Der Makedonenkönig Alexander der Große aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. gehört zu jenen Gestalten der Antike, nach deren Taten die Welt ein ganz anderes Anlitz zeigte. Um es ein wenig überzogen zu sagen: Vor dem Auftreten Alexanders gab es Griechen und Barbaren, nach dem Auftreten Alexanders nur noch Hellenen. Seine Feldzüge schoben den Wirkungsbereich der griechischen Kultur bis weit nach Asien und schließlich Indien hinein. War für die alten Griechen vorher alles Nichtgriechische fremdartig und ohne Übergang abgegrenzt von der eigenen Identität gewesen, so boten die Diadochenreiche, die nach dem Tod Alexanders von dessen Eroberungen übrig blieben, das Bild manigfach gemischter Bevölkerungen. Ägypten, welches schon lange vorher – wie uns Herodot, der Geschichtschreiber des 5. Jahrhunderts v. Chr. bezeugt – ein bewundertes Vorbild und einen großen Einfluss darstellte, kam nun selbst an ein griechisches Herrschergeschlecht, das der ehemalige General (griech.: |strategos|) Alexanders Ptolemaios I. hier begründen konnte. Das riesige Perserreich, welches ehemals die griechischen Städtebünde regelmäßig besiegte und viele asiatische Griechenstädte unter seiner Herrschaft hatte, zerfiel erstaunlich schnell im Laufe von nur zehn Jahren vor dem Ansturm des jungen Eroberers. Nach seinem frühen Tod im dreiunddreißigsten Lebensalter wurde er schon bald zur Legende und bis zu Napoleon ein geradezu mythisches Vorbild, das dem eigenen Streben so vieler Machthaber ein glanzvolles Gepränge geben konnte.
Aus diesem Grunde nennt die französische Professorin für Alte Geschichte an der Pariser Universität Claude Mossé ihr Buch im Untertitel „Leben und Legende“ (franz.: la destinèe d’un mythe). Sie wählt nicht die Form einer chronologischen Biographie, sondern versucht mit einem komplexeren Zugriff, der faszinierenden Gestalt des Makedonen gerecht zu werden. Der Ablauf der Ereignisse bleibt hier einem Kapitel unter anderen vorbehalten. Wir werden außerdem ausführlich mit den Nachwirkungen der Feldzüge Alexanders und mit seinem Nachleben in der Überlieferung bekannt gemacht. Insofern erfährt der Leser eine regelrechte Einweihung in die Probleme der modernen Forschung, die durch die Quellenlage und die historischen Zusammenhänge aufgeworfen werden. Denn im Grunde besitzen wir nur Quellen aus späteren Jahrhunderten über das Leben Alexanders, die auf einer schon bestehenden Überlieferung aufbauten. Claude Mossé macht also nicht nur mit dem Menschen Alexander, sondern auch mit dem geschichtlich wirksam gebliebenen und daher bislang „unsterblichen“ Phänomen Alexander bekannt. Wie aktuell diese Figur noch zu sein scheint, zeigt ja auch die jüngste Verfilmung seines Lebens durch Hollywood-Regisseur Oliver Stone.
Das vorliegende Buch steht in direkter Konkurrenz zur Neuübersetzung der Alexander-Biographie des Engländers Robin Lane Fox, die im Verlag |Klett-Cotta| erschienen ist. Durch den völlig anderen Zugriff der französischen Professorin aber bleiben beide Bücher für den geschichtlich interessierten Leser wertvoll und ergänzen einander. Wer wirklich in das Thema einsteigen will, wird zweimal in den Geldbeutel greifen müssen.
Damit ist bereits gesagt, dass Claude Mossé mit diesem Buch eine gelungene Arbeit vorgelegt hat. In klarer, sachlicher, aber nie zu schal wirkender Sprache führt sie uns in die Tiefen der historischen Erscheinung des jungen Welteroberers. Viele Wege führen nicht nur nach Rom, sondern in diesem Fall auch in ein Kapitel altgriechischer Geschichte, das mit anderen Mittelmeerkulturen eng verknüpft ist. Jeder Weg wird in einem für sich abgeschlossenen Teil beschritten. Die Richtung dieser Wege sei an dieser Stelle kurz beschrieben. Der zweite und der vierte Teil bilden dabei die Herzstücke des Buches.
_Der erste Teil: Die Etappen der Herrschaft Alexanders des Großen_
Hier bietet die Autorin den schon erwähnten biographischen Überblick. Ausgehend von der Situation in der Mittelmeerwelt im 4. Jahrhundert v. Chr. berichtet sie von den Schwierigkeiten, die Alexander nach der Ermordung seines Vaters Philipp II. mit den anderen Griechenstädten hatte und wie er dennoch einen vereinigten Feldzug gegen Persien erzwang. Er beendete die Herrschaft des persischen Geschlechtes der Achämeniden, eroberte ganz Kleinasien und Ägypten, brachte die östlichen Satrapien des Perserreiches unter seine Kontrolle, errichtete in Indien Machtzentren und zog schließlich triumphal in Babylon ein.
Nach der Einnahme einer Mahlzeit fühlte er sich nicht wohl, ging in sein Zelt und starb eines schnellen Todes. Es konnte nie geklärt werden, ob die Verdächtigung zu Recht bestand, dass ihn Antipater, sein Verwalter in Makedonien, hatte vergiften lassen, weil er die Ostpolitik des Königs missbilligte.
_Der zweite Teil: Die unterschiedlichen „Rollen“ Alexanders des Großen_
In der komplexen Gestalt des Makedonenkönigs vereinigten sich unterschiedliche „Rollen“, die er auf den historisch bedeutsamen „Bühnen“ seiner Zeit vor verschiedenstem Publikum „spielte“. „Spielte“ muss hier unbedingt in Anführungszeichen stehen, denn Alexander handelte dabei nicht vorrangig aus strategisch-politischen Erwägungen heraus, sondern war selbst ganz eingelassen und identifiziert mit diesen Formen seines Auftretens. Als König der Makedonen hatte er eine „Rolle“ inne, die ihn einer Einheit aus traditionellen Sitten und Bräuchen der Makedonen verpflichtete. Genau in jenem Moment, als er begann, diesen Traditionsrahmen zu überschreiten, kam es zum Eklat mit seinen makedonischen Kriegern.
Durch die immer stärker werdende Integration persischer Krieger in seine Armee, die gleichzeitig immer höhere militärische Ränge bekleideten, zog er sich den Unmut seiner Makedonen zu. Die Gefahr des drohenden Bruches mit diesem Teil seiner Armee wurde noch dadurch verschärft, dass er auch von den Griechen die Proskynese verlangte – eine orientalische Sitte, die das Niederwerfen auf den Boden vor dem König forderte. Im Laufe dieser Streitigkeiten tötete Alexander mehrere langjährige Freunde und Befehlshaber. Diese Untaten führten dazu, dass schon einige antike Schriftsteller ihn vorrangig als „Raufbold“ und Säufer darstellten.
In seiner „Rolle“ als |hegemon| der Griechen befehligte er den Korinthischen Bund, in dem die meisten Griechenstädte vereinigt waren. Dieser Bund hatte sich zum Ziel gesetzt, die griechischen Städte in Kleinasien aus persischer Vorherrschaft zu befreien – ein Ziel, das Alexander schon bald am Anfang seines Feldzuges erreichte. Als |hegemon| fühlte er sich aber auch dem Vorbild der alten Heroen verpflichtet, mit deren Taten er durch seine begeisterte Lektüre der Epen Homers schon in früher Jugend bekannt geworden war. Davon zeugen die zahlreichen Städtegründungen, die er nach mythischem Vorbild vornehmen ließ und die in erster Linie mit Griechen bevölkert wurden. Von den fernen Plätzen seines Wirkens schickte er Boten nach Griechenland, die seine Befehle den dortigen |poleis| ausrichten sollten und verlangte eine göttliche Verehrung, was teilweise nicht auf die Begeisterung der griechischen Stadtbewohner stieß. Die Spartaner ließen allerdings lakonisch verlauten: „Wenn Alexander will, soll er ein Gott sein!“
Da die Herrschaft im Perserreich nun in seinen Händen lag, musste er die „Rolle“ eines Nachfolgers der Achämenidenkönige übernehmen. Alexander behielt als kluger Feldherr natürlich den Großteil der Verwaltungen bei, die er in den besetzten Gebieten vorfand. So setzte er meist einheimische Satrapen als Verwalter ein und errichtete in den jeweiligen Städten nur eine makedonische Kaserne als Kontrollinstanz. Er erhob Tribute, tastete aber die Regierungsformen und Sitten der Einheimischen nur in Ausnahmefällen an.
Eine wichtige „Rolle“ Alexanders war die seiner Gottsohnschaft. Von ihr zeugen noch die Widderhörner am Kopf Alexanders auf vielen Darstellungen bis ins Mittelalter hinein. Alexander erschien als der Sohn des Gottes Zeus Ammon, in dem sich der griechische oberste Gott Zeus mit dem ägyptischen Sonnengott Amun zu einer Einheit verband. Letzterer konnte als Mann mit einem Widderkopf dargestellt werden und daher waren Alexanders Hörner ein Attribut dieses Gottes. In der ägyptischen Oase Siwa erhielt Alexander von dem dortigen berühmten Orakel die Bestätigung dafür, dass er über die Perser siegen werde sowie die Offenbarung seiner Gotteskindschaft. Da die Makedonen sich von Alters her als Nachkommen des vergöttlichten Heros Herakles verstanden, war Alexander seitdem gewissermaßen doppelt mythisch legitimiert. Für Alexander besaß diese Verbindung mit Zeus Ammon eine große persönliche Wichtigkeit, was sich schon daran sehen lässt, dass seine Soldaten einmal mürrisch verkündeten, er brauche sie offensichtlich nicht und solle doch mit seinem göttlichen Vater alleine siegen. Claude Mossé geht in diesem Zusammenhang auf die Tradition der Heroenverehrung in Griechenland ein, in der auch Alexander fest verwurzelt war.
_Der dritte Teil: Der Mensch Alexander_
Für die Nachzeichnung des Charakters von Alexander hält sich die Autorin hier an den vertrauenswürdigsten Führer – an den Philosophen und Historiker Plutarch, der allerdings vier Jahrhunderte später zur Zeit Caesars lebte. Der Leser findet in diesem Teil ein Kapitel über die Erziehung und Kindheit Alexanders, in dem auch sein Lehrer, der berühmte Philosoph Aristoteles, eine Rolle spielt.
Ein weiteres Kapitel berichtet über die Eigenschaften, die Alexanders Persönlichkeit in den Quellen am häufigsten zugeschrieben wurden. Diese reichen von den Feldherrntugenden wie Mut und einer geradezu sagenhaften Großzügigkeit über seine Vorliebe für die Philosophie bis zu den Schattenseiten Alexanders, die vor allem am Ende seiner Feldzüge zutage traten. Beispielsweise konnte seine ansonsten vorbildlich geübte Selbstbeherrschung später in den brutalsten Jähzorn umschlagen.
_Der vierte Teil: Das Erbe Alexanders_
Die eigentliche historische Bedeutung Alexanders geht darauf zurück, dass seine Herrschaft „einen radikalen Bruch in der Entwicklung des östlichen Mittelmeerraumes bedeutete“ (S. 131). Frau Mossé schreibt weiter: „Bevor er die geschichtliche Bühne betrat, bestanden auf der östlichen Seite der Ägäis das riesige Perserreich und auf der westlichen viele griechische |poleis|. Unter ihnen ragten einige Städte heraus, die einen Grad der Zivilisation erreicht hatten, der in den Augen der damaligen Griechen als das direkte Gegenteil des barbarischen ‚Despotismus‘ erschien. Dies waren Städte, die sich nach – zugegeben – unterschiedlichen Maßstäben und Normen selbst regierten; aber alle verstanden den Begriff des Bürgers als Synonym für höchst erstrebenswerte politische Aktivitäten. Nach Alexander bestanden in erster Linie riesige, von Königen regierte Staaten, die sich dennoch der griechischen Kultur verpflichtet fühlten. Natürlich gab es sowohl im europäischen Teil Griechenlands als auch in Kleinasien weiterhin unabhängige griechische Staatsgebilde oder untereinander verbündete Städte und Staaten. Und in den Städten zumindest blieben die in den vergangenen Jahrhunderten erworbenen Formen des Zusammenlebens erhalten, und so gesehen stimmt es, dass der Typus der griechischen Stadt durch den Eroberungszug des Makedonen nicht untergegangen ist. Aber diese Städte besaßen, selbst wenn sie nicht innerhalb der ausgedehnten Königreiche lagen, die aus Eroberungen hervorgegangen waren, bezüglich ihrer äußeren Beziehungen nur noch begrenzte Autonomie. Sie standen trotz einiger kurzlebiger Ausbrüche in Form von Unabhängigkeitsbestrebungen doch mehr oder weniger im Schatten hellenistischer Könige, bevor sie dann unter römische Herrschaft gerieten.
Die kurze Herrschaft Alexanders führte also zu einem Bruch, auf politischem, aber auch auf kulturellem Gebiet in dem Maße, in dem sich im Lauf der Zeit neue Formen des Denkens, der religiösen Synkretismen oder von Akkulturationsphänomenen herausbildeten.“ (S. 131 f.). Dies führte nicht zu einer sofortigen Änderung des Gesichtes der antiken Welt, aber Alexander leitete die Entwicklung ein, „die der antiken Welt ihr endgültiges Aussehen gab.“ (S. 132)
In diesem Kapitel werden also die neuen Formen der Monarchie, der Lebensführung und Wirtschaft behandelt, genauso wie die fortschreitende Hellenisierung des Orients, die eine folgenschwere Ausdehnung griechischer Kultur bedeutete und es bespielsweise ermöglichte, dass viele Jahrhunderte später die Schriften des Aristoteles im Mittelalter durch arabische Übersetzungen nach Europa zurückgelangen konnten.
_Der fünfte Teil: Alexander, ein mythischer Held_
Hier behandelt die Autorin das Bild, das sich die späteren Jahrhunderte von Alexander machten. Sie beginnt mit den Schriftstellern der römischen Antike und untersucht den „Alexanderroman“, der die mittelalterliche Sicht auf den Eroberer als frühen Vorläufer des Christentums widerspiegelt und an dessen legendärer Überlieferung selbst noch in der Neuzeit weitergesponnen wurde. Schließlich gelangt sie zur modernen Historiographie und den Romanschriftstellern, die sich immer wieder gerne der Gestalt Alexanders bemächtigten. Als Beispiele kommentiert sie den bekannten Roman Klaus Manns und die Romantrilogie des italienischen Schriftstellers Valerio Manfredi. Ein Epilog schließt das Buch ab, in dem die Autorin ihren eigenen Zugriff noch einmal erläutert, der ja in bestimmender Weise die Vorstellungen, die sich spätere Generationen über Alexander machten, einbezieht und damit zugleich auch die Bedeutung, die diese Vorstellungen in der Entwicklung von Gesellschaften haben.
Das Urteil der Autorin fällt bei jedem der behandelten Themen sehr zurückhaltend aus. Sie weiß einerseits um die Problematik der Quellenlage, vermeidet es aber andererseits, heutige Denkweisen und Plausibilitäten einfach auf die Menschen der damaligen Zeit zu übertragen. Die Sprache der Quellen verliert sie niemals ganz aus dem Auge. Der Ton ihrer Erzählung ist stets ruhig und ausgeglichen. Zwischen faktenorientiertem Positivismus und begeisterter Romantik sucht sie sich ihre eigene Perspektive, die dem Maß beider Sichtweisen gerecht werden kann. Die Fakten stehen im Vordergrund, ihre Ausdeutung bleibt dabei immer vorsichtig, aber eine leise Faszination durch die kraftvolle Gestalt Alexanders klingt an jeder Stelle im Text zumindest als Hintergrund mit an.
Als weiterer Pluspunkt des Werkes erweist sich die verbindende Herangehensweise der Autorin. Trotz der Fülle der Einzelthematiken geht der Gesamtzusammenhang nie verloren. Allzu häufig verdrängt in den modernen geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen die Fleißarbeit der Detailfindung den denkerischen Gehalt einer großen Zusammenschau der Ereignisse. Die Einzelfakten stehen dann meist etwas verloren nebeneinander im Raum. Claude Mossé gelingt es aber, die von ihr aufgegriffenen einzelnen Fäden immer wieder durch Querverweise auf die anderen Teilthemen zu verknüpfen. Im Geiste des Lesers ensteht nicht der Eindruck eines Sammelsurriums von Fakten oder Einzelfragen, sondern ein kompaktes Bild über Leben, Erbe und Legende einer großen weltbewegenden Persönlichkeit, dessen einzelne Momente aufeinander verweisen.
Im Anhang des Buches finden sich neben dem obligatorischen Register, den Literaturhinweisen, einer Zeittafel und dem Kartenmaterial noch Kurzbiographien zu den wichtigsten Personen um Alexander und die Diadochenkönige. Dadurch wird die Orientierung und die Zuordnung der vielen für das Thema wichtigen Protagonisten wesentlich erleichtert. Ein wunderbares, informatives Buch also, das für jeden Alexander-Fan schlicht unentbehrlich bleibt!