J. D. Salinger der Science Fiction. Daher war es eine Sensation, als Anfang der 1990er Jahre Gerüchte aufkamen, dass Miller an einer Fortsetzung seiner Leibowitz-Saga arbeite.

Tatsächlich versuchte Miller ein (hoch honoriertes) Comeback. Obwohl er sich weiterhin der Außenwelt verweigerte, sickerte durch, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Geschichte zu erzählen. Jahr um Jahr musste ihr Erscheinen verschoben werden. Die Geduld des Verlags darf als Indiz für den Ruf betrachtet werden, den der geheimnisumwitterte Autor trotz seines Schweigens genoss.

Das Drama vollendet sich

Miller gab schließlich zu, in eine Sackgasse geraten zu sein. Mit seiner Zustimmung wurde der Schriftsteller Terry Bisson hinzugezogen. Dieser hatte sich bisher mit eigenen Werken in der SF-Szene nicht hervorgetan. Er schlug sich als Söldner der Feder mit Auftragsarbeiten durch und galt als zuverlässiger und schneller Lieferant leicht lesbarer Gebrauchsliteratur. Sein Job als „Script-Doktor“ für Miller sollte tunlichst geheim bleiben, die unterschlagene Nennung als Co-Autor mit Geld aufgewogen werden.

Das Schicksal wollte es, dass Bissons Wirken im Hintergrund doch gewürdigt wurde: Noch bevor er die persönliche Zusammenarbeit mit Miller beginnen konnte, beging dieser am 11. Januar 1996 Selbstmord. Miller litt im Alter unter schweren Depressionen, die zweifellos zu seinen Schreibblockaden beitrugen. Nach 50-jähriger Ehe war er außerdem gerade Witwer geworden.

Bisson übernahm und überarbeitete das wider Erwarten sehr weit fortgeschrittene Manuskript allein und gab ihm seinen Schluss. Nach vierzig Jahren und trotz seines Todes war Miller ein Comeback gelungen – eine Geschichte, wie sie in der Abtei St. Leibowitz nicht schöner hätte erzählt werden können. (Einen Einblick in Millers Leben und die verwickelte Entstehungsgeschichte seines zweiten und letzten Romans ermöglichen ein Vorwort von Carl Amery und ein „Lobgesang auf Miller“ von Terry Bisson, die der deutschen Ausgabe dankenswerterweise beigefügt wurden.)

Taschenbuch: 668 Seiten
Originaltitel: Saint Leibowitz and the Wild Horse Woman (New York : Bantam Dell Publishing Group 1997)
Übersetzung: Isabella Bruckmann
Titelbild: Karel Thole
http://www.randomhouse.de/heyne

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