Chris Mooney – Victim (Hörbuch)

Frauen als Wild und Beute

Darby McCormicks Jugend endet abrupt, als sie und ihre Freundinnen Mel und Stacey Zeugen eines Mordes werden. Doch der Mörder sieht auch die Mädchen. Drei Tage später ist Stacey tot und Mel spurlos verschwunden. 20 Jahre später muss die Polizistin Darby McCormick ein verschwundenes Mädchen suchen. Sie stößt auf die völlig verstörte Rachel Swanson, die seit fünf Jahren vermisst wird. Darby stößt bei der Ermittlung der Hintergründe auf ein Netz aus Lügen. Und dass ihr der Mörder von damals immer noch auf den Fersen ist. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Chris Mooney, aufgewachsen in Lynn, Massachusetts, ist laut Verlag einer der erfolgreichsten neuen amerikanischen Thrillerautoren. [„Victim“ 3799 sorgte in den USA für großes Aufsehen. Er lebt mit seiner Familie in Boston und arbeitet am nächsten Roman um Darby McCormick.

Die Sprecherin

Iris Böhm, geboren 1967 in Rolandswerth, spielte nach ihrer Ausbildung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ an verschiedenen Theatern. Sie war u. a. in „Tatort“, „Zwei Asse und ein König“ und „Eine Hand schmiert die andere“ zu sehen. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Rolle als Kommissarin in der RTL-Serie „Die Sitte“, für die sie den Deutschen Fernsehpreis 2004 erhielt. Iris Böhm lebt in Berlin. (Verlagsinfo) Sie liest eine gekürzte Textfassung.

Regie führte Gabriele Kreis, der Tonmeister war Nikolaus Esche.

Handlung

|1984|

Darby McCormick ist mit ihren Freundinnen Stacy Stephens und Melanie Cruise in den tiefen Wald von Massachusetts gewandert, um einen Geburtstag zu feiern, aber zünftig mit Bier. Es wird Nacht, als sie ein Geheul und ein Flehen hören: „Lassen Sie mich gehen!“ Das Trio geht in Deckung und schaut zu. Da kniet eine Frau mit einem Strick um den Hals vor einem Mann und fleht um ihr Leben. Stacy springt auf, stößt Darby um und verduftet mit Melanie. Als Darby ihnen folgt, vergisst sie ihren Rucksack. Als sie mit dem Kriminalbeamten Paul Riggers zurückkehrt, fehlen in ihrem Rucksack das Geld und ihr Führerschein. Der Mann weiß jetzt, wo sie wohnt. Ein Mann vom FBI, der sich als Agent Evan Manning ausweist, bittet sie um Mithilfe bei der Identifizierung vermisster Frauen. Mein Gott, es sind so viele!

Eines Abends wenig später hört Darby einen Mann ihr Haus betreten. Ihre Mutter ist gerade weg, und Darby ist allein im Haus. Der Fremde trägt schwere Bergstiefel, wie sie erkennen und hören kann, aber auch eine Maske vorm Gesicht. Bestimmt ist es der Mann aus dem Wald. Er hat das Telefonkabel gekappt. Es gelingt ihr, ihn mit einem Hammer zu verletzen.

Da klingelt es an der Haustür. Es sind Melanie und Stacy. Mel ruft nach ihr, sie soll in die Diele herunterkommen, doch Darby kann die Hände und das Messer des Mannes sehen, der Mel gepackt hält. Sie flieht zurück in ihr Zimmer und durch das Fenster ins Freie. Sie versucht zu vergessen, dass sie Stacy in ihrem Blut liegen gesehen hat. Als sie mit der Polizei zurückkehrt, ist Mel ebenso verschwunden wie der Eindringling. Wieder taucht Evan Manning auf und verspricht ihr, den Typen, der das getan hat, zu fangen. Es gelingt ihm sogar.

|2004|

Darby McCormick arbeitet bei Erkennungsdienst jener polizeilichen Sonderabteilung, die sich den Gewaltverbrechen an Frauen widmet. Sie fühlt, sie hat eine Schuld an Mel und Stacy zu sühnen, und das tut sie mit ihrem vollen Einsatz im Dienst. So etwa heute, als sie in Bellham, nicht weit von ihrer Heimat, nach der verschwundenen 17-jährigen Carol Cranmore sucht. Mit ihrem Kollegen Jackson Cooper und ihrem Boss Matthew Banville sucht sie das Haus der Cranmores nach Spuren ab. Sie finden neben zahlreichen Indizien auch die Leiche von Carols Freund Tony, doch von Carol fehlt jede Spur. Der Fall erinnert sie an Melanie.

Unter der Veranda stößt Darby auf ein paar Mülltonnen. Eine davon enthält keinen Abfall, sondern ein menschliches Wesen, und es weiß zuzubeißen. Cooper springt mit einem Aufschrei zurück. Darby, die Psychologin, sorgt dafür, dass Ruhe einkehrt. Es scheint sich um eine Frau zu handeln, verdreckt, ausgemergelt, kaum der Sprache fähig. Und weggetreten: „Terry, bist du’s?“ fragt sie. „Er beobachtet uns. Ich dachte, du wärst tot.“ Dann lächelt sie. „Ich hab ihn ausgetrickst.“

Dann fragt sie zusammenhanglos nach Jim Mastrangelo, den Darby natürlich nicht kennt. Sie bemerkt, dass zwei Finger der Frau gebrochen waren und falsch zusammengewachsen sind. Als die Frau eine Beruhigungsspritze bekommen hat und Darby ihr das T-Shirt vom Leib schneiden kann, entdeckt sie zahlreiche Verletzungen. Cooper ist entsetzt von dem Anblick. Nach dem Abnehmen von DNS und Fingerabdrücken schickt Darby die unbekannte Frau ins Hospital und lässt sie rund um die Uhr bewachen.

Als Darby die Frau im Massachusetts General Hospital besucht, hört sie als Erstes, dass es ihr gelungen ist, eine Pflegerin mit einem Bleistift ins Auge zu stechen. Nun ist die Unbekannte sediert und ans Bett geschnallt. Sie hat eine schwere Blutvergiftung. Auf dem Arm der Schlafenden entdeckt Darby winzige Buchstaben und Zeichen. Es könnte sich um eine Wegbeschreibung handeln, aber welcher Ort hat vier Links- und ebenso viele Rechtsabzweigungen? Geschweige denn ein Ort, in dem man derart zugerichtet wird.

Ein eleganter Mann mit scharfen Augen beobachtet die Monitore auf der Intensivstation und bemerkt Darby in jenem Zimmer, das ihn am meisten interessiert. Das von Rachel Swanson. Sie ist ihm entwischt. Dabei wollte er sie eigentlich an einem Ehrenplatz begraben – neben dem Grab seiner vermaledeiten Mutter und Halbschwester Cassandra.

Eine scharfe Braut fällt ihm auf, und nur wenige Fragen genügen, um sie als Jennifer Montgomery aus Weston zu identifizieren. Wie zuvorkommend. Stets trägt er zwei in Chloroform getränkte Lappen bei sich – nur für den Glücksfall, dass ihm so edles Wild vor die Füße läuft. Dann fallen ihm Darbys rote Haare und grüne Augen auf. So sah auch das Mädchen vor zwanzig Jahren aus. Das kann doch nicht sein, oder?

Da ruft sein Vetter Richard auf dem Handy an. Richard ist auf der Jagd seit vielen Jahren sein Partner und der Wortführer im Team. Und jetzt befiehlt Richard den sofortigen Tod von Carol Cranmore. Das wäre wirklich ein Jammer, protestiert er, aber Richard bleibt hart.

Carol Cranmore erwacht an einem Ort, der still ist und stockdunkel. Niemand antwortet auf ihre Rufe. Nach einer Weile der tastenden Erkundung kann sie sich den Ort, an dem sie jetzt ist, dreidimensional vorstellen: eine enge Gefängniszelle, mit Pritsche, Waschbecken und Klo, abgesperrt von einer massiven Stahltür ohne Klinke. Sie hörte eine ferne Stimme. Die Tür öffnet sich langsam auf einen Korridor davor. Jenseits erblickt sie weitere Zellentüren. Doch davor erregt etwas ihre Aufmerksamkeit. Da beginnt Carol Cranmore zu schreien.

Mein Eindruck

Darby McCormick ist eine Nachfolgerin Clarice Starling und hat es ebenso mit einem Ungeheuer zu tun. Genauer gesagt, sogar mit zweien, dreien oder gar vieren. Der Grund, warum sich das nicht so genau sagen lässt, liegt darin, dass die beiden Täter andere Serientäter dazu benutzen, um von sich selbst abzulenken und die Polizeibehörden, ihre ständigen Verfolger, zu manipulieren.

Anders als Hannibal Lecter und der Serienkiller, den Starling zur Strecke bringt, sind die beiden Entführer nicht an Morden interessiert, sondern an der Jagd. Sie haben zwar einen Keller gebaut, der stark an den Zellentrakt erinnert, in dem Starling auf Hannibal trifft, doch die Korridore zwischen den Zellen erstrecken sich weiter – in ein verzweigtes Labyrinth. Man findet nur heraus, wenn man wie Rachel Swanson einen Streckenplan aufgeschrieben hat. Ansonsten ist man das Wild, das die beiden Entführer hier unten jagen.

|Heldin?|

Es gehört zum erzählerischen Geschick des Autors, eine Heldin aufzubauen, die genügend Schuldgefühle hat, um das neueste Entführungsopfer befreien zu wollen, und über ausreichend Hartnäckigkeit und List, um die Ermittlung weiterzuverfolgen, wenn sie davon abgezogen wird. Beide Eigenschaften führen über kurz oder lang dazu, dass sie in die gleiche missliche Lage gerät wie die anderen Opfer. Wie Clarice Starling in [„Das Schweigen der Lämmer“ 354 findet sie sich in einem unüberschaubaren Labyrinth wieder. Nun kommt es darauf an, nicht zur Beute zu werden, sondern ein Jäger zu bleiben.

|Im Dschungel|

Die psychologische Grenzlinie zwischen Beute und Jäger, Opfer und Täter ist nur haarfein, wie der Erzähler an Darbys Verzweiflung überzeugend darstellt. Sie ist nicht die übermenschliche Superheldin, die weder Zweifel noch Schuld kennt, sondern auch nur ein Mensch, allerdings einer mit Kraft, Intelligenz und vor allem Überzeugung. Diese drei Dinge helfen ihr, nicht die Nerven zu verlieren, sondern ihrerseits zum Angriff überzugehen.

Dass das Labyrinth eine Versuchsanordnung ist und den Dschungel des wirklichen Lebens in den Vereinigten Staaten widerspiegeln soll, dürfte jedem klar sein, der schon einmal in die ärmeren Bezirke der amerikanischen Großstädte vorgedrungen ist. Der Tenderloin-Bezirk von San Francisco erstreckt sich direkt neben der Hauptverkehrsachse der Market Street und ist dennoch für (unbewaffnete, wehrlose) Touristen eine No-go-Area. In einem Land, in dem es kaum Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung für die Ärmsten gibt und das jedem Erwachsenen per Verfassung das Recht zuspricht, eine tödliche Waffe zu besitzen und zu benutzen, ist der Dschungel ein Phänomen, das de facto existiert und nicht irgendein Hirngespinst ist.

|Relativ: Schuld und Opfer|

Das Beste an diesem Buch kommt zum Schluss. Die Täter sind zur Strecke gebracht, wie es sich gehört, die Heldin hat überlebt, der Film könnte eigentlich zu Ende sein. Doch nun nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung und wird zu einem Szenario, das die Schuldlage umkehrt. In nächster Nähe zu Darby hat jahrelang ein Komplize und Mitwisser der beiden Täter gelebt. Diese Person hat durch ihr (erzwungenes) Schweigen die Taten der beiden Mörder jahrelang gedeckt und so zu vielen weiteren Opfern geführt.

Die Schuld trifft also nicht bloß die Ausführenden, sondern auch diejenigen, die durch ihr Schweigen ihre Taten erst ermöglichen. Wendet man die Bezeichnung „Victim / Opfer“ auf die Figuren an, so sind eigentlich alle „victims“: die Entführten sowieso und die Schweigenden durch ihre Mit-Schuld und Komplizenschaft, aber auch einer der Haupttäter, der Sohn einer Inzestbeziehung zwischen seiner Mutter und ihrem Vater.

Auch das FBI, so stellt sich perfiderweise heraus, ist ein Opfer: Es ist bereits unterwandert und, was noch viel schlimmer ist, es hat einen Serienmörder als Spitzel benutzt und ihn gewähren lassen, solange er die Bundespolizei zu weiteren Tätern führt. Diese Art des Jagens ist die mieseste von allen. Wer die Alex-Cross-Thriller James Pattersons kennt, weiß, dass das FBI zu absolut jeder Schandtat fähig ist. Dennoch tut es weh mitzuerleben, wie eine gute Frau wie Darby McCormick von den „Feds“ ausgebootet wird. Zum Glück weiß sie aber, wie man um diese Bundestypen herumarbeiten kann …

Die Sprecherin

Iris Böhm verfügt über starke Nerven und eine kräftige, geübte Stimme. Sie versagt auch nicht an den bizarrsten Stellen dieses an grausigen Details reichen Thrillers. Durch Modulation der Lautstärke – zwischen Flüstern und Schreien – und der Tonhöhe gelingt es ihr, die Seelenlage der jeweiligen Figur, egal ob Mann oder Frau, ziemlich genau auszudrücken. Die deutliche Hervorhebung einzelner Wörter verhilft zu einem genauen Verständnis des Gesagten.

Bei einem spannenden Stoff wie diesem darf die Präsentation keinesfalls den Inhalt überdecken oder beeinträchtigen, sondern muss dahinter verschwinden. Das gelingt Böhm hundertprozentig. Doch ist Böhms Vortrag nicht etwa theatralisch, um etwa auf die Tränendrüse zu drücken. Denn auch das würde man ihre heutzutage nicht mehr verzeihen. Theatralik ist ein Stilmittel, um Betroffenheit zu vermitteln, wie es noch vor fünfzig oder sechzig Jahren nicht unüblich war. Böhm strahlt hingegen Professionalität aus, wo es nötig ist, und Emotionen, wo es angebracht ist.

Ich habe mir die Stellen in meinen Notizen angestrichen, an denen die Sprecherin besonderen Stimmeinsatz zeigt. Dabei habe ich festgestellt, dass sie ihre weiblichen Figuren in besonders intensiven Momenten ängstlich, verzweifelt und leise klingen lässt. Leise Stimmlagen wirken im Hörbuch stets emotionaler als etwa lautes Rufen, und so verfehlt das Flüstern nie seine Wirkung, erzeugt also mitunter Schaudern oder Mitgefühl. Dieses Stilmittel findet sich von der ersten bis zur letzten Szene. Es macht das Hörbuch im Vergleich zum Buch zu einem intensiven Erlebnis.

Geräusche und Musik würden dabei nur störend wirken.

Unterm Strich

Ich hatte Vorurteile gegen diesen routiniert geschriebenen Thriller, der mir einfach nur „Das Schweigen der Lämmer“ auf eine andere Weise nachzuerzählen schien. Doch es gibt zahlreiche Abweichungen von Thomas Harris‘ Meisterwerk, und eine der wichtigsten ist diejenige, die der angeschlossenen Geschichte der Ermittlung eine überrasche Wendung verleiht und sie in neuem, bitterem Licht erscheinen lässt.

Die Person, die von den beiden Mördern und ihrem Treiben gewusst hat, schwieg zwanzig Jahre lang (aus begreiflichen Gründen, um jemanden zu schützen) und ermöglichte erst so eine Unmenge an Leid und Tod. Eine solche Wendung würde ich bei Thomas Harris eher nicht erwarten. Und sie hebt die Geschichte über die Routineproduktion an Kriminalliteratur hinaus: Alle sind Opfer, ob sie es nun wollen und wissen oder nicht: „victims“.

Die Sprecherin Iris Böhm trägt die Geschichte mit eindrucksvoller Professionalität und Feinfühligkeit vor. Es gibt zahlreiche Szenen von großer emotionaler Intensität, die ihren Höhepunkt in Darbys Flucht aus dem Gefängnis erreichen.

Originaltitel: The Missing, 2007
Aus dem US-Englischen übersetzt von Michael Windgassen
312 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: 9783899034745

http://www.hoerbuch-hamburg.de

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