Müller, Raimund – Ritter der Euterpe, Die

Historische Romane üben schon seit langem eine große Faszination auf mich aus, stellen sie doch die Möglichkeit dar, beim Lesen in eine fremde Zeit einzutauchen, Figuren der Geschichte zu treffen und eine ganz andere Lebensart kennenzulernen. Auch geschichtlich kann man in gut recherchierten Romanen oftmals ganz nebenbei noch etwas hinzulernen. Darüber hinaus spielt ein Teil des vorliegenden Romans in meiner Heimat, dem Harz, sodass ich nicht umhin kam, mir Raimund Müllers Erstlingsroman zu Gemüte zu führen. Dem Buch zugrunde liegt eine dreijährige Recherchearbeit des Autors in zahlreichen Museen und Archiven, sogar die erwähnten Orte des Harzes hat Müller alle bereist, um die Schilderung der Szenerie möglichst wahrheitsgetreu klingen zu lassen.

_Ein Ritter der Euterpe_

Wir schreiben das Jahr 1757 und in Deutschland herrscht der Siebenjährige Krieg. Das Herz des jungen Northeimer Kantors Matthäus Müller ist für die Ziehtochter der Pastorenfamilie Völger entbrannt, doch Nanni soll dem Stadtphysikus versprochen werden. Angesichts dieses Liebeskummers kommt Matthäus ein geheimer Auftrag des Majors von Dethmer äußerst gelegen. In einem Schnellverfahren wird Matthäus aufgenommen in den Geheimbund „Ritter der Euterpe“, in dessen Mission er einen Kurierdienst ausführen soll, der ihn nach Blankenburg führen wird. Zuvor will Matthäus seinen Bruder Heinrich in Braunschweig besuchen. In Clausthal schließlich soll er einen Kurier treffen, der ihn nach Blankenburg begleiten wird, um dort dem geheimen Rat von Schlierstett eine Botschaft zu überbringen.

Doch schon nahe dem Städtchen Seesen trifft Matthäus auf feindliche Soldaten und muss seine geliebte Geige einbüßen, um sein Leben zu retten. In Clausthal eingetroffen, begibt Matthäus sich sogleich in ein Etablissement, um dort seinen Kurier zu treffen. Als ihn aber eine schöne Nymphe anspricht und ihm ihren Preis für eine Nacht nennt, beschließt Matthäus spontan, der schönen Frau, die sich als Sophia vorstellt, den Vorzug zu geben. Nach ihrer gemeinsamen Liebesnacht gibt sich Sophia als der besagte Kurier zu erkennen. Ohne weitere Vorkommnisse können die beiden ihre Nachricht in Blankenburg überbringen und anschließend noch drei Tage lang ihre Liebe genießen, bevor Matthäus wieder nach Northeim in sein altes Leben zurückkehrt. Gleichzeitig erlebt Matthäus‘ jüngerer Bruder Johann als Musketier in der Armee den Schrecken des Krieges aus erster Hand mit.

Nach Matthäus‘ Rückkehr wird Northeim von einer Kavallerie Franzosen überfallen. Während Matthäus nach eigener Erkundung der Lage für die Verteidigung der Stadt mit Waffen plädiert, ermöglichen Brandschatzverhandlungen den Feinden schließlich den Einlass in die Stadt. Die Frauen und Kinder suchen Schutz in der Kirche, doch sucht Matthäus dort vergeblich nach Nanni. Als er sie schließlich aus dem Pastorenhaus abholen will, wird er Zeuge, wie drei Soldaten Nanni vergewaltigen. Matthäus kann die fremden Soldaten zwar überwältigen, doch ist Nanni hinterher völlig apathisch. Aus lauter Verzweiflung beschließt Matthäus schlussendlich, Nanni zu Sophia und ihrer Freundin Maria zu bringen, damit diese mit ihren ganz eigenen Heilkünsten zur Gesundung seiner heimlichen Liebe beitragen können. Doch damit gerät nun auch Nanni in die Verwicklungen der Ritter der Euterpe …

_Von den Rittern zum Kriegsgeschehen_

Raimund Müller erzählt seine Geschichte in zwei verschiedenen Handlungssträngen. Neben der Handlung rund um Matthäus Müller, der in den Orden der Ritter der Euterpe aufgenommen wird, verwendet der Autor auch viel Zeit darauf, um über die aktiven Kriegsgeschehen zu berichten, die Matthäus‘ jüngerer Bruder Johann erleben muss. Die Wechsel zwischen beiden Schauplätzen geschehen jeweils am Kapitelanfang. Allerdings ist das Buch insgesamt nur in sieben umfangreiche Kapitel eingeteilt, sodass immer sehr lange Passagen zu lesen sind, bevor es zu einem erneuten Sprung in der Erzählung kommt. Als Nanni schließlich zu Sophia geschickt wird, nimmt auch die Schilderung ihrer Erlebnisse bei Sophia und ihrer Freundin Maria viel Platz ein, hier taucht Matthäus über weite Strecken gar nicht mehr auf.

Wünschenswert wären schnellere Wechsel zwischen den beiden Handlungssträngen gewesen, die eine straffere Erzählweise ermöglicht und vielleicht eine Verbindung über die Verwandtschaft der beiden Hauptfiguren hinaus geschaffen hätten. So bleiben beide Geschichten nebeneinander stehen, ohne viel miteinander zu tun zu haben, und die Zusammenführung am Ende kann auch nur als äußerst unbefriedigend bezeichnet werden. Müller legt dermaßen viel Wert aufs Detail, dass er sich oftmals in langatmigen und überaus detaillierten Schilderungen der Kriegsgefechte verliert und darüber seine eigentliche Handlung zu vergessen scheint. Besonders die Kapitel, die über Johanns Leben berichten, erfordern daher einen langen Leseatem und viel Wissen über die damalige Kriegsführung und das dazu notwendige Material. Raimund Müller verwendet bei seinen Schilderungen über die Kriegsführung viel Fachvokabular, das sich dem Laien manchmal leider auch nicht aus dem Zusammenhang erschließt; so setzt der Autor die Kenntnis von Begriffen wie Protze, Avancierriemen oder auch Kartätschen voraus. Ein Glossar wäre hier zum Verständnis wirklich hilfreich gewesen.

Einen Spannungsbogen habe ich im Buch gar nicht erkennen können. So gut wie nie weiß das Geschehen dermaßen mitzureißen, dass uns die Erzählung an das Buch fesselt. Eher wird dem Leser viel Durchhaltevermögen abverlangt, um sich durch die Kapitel rund um Johann Müller zu kämpfen. Inhaltlich berichtet der Autor hier viel über den Siebenjährigen Krieg, sodass diese Passagen passionierten Historikern sehr zusagen dürften. Doch sind es immer wieder die gleichen Kriegsgräuel samt Vergewaltigung und Abschlachtung der gefangen genommenen Frauen, von denen der Autor uns berichtet. Es passiert leider nicht viel Neues, das mitreißen könnte.

Einzig die Passagen über Nanni, die zwei Jahre lang bei Sophia lebt, unterhalten recht gut, da sie die handelnden Personen in den Vordergrund stellen. Die Geschichte des Siebenjährigen Krieges fungiert hier lediglich als historischer Hintergrund, vor welchem besonders Maria und Sophia einige gefährliche Situationen überstehen müssen. Der Begriff „Ritter der Euterpe“ fällt im Buch vielleicht ein halbes Dutzend Mal, sodass mir die Titelfindung dieses Romans absolut nicht klar geworden ist, da der Roman leider nur ganz am Rande von diesem Geheimbund berichtet. Der Klappentext lässt hier falsche Erwartungen aufkommen, da er Verstrickungen rund um den Geheimbund verspricht und den Handlungsstrang rund um Johann Müller komplett verschweigt.

_Historische Figuren und Szenarien_

Zunächst stellt Raimund Müller den Kantor Matthäus Müller in das Zentrum seiner Handlung. Der Leser erfährt mehr über Matthäus‘ Vergangenheit und seine musikalischen Begabungen. Gleichzeitig rückt auch Nanni in den Blickpunkt des Geschehens, da bereits im ersten Kapitel die aufkeimende Liebe zwischen den beiden jungen Leuten geschildert wird, auch wenn diese ihnen aussichtslos erscheint, da Nanni einem anderen Mann versprochen werden soll. Zu Beginn seines Romans konzentriert Müller sich auf die detaillierte Zeichnung einiger weniger Figuren, die durchaus gelungen ist. Spätestens wenn die Erzählung zu Johann wechselt, trifft der Leser auf dem Schlachtfeld allerdings auf so viele verschiedene Personen, dass man sich kaum die erwähnten Namen merken kann. Doch schon nach der ersten Schlacht mit vielen Opfern merkt man, dass die meisten Namen und Figuren keine wesentliche Rolle in der Romanerzählung spielen werden. Das macht die Geschichte doch etwas unübersichtlich.

Im Grunde genommen handelt der vorliegende Roman von nur fünf Personen, denn neben Matthäus und Nanni lernt der Leser weiterhin Johann Müller und natürlich Sophia und Maria genauer kennen. Die Vorstellung der Hauptfiguren überzeugt zu großen Teilen, viele Eigenschaften der Charaktere werden uns näher gebracht, doch bleiben einige Handlungsweisen doch äußerst undurchsichtig. Besonders Nannis Verhaltensweise als ein traumatisiertes Vergewaltigungsopfer wirkt wenig glaubwürdig.

Stellenweise lässt der Autor durchblicken, dass er seine Schauplätze bereist hat. So schildert er manche Szenerie dermaßen realistisch, dass man die Orte direkt vor Augen hat; besonders auffällig fand ich die kurze Beschreibung von Goslar, die mich sogleich in Gedanken vor die erwähnte Kaiserpfalz versetzt hat. Auch während der Schlachten nimmt Müller sich stets die Zeit, die Örtlichkeiten und Voraussetzungen für die Schlacht von mehreren Seiten zu beleuchten; in zahlreichen Szenen war ich beim Lesen dadurch mitten im Getümmel, weil die Schilderungen so realistisch waren.

_Sprachliches_

Durch die Verwendung altertümlicher Ausdrücke und umständlicher Sprache lässt Raimund Müller einen authentischen Eindruck der Zeit des Siebenjährigen Krieges entstehen. Die Dialoge könnten dabei tatsächlich der damaligen Zeit entnommen sein. Trotz der ungewohnten Sprache lässt sich das Buch dennoch leicht und flüssig lesen, da zumindest in den Kapiteln über Matthäus und Nanni keine unbekannten Vokabeln auftauchen, die das Verständnis beeinträchtigen könnten.

Auffällig ist außerdem, dass Raimund Müller kein Blatt vor den Mund nimmt. So berichtet er von verschiedenen Kriegsverbrechen und Folterungen, die ein ungutes Gefühl im Magen aufkommen lassen. Hier werden dem Leser ziemlich barbarische Methoden präsentiert, die man in derlei Details vielleicht gar nicht hätte wissen mögen. Nur die sexuellen Aussschweifungen der handelnden Figuren deutet Müller leidiglich knapp an und setzt genau dann eine Zäsur, wenn es gerade interessant zu werden beginnt. Der Phantasie des Lesers sind dadurch kaum Grenzen gesetzt.

_Äußerlichkeiten_

Optisch macht dieses Buch eher den Eindruck eines Fachbuches als den eines Unterhaltungsromans. So springt einem zunächst das ungewohnte Schriftbild ins Auge. Der Text dürfte in Times New Roman gesetzt sein, was ich von Romanen normalerweise nicht gewohnt bin. Auch wird jeder Absatz durch eine Freizeile verdeutlicht, die dem Leser auf den relativ großen Seiten die Orientierung erleichtert.

Aufgewertet wird der Roman durch einige sehr gelungene schwarz-weiß-Zeichnungen, die in vielen Details die Szenerie zeigen. Auch einige handgezeichnete Karten erlauben dem Leser ein schnelles Zurechtfinden, da viele der auftauchenden Ortsnamen nicht unbedingt geläufig sind.

Getrübt wird das Lesevergnügen leider durch zahlreiche Tippfehler, die eine simple automatische Rechtschreibkorrektur sofort hätte aufdecken müssen. In einigen Wörtern fehlen einzelne Buchstaben, manchmal ist ein Buchstabe zu viel und auch die Trennung am Ende einer Zeile ist nicht immer richtig. Für einen Preis von 24,90 €uro erwarte ich allerdings eine ordentliche Korrektur.

_Am Ende angelangt_

Nach knapp 700 Seiten historischer Erzählung, die viele Details über den Siebenjährigen Krieg und die damaligen Geschehnisse offenbart, bleiben zwiespältige Gefühle beim Leser zurück, denn Raimund Müller versucht angestrengt, die Ergebnisse seiner langen Recherchearbeit ebenso in sein Buch zu pressen wie die Geschichte um Matthäus und seine Lieben. Das Resultat ist ein dicker Wälzer, der nur schwer sein Zielpublikum finden wird. Historisch interessierte Leser werden sicherlich aufstöhnen angesichts der liebesdurchtränkten Rahmenhandlung samt sexueller Eskapaden der Hauptfiguren und schnulzigem Happy-End, während Leser auf der Suche nach einem unterhaltsamen Roman die Passagen rund um Johann womöglich komplett überspringen werden, da die detaillierten Kriegsbeschreibungen auf Dauer recht langweilig werden. Insgesamt wäre es der Erzählung sicherlich gut bekommen, sie an vielen Stellen zu straffen, da das Buch eigentlich keine Handlung für 700 Seiten mit sich bringt. Insgesamt war das Buch auszugsweise durchaus interessant und lesenswert, dürfte aber eher historisch ambitionierte Leser ansprechen als die Fans historischer Unterhaltungslektüre, da zu viele Informationen über die damalige Geschichte in die Erzählung einfließen und das Erzähltempo dadurch drastisch ausbremsen.