Michael Moorcock – I.N.R.I. oder Die Reise mit der Zeitmaschine

Provokativ: das Jesus-Double

War Jesus von Nazareth ein masochistischer Schwachsinniger? Und ein Psychopath obendrein? Nein, es ist nicht ganz so schlimm, wie es klingen mag. Aber Michael Moorcock hat mit „INRI oder Die Reise mit der Zeitmaschine“ eine engagierte Parodie auf den Mythos jenes jüdischen Märtyrers geschrieben. Ein umstrittenes Buch, das selbst heute noch, rund 40 Jahre nach seiner Veröffentlichung, zu erschüttern und Anstoß zu erregen vermag.

Der Autor

Der Brite Michael Moorcock, geboren 1939 in London, ist mit seinen diversen Fantasyzyklen um den Ewigen Helden (Elric, Corum, Hawkmoon und andere) zu einer zentralen Figur in der Phantastik seines Heimatlandes geworden. Er ist ein entschiedener Gegner von katholischen Autoren wie Tolkien und C.S. Lewis, aber ein Verehrer von Autoren wie Franz Kafka, Thomas Mann, Grimmelshausen, Edgar Rice Burroughs, James Branch Cabell oder Mervyn Peake.

In den sechziger Jahren machte er sich mit seinem SF-Magazin „New Worlds“ zum Sprecher einer neuen Strömung innerhalb der SF, die Errungenschaften der modernen Hochliteratur verarbeitete – sehr zum Verdruss und Ärger der US-amerikanischen Traditionalisten. Mit manchen dieser Werke erregte er derart Anstoß, dass ihm britische Parlamentarier die Zuschüsse streichen wollten. Norman Spinrads „Champion Jack Barron“ gehört dazu, aber auch einer der Kurzromane von James Graham Ballard.

Moorcock selbst schrieb Popromane um seinen Helden Jerry Cornelius, aber auch durchschnittliches Fantasyfutter, das durch seine Verkäufe die anderen Romane finanzierte. In den letzten Jahren hat er mehrere Eternal-Champion-Zyklen in umgeschriebener Form zusammengefasst – darunter auch den Elric- und den Von-Bek-Zyklus – und sich dem Schreiben exzellenter Mainstream-Romane („Mother London“ und Fortsetzungen) zugewandt. In den Biografien wird seine Mitwirkung an der Rockband „Hawkwind“ niemals vergessen. Seine Homepage ist sehr umfangreich und weist sogar ein Forum auf, über das sich seine Fans austauschen können.

von Bek-Zyklus

1. The War Hound and the World’s Pain, Timescape Books 1981, ISBN 0-671-43708-9
Die Kriegsmeute, Heyne 1985, Übersetzer Peter Indermaur, ISBN 3-453-31166-3
2. The City in the Autumn Stars, Grafton 1986, ISBN 0-246-12843-7
3. The Brothel in Rosenstrasse: An Extravagant Tale, New English Library 1982, ISBN 0-450-04877-2
Das Bordell in der Rosenstrasse, Bastei Lübbe 1988, Übersetzer Michael Kubiak, ISBN 3-404-13157-6 (Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Karl Glogauer ist ein ganz normal neurotischer jüdischer Intellektueller aus dem England der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Neben seinem Hobby-Beruf als Pfleger in der Psychiatrie interessiert er sich für religiöse Requisiten wie etwa Kreuze. Schon als kleiner Junge wurde von seinen Schulkameraden an einem Zaun gekreuzigt. Sowas prägt. Auch eine seiner ersten Freundinnen war nur deshalb für ihn begehrenswert, weil sie ein silbernes Kreuz zwischen ihren Brüsten trug. Und jetzt interessiert ihn vor allem der Wahrheitsgehalt des Christusmythos. Seine Freundin Monica erklärt ihm, dass er einen Jesus-Komplex habe, der nur auf den Schriften des spinnerten Carl Gustav Jung beruhe. Der mit seinem „kollektiven Unterbewussten“!

Als Karl durch einen reichen Erfinder eine Möglichkeit sieht, mit einer Zeitreise à la H. G. Wells in die Lebenszeit Jesu zu reisen, packt er die Gelegenheit beim Schopfe, aber auch deshalb, weil Monica ihn mit einem anderen betrügt. Doch was er zunächst in der Wüste bei Johannes dem Täufer und später in Nazareth vorfindet, ist etwas völlig anderes, als es uns aus der Bibel überliefert wird: Die Frau des Zimmermanns Joseph (es gibt eine Menge Zimmerleute und Josephs in Nazareth) etwa ist eine fette Schlampe, und ihr Sohn Jesus seit seiner Geburt ein debiler Kretin.

Armer Karl! Was soll nun aus seinem geliebten Christusmythos werden, wenn es nicht mal einen geistig präsenten Jesus gibt, fragt er sich zu Recht. In seiner Verwirrung begibt er sich in der lokalen Synagoge in die Obhut der Rabbiner. Die verstehen schon mit solchen sonderbaren Heiligen wie ihm umzugehen – ihnen laufen ständig welche über den Weg, ganz Judäa ist voll davon. Aber nur wenige von ihnen setzen den notwendigen Widerstand gegen die verhassten römischen Besatzer auch in die Tat um. Der Prophet Jesaja hat den Messias angekündigt. Doch welcher ist es?

Für Glogauer gerät seine Pilgerreise zunehmend zum Alptraum, als er – etwas verspätet – mit Entsetzen bemerkt, dass er immer mehr in die Rolle hineingerät, die ihn zeit seines Lebens fasziniert hat: Er erfährt die den Christen aufgetragene „Imitatio Christi“ wortwörtlich am eigenen Leibe. Und wo man einmal angefangen hat, muss man so gut es geht weitermachen – das weiß doch jeder Schauspieler …

Mein Eindruck

Der Autor demontiert nicht den originalen Jesus von Nazareth, der von Römern und Juden gleichermaßen zum Tode verurteilt wurde, also die historische Figur. Er greift vielmehr den Mythos an, den die Kirche als Religionsgebäude darauf aufgebaut hat. Ein „christos“, also „Herr“ oder „Gesalbter“, kann demnach heutzutage jeder werden. Ja, die Kirche fordert sogar die „Imitatio Christi“, die Nachfolge, wohl in dem Wissen, dass man dem Mythos zwar nacheifern (= imitatio), ihn nicht aber erreichen könne. (Und sollte es jemandem gelingen, so kann ihn der Vatikan immer noch zum Ketzer erklären.)

Das kluge Nachwort von Carsten Polzin erhellt diese Zusammenhänge ebenso intelligent wie die Absicht Michael Moorcocks beim Schreiben dieses Romans – letzten Endes Kirchen- und Religionskritik. Das Nachwort ersetzt dasjenige von Florian Marzin in der |Heyne|-Ausgabe von 1987. Marzin ging aber in seiner Interpretationsfähigkeit noch wesentlich weiter als Polzin. Ich empfehle seinen Text mit Nachdruck.

Es geht einerseits um den Mythos von Jesus, aber auch um den Werdegang des Mannes namens Karl Glogauer. In zahlreichen Rückblenden erfahren wir von Kindheit und Jugend, gescheiterter Rebellion und den ständigen Frauengeschichten Karls. Dadurch wird seine Geschichte zu einem Bildungsroman à la „Anton Reiser“ einerseits, andererseits auch zu einem menschlichen Drama, an dem der Leser Anteil nehmen kann.

Sehr ironisch wird dieser Erzählstrang eingesetzt, wenn sich die stets vernünftige Freundin Monica als der „Geist, der stets verneint“ entpuppt und Karl ihr in seinem Ausflug in Wüste und Wahnsinn sein vehementes „Nein!“ entgegenschreit. Nein, es muss einen Mythos namens Christus geben, es muss einen Jesus geben usw. In seinen Augen übernimmt sie die Rolle des Versuchers, der Jesus laut Bibel in der Wüste 40 Tage und Nächte lang auf seine Seite ziehen wollte.

Aber nicht nur heterosexuelle Erotik wird thematisiert, sondern auch Homosexualität. Karl wird zweimal von männlichen Bekannten – darunter von dem Zeitmaschinenkonstrukteur – ein eindeutiges Angebot gemacht, das er beide Male ablehnt. Als wäre das noch nicht genug, tritt auch noch ein Sadist auf, der den sehr jungen Karl den Stock spüren lässt. Einen Vater, der Karl hätte trösten oder bestrafen können, gibt es nicht, denn er ist schon früh über alle Berge. Inwieweit alle diese Faktoren zur Psychopathologie des Karl Glogauer beitragen, muss jeder Leser selbst entscheiden. Zumindest aber zeichnen sie ein sehr kritisches Bild von der Psychopathologie Großbritanniens in jener Zeit.

Sprachlich und stilistisch arbeitet Moorcock mit den Mitteln der damaligen New Wave in der Science-Fiction, die mit aller Kraft gegen die Borniertheit der Zeit ankämpfte. Das bedeutet, dass der Leser harte Schnitte und Szenenwechsel, innere Monologe (Stream of consciousness), moderne Sprache (Flüche etc.), verschiedene Textsorten (Erzählung, Bibelzitate) und bittere Ironie ertragen muss. Das kann man durchaus überleben, auch wenn es heutzutage ungewohnt erscheint. Mir hat der Roman sehr gut gefallen.

Die neue Übersetzung …

… durch Jürgen Langowski ist der |Heyne|-Übersetzung, die noch aus dem Jahr 1972 stammt, bei weitem vorzuziehen. Erstens wird der Text endlich in modernem Deutsch erzählt und zweitens sind auch die zahlreichen Bibelzitate im zweiten und dritten Teil des Romans in einem Deutsch geschrieben, das sich nicht mehr nach Luthers Übersetzung richtet. Luthers grammatikalische Konstruktionen sind für heutige Leser erstens unvertraut und zweitens kaum noch nachzuvollziehen.

Es gibt erfreulich wenige Druckfehler. Ich hätte mir aber gewünscht, dass Langowski auch den Ausdruck „Blimey!“ auf Seite 11 übersetzt hätte. „Blimey!“ ist keineswegs ein Eigenname, sondern ein Ausruf des Erstaunens, der in der |Heyne|-Übersetzung korrekt mit „Ich werd‘ verrückt“ (Seite 8) übertragen wird.

Unterm Strich

Wer unter „Science-Fiction“ lediglich Abenteuer von Pappnasen auf fremden Welten aus Pappmaschee à la „Star Trek“ und „Star Wars“ versteht, ist hier auf der völlig falschen Baustelle. Hier geht es um den inneren Erlebnisraum und um die Grundfragen menschlichen Daseins: Wozu lebe ich? Was habe ich hier zu tun? Und wie, zum Teufel, bin ich hierher gekommen?

Dass die heilige Maria als Dorfprostituierte vorgestellt wird, könnte zudem einige Gemüter in Wallung bringen, sicherlich aber strenggläubige Katholiken (von denen man im protestantischen England eh nicht sonderlich viel hält). Obendrein sollte man sich in der modernen Erzählweise des Autors zurechtfinden (siehe oben), die einige Ansprüche an das Verständnis, die Toleranz und die Urteilsfähigkeit des Lesers stellt.

Die 1967 veröffentlichte Erzählung „Behold the man“, auf der dieser Roman beruht, wurde 1968 mit dem |Nebula Award| der Science-Fiction-Kritiker und -Autoren ausgezeichnet – ein Gütesiegel. Die Fortsetzung erschien 1971 unter dem Titel „Breakfast in the Ruins“, wie uns der Autor des Nachworts erklärt, und bietet unter anderem eine Erklärung für die Frage an, ob Glogauer wirklich mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reiste oder dies alles nur eine Halluzination war.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: Behold the Man, 1970 (deutsch 1972 von Alfred Scholz)
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Langowski (Neuübersetzung)
ISBN-13: 9783492286183

www.piper.de

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