Montague Rhodes James – Sämtliche Geistergeschichten (Band 1)

19 Geschichten erzählen von bösartigen, sogar mörderischen Gespenstern, die von neugierigen Pechvögeln ohne Kenntnis der Folgen geweckt werden und diesen grausam zu Leibe rücken … – Klassisch angelsächsischer Spuk der Sonderklasse: Spannender, gruseliger und humorvoller geht es eigentlich nicht, weshalb bereits dieser erste Teil einer zweibändigen Sammlung sämtlicher „Ghost Stories“ von M. R. James ein Geschenk für den Genre-Freund ist. Eine behutsam modernisierende Übersetzung, drei informative Vorwörter sowie schauerlich-schöne Illustrationen sorgen für ein Buch, das sich der Horror-Freund einst mit in den Sarg legen lassen wird!

Inhalt:

– Vorwort des Herausgebers (Editor’s Note, 2012), S. 9-13

– Gespenster – geht behutsam mit ihnen um! (Ghosts – Treat Them Gently!, 1931), S. 15-20

– Gespenstergeschichten (Ghost Stories, 1880), S. 21-25

– Die Sammlung des Domherren Alberic (Canon Alberic’s Scrap-book, 1895), S. 26-41: Was den besagten Kirchenmann einst in Todesangst versetzte, ist nun auch einem wissbegierigen Historiker auf den Fersen.

– Eine Herzenssache (Lost Hearts, 1895), S. 42-55: Der nur vorgeblich freundliche Verwandte hat Schlimmes mit seinem Waisen-Neffen vor, doch die Opfer seiner früheren Verbrechen kommen ihm zuvor.

– Die Esche (The Ash-tree, 1904), S. 56-74: Was die Hexe ihrem Richter vor dem Scheiterhaufen-Tod vage andeutete, wird noch Jahrzehnte später grässliche Realität.

– Graf Magnus (Count Magnus, 1904), S. 75-94: Bereits zu seinen Lebzeiten war Magnus ein Jünger des Teufels und ein Schinder, und nach seinem Tod ist er sogar noch bösartiger.

– Die Mezzotinto-Radierung (The Mezzotint, 1904), S. 95-110: Eine schaurige Untat wurde im Bild festgehalten, wo sie sich vor den Augen entsetzter Betrachter neu abspielt.

– Nummer 13 (Number 13, 1904), S. 111-130: Hotelzimmer Nr. 13 scheint nur ab Mitternacht zu existieren, was die anderen Gäste solange interessant finden, bis sein gruseliger Bewohner sich bemerkbar macht.

– „Pfeif nur, dann eil ich zu dir, mein Freund!“ („Oh, Whistle, and I’ll Come to You, My Lad“, 1904), S. 131-155: Der Ton dieser Pfeife ruft des Nachts etwas herbei, dem der unbedachte Bläser nie begegnen wollte.

– Der Schatz des Abtes Thomas (The Treasure of Abbot Thomas, 1904), S. 156-180: Besagter Abt war keineswegs fromm und beobachtet deshalb auch nach dem Tod gern, wie ahnungslose Schatzsucher seinem dämonischen Wächter in die Falle gehen.

– Das Chorgestühl der Kathedrale von Barchester (The Stalls of Barchester Cathedral, 1910), S. 181-203: Ein auf Erden perfekter Mord bleibt übernatürlichen Kräften weder verborgen noch ungesühnt.

– Die Macht der Runen (Casting the Runes, 1911), S. 204-234: Wenn Mr. Karswell beleidigt ist, schickt er Dämonen aus, die das ins Visier geratene Opfer nur schwer wieder loswird.

– Die endlose Liebe der Ann Clark (Martin’s Close, 1911), S. 235-264: Ein schlechter Scherz sicherte ihm die Liebe einer Frau, die auch nach ihrem schauerlichen Ende nicht von ihm lassen will.

– Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys (Mr. Humphries an His Inheritance, 1911), S. 265-299: Der zunächst erfreute Erbe kennt die Geschichte seiner Vorfahren nicht, weshalb ihn des Nachts ein aus der Familiengeschichte getilgter Vorfahre seine Aufwartung machen kann.

– Der Rosengarten (The Rose Garden, 1911), S. 300-315: Für die geplante Blumenpracht haben die ahnungslosen Neu-Eigentümer eine Ecke ihres Grundstücks ausgesucht, in der man lieber nicht graben sollte.

– Eine Schulgeschichte (A School Story, 1911), S. 316-325: Was den beliebten Lehrer bedrückte oder sogar verfolgte, wird erst Jahrzehnte nach seinem spurlosen Verschwinden bekannt.

– Der Traktat Middoth (The Tractate Middoth, 1911), S. 326-348: Der sündige Onkel hat sein Erbe übernatürlich gesichert, weshalb der gierige Neffe versucht, arglose Pechvögel die Kohlen aus dem Fluch-Feuer holen zu lassen.

– Jemand verschwindet, jemand erscheint (The Story of a Disappearance and an Appearance, 1913), S. 349-368: Wer fehlt, muss dafür bestraft werden; dies war sein Motto, dem der verschollene Pfarrer auch nach seinem Tod konsequent treu bleibt.

– Die Ruhestätte der Lamia (An Episode of Cathedral History, 1914), S. 369-393, Als beim Umbau einer Kirche ein altes Grab entdeckt wird, geht in den folgenden Nächten dessen gespenstischer Bewohner mächtig um.

– Das Tagebuch des Mr. Poynter (The Diary of Mr. Poynter, 1919), S. 392-406: Ein bei Tageslicht hübsches Stoffmuster entwickelt des Nachts ein erschreckendes Eigenleben.

– Die Stiftsresidenz in Whitminster (The Residence at Whitminster, 1919), S. 407-440: Was der junge, böse Lord aus Irland mitbrachte, bringt erst ihm einen jämmerlichen Tod und lauert viele Jahre später auf neue Opfer.

– Quellenverzeichnis, S. 443-445

Mausetot aber verfolgungsflink & bitterböse

M. R. James ist der König der klassischen Geistergeschichte. Darin treiben traditionell Spukbolde ihr Unwesen, die erstens tot und zweitens böse sind. Die Gründe, die sie zu ebensolchen Taten treiben, sind simpel. Meist hat man ihnen zu Lebzeiten übel mitgespielt, was sie nun im Tod zur Rache anspornt. Dazu kommt es erst recht, wenn sich besagter Geist bereits im Leben als unsympathischer, krimineller oder gar schwarzmagischer Zeitgenosse einen einschlägigen Ruf erworben hat: Solche Fieslinge bleiben nach ihrem Ende oft präsent. Sie scheinen unter ihrer Jenseits-‚Existenz‘ nicht einmal zu leiden. Stattdessen warten sie gehässig darauf, dass ihnen ahnungslose Pechvögel in die Falle gehen („Der Schatz des Abtes Thomas“, „Der Traktat Middoth“).

Obwohl James Geburt und Aufstieg der modernen Psychologie miterlebte, schlugen sich die Erkenntnisse dieser Wissenschaft höchstens marginal in seinen Erzählungen nieder. Komplizierte Werdegänge vom Leben in den Tod gibt es bei ihm nicht. Die Kreaturen der Nacht sind Schattenzeugen böser Taten. Auch der Drang, sich mit dem Teufel zu verbünden, um auf diese Weise Macht und ewiges Leben zu erringen, wird auf diese Weise quittiert („Eine Herzenssache“, „Graf Magnus“, „Nummer 13“, „Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys“, „Der Rosengarten“).

Manchmal sind sie gänzlich im Jenseits beheimatet: Dämonen („Die Sammlung des Domherren Alberic“) oder Naturgeister („‚Pfeif nur, dann eil ich zu dir, mein Freund!‘“), denen man trotzdem im Diesseits nicht über den Weg laufen sollte. Sie sind von Natur aus böse und erst recht gereizt, wenn man sie irgendwann in der Vergangenheit ausgetrickst und eingesperrt hat. Oft müssen sie jenen Satanisten, die weiter oben bereits Erwähnung fanden, auch nach deren Tod zu Willen sein („Graf Magnus“, „Der Schatz des Abtes Thomas“), was sie mit beachtlichem Diensteifer befolgen. Dankbarkeit darf man nicht erwarten, wenn man sie befreit; man kann sich glücklich schätzen, wenn das Phantom einfach die Flucht ergreift („Die Ruhestätte der Lamia“).

Entdeckerfreude weicht jäher Erkenntnis

Die typischen ‚Helden‘ einer James-Story sind denkbar unauffällige Männer und Junggesellen, denn zu James‘ Lebzeiten und erst recht in seinem alltäglichen Lebensumfeld hatten die Herren der Schöpfung, wie sie sich sahen, das Sagen. Solche gediegenen Herren würden entschieden jeden Hang zum Abenteuer leugnen. Vor allem Gelehrte geraten ausgerechnet in Archiven, Bibliotheken oder Museen in Schwierigkeiten, weil sie dort einem Geheimnis auf die Schliche kommen, das Zeit und Staub schon unter sich begraben hatten. Dafür gibt es Gründe, die zunächst jedoch von Entdeckerfreude verdrängt werden. Im Namen der Wissenschaft machen sich unsere weltfremden Sucher dorthin auf, wo die Lösung eines historischen Rätsels oder gar ein Schatz auf sie warten.

Während der Autor seinem Publikum bereits früh signalisiert, dass es da einen Haken gibt, bleibt der Suchende aufreizend ahnungslos. Auf diese Weise steigt die Lektüre-Spannung, denn irgendwann schwebt das Verderben buchstäblich über unserer Hauptfigur. Wird das Böse siegen oder gelingt die Flucht? Die Partie ist ausgeglichen; selbst wenn der Held – selten ohne Schock und Narben – entwischt, wird jemand an seiner Stelle einen üblen Tod erleiden.

Unwissen schützt vor Strafe nicht. Wer den Geistern in die Fänge gerät, trägt die Folgen. Das klingt unfair, zumal die meisten James-Protagonisten reinen Herzens sind. Selbst der beinahe zu Tode gehetzte Mr. Dunning, der den von Mr. Karswell ausgesprochenen Fluch auf diesen zurückwerfen kann, ohne dass dieser es merkt, schickt dem bösen Feind ritterlich (aber natürlich vergeblich; so viel ‚gerechte‘ Strafe muss sein) eine Warnung zu. Auch die zufällige Konfrontation bedingt keine Ausnahme. Dr. Oldys und seine Familie beziehen unschuldig und ungewarnt ihr neues Heim und werden trotzdem bis aufs Blut bespukt („Die Stiftsresidenz in Whitminster“).

Der Schrecken als ernsthafte Arbeit

M. R. James hat die „Ghost Story“ nicht nur meisterhaft beherrscht, sondern sie auch geliebt und sich mit ihren Konventionen beschäftigt. Zwei Texte, in denen er über Inhalt, Form und Geschichte des Genres schreibt, hat Stephen Jones, der 2012 diese Edition betreute, dem ersten Band des James-Œvres vorangestellt. Schon die kurzen, eher skizzenhaften Betrachtungen zeigen James als ebenso kundigen wie wortgewandten Schriftsteller. Hinter dem unverbindlichen Plauderton werden durchaus Grundsätze deutlich, die heute altmodisch klingen mögen, ohne dabei ihre Wahrheit verloren zu haben: „Selbstverständlich möchten alle Verfasser von Gespenstergeschichten … eine Gänsehaut erzeugen. Aber [viele] Autoren versuchen das auf schamlose Weise. Ihre Geschichten sind unglaublich plump und wirr erzählt und suhlen sich geradezu im Dreck. Wenn es etwas gibt, das man aus Gespenstergeschichten unbedingt heraushalten sollte, dann sind das Leichenhäuser – und Sex.“ (S. 19)

Wobei James keineswegs als verklemmter Moralist verstanden werden sollte. An anderer Stelle lobt er ausdrücklich Joseph Sheridan Le Fanu und vor allem dessen Novelle „Carmilla“, deren sexueller Unterton ihm nicht entfallen sein dürfte. Es geht James um die Stil und Wirkung: „Wesentlich ist …, dass sich unser Gespenst erst nach und nach bemerkbar machen sollte, und zwar durch gewisse Vorgänge, die eine Atmosphäre des Unbehagens und der bösen Vorahnung schaffen. Man darf also nicht gleich alle Geschütze des Horrors auffahren.“ (S. 18) Ansonsten gilt: „Verallgemeinernd würde ich behaupten, dass man auf Horror und Heimtücke in Gespenstergeschichten nicht verzichten kann …“ (S. 18) Weshalb auch James keineswegs auf in Fetzen gerissene Gesichter, gemeuchelte Kleinkinder oder wandelnde Leichen verzichtet: Offenes Grauen benötigt einen Zusammenhang und darf nicht selbstzweckhaft sein – ein durchaus zeitloses Credo.

Weil hinter dem Horror à la M. R. James, den viele Kritiker lange als reines Handwerk und zweitklassige Unterhaltung abqualifizierten, eine Menge Arbeit steckt, ist es kein Wunder, dass dieser Horror auch funktioniert, wenn oder weil James ihn mit Humor serviert. Angst und Lachen sind enger miteinander verwandt, als man gemeinhin meint. Furcht lässt sich durch Humor entspannen, ohne die Spannung zu zerstören, wenn es der Autor versteht, die Schraube im Anschluss wieder anzuziehen. Zudem kann James durch seinen Witz auch jene Passagen lesenswert gestalten, in denen er den roten Faden aus den Augen zu verlieren droht: Er schätzt die Abschweifung, geht aber selten – wie in „Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys“ – zu weit, sondern kehrt rechtzeitig zum Wesentlichen zurück. Deshalb liebt man auch seine Ellipsen, in denen man immer wieder feine Bosheiten wie diese entdecken kann: „Manchem der Leser mag der Name vertraut sein, denn der Stiftsherr verfasste eine ganze Reihe von Büchern … Sie stehen in vielen bedeutenden Bibliotheken, und offensichtlich begegnet man ihnen mit großer Ehrfurcht, denn kaum jemand greift jemals nach ihnen.“ (S. 420)

Endlich der ganze James!

Das erzählerische Werk von M. R. James ist schmal. Dennoch war es bisher hierzulande nicht vollständig greifbar. Zwei Sammelbände, die schon lange nicht mehr aufgelegt werden, und einige weit verstreute Storys: Damit musste der James-Leser sich begnügen. Erst acht Jahrzehnte nach James‘ Tod kommt endlich (in zwei Teilen) eine Gesamtedition nach Deutschland. 2012 in England erschienen, enthält sie nicht nur die Erzählungen, sondern auch (im zweiten Band) Entwürfe und Fragmente, die James verworfen hat.

Die beiden Bände wurden ausgezeichnet übersetzt, wobei Usch Kiausch dem englischen Vorbild folgte und den Textduktus behutsam modernisierte. James schrieb zu einer Zeit, als die Mehrheit seiner Leser lateinische Einschübe oder nur angedeutete Literaturzitate problemlos verstand. Heute ist das anders, und es wäre schade, wenn diese großartigen Geschichten nur deshalb keine neuen Leser mehr finden könnten!

Auch handwerklich darf der Gruselfreund zufrieden sein. Die beiden Sammelbände sind schön gedruckt, fest gebunden, mit einem schlicht aber elegant gestalteten Papierumschlag sowie mit einem Lesebändchen versehen. Darüber hinaus hat der bekannte Künstler Les Edwards verschiedene Storys mit Zeichnungen illustriert, die ganz im Sinn des Verfassers das Grauen meist andeuten, ohne es dabei zu verwässern.

Autor

Montague Rhodes James wurde am 1. August 1862 in Goodnestone, einer Kleinstadt in der englischen Grafschaft Kent, geboren. Als „Monty“ drei Jahre alt war, zog seine Familie nach Great Livermere in Suffolk um, dessen Landschaft ihn stark prägte und deren Naturdenkmäler und Altertümer später immer wieder in seinen Geistergeschichten auftauchten.

Rhodes‘ zweiter Lebensschwerpunkt wurde die Universitätsstadt Cambridge. Nach einem Intermezzo in Eton studierte er hier am King’s College antike und mittelalterliche Geschichte und spezialisierte sich auf alte Schriften und Sprachen. Nachdem er seinen Abschluss gemacht hatte, bot ihm das King’s College eine Anstellung an. Rhodes bewährte sich als Dozent und Wissenschaftler. 1905 wurde er zum Direktor („provost“) ernannt. Diese Stelle hatte er 13 Jahre inne, bevor er in die entsprechende Position ans Eton College wechselte, wo er 1936 im Amt starb.

M. R. James‘ Einfluss auf die (britische) Phantastik kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schon zu Lebzeiten schätzten ihn nicht nur seine Leser. Berühmte Kollegen äußerten sich lobend über sein Werk. Zu ihnen zählten der überaus kritische H. P. Lovecraft (1890-1937) oder Clark Ashton Smith (1893-1961).

Darüber hinaus wurde James zum Vorbild für andere Autoren, die „ghost stories“ in seinem Stil schrieben. Die erste Generation bildeten Mitglieder der „James-Gang“, die der Schriftsteller vor allem in seinen Eton-Jahren um sich scharte. Viele dieser Pastiches sind zu Recht vergessen, während andere dem Vorbild nicht nur nahe kommen, sondern es reizvoll neu interpretieren.

Gebunden: 447 Seiten
Originaltitel: Curious Warnings: The Great Ghost Stories of M. R. James – 150th Anniversary Edition (London : Jo Fletcher Books 2012)
Übersetzung: Usch Kiausch
Illustrationen: Les Edwards
www.www.festa-verlag.de

E-Book: 8655 KB
ISBN-13: 978-3-86552-483-6
www.www.festa-verlag.de

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