Müller, Ulrich / Panagl, Oswald (Hrsg.) – Ring und Gral

Eine respektable Entscheidung, Beiträge, die Autoren von 1988 bis 2001 für die Programmbücher der Bayreuther Festspiele verfassten, in einem einzigen Band zusammenzufassen. Schwerpunkt bildet dabei Richard Wagners Arbeit an den Themenkomplexen Nibelungen-Sage und Gralswelt. Die Beiträge sind nicht populär gedacht, sondern durchaus wissenschaftlich. Immerhin handelte es sich bei den Erstveröffentlichungen auch schon um keine gewöhnlichen Programmhefte, sondern um Festspielbücher. Unüblich an solchen Festspielprogrammen ist eigentlich, wenn die Texte nicht assoziativ oder von vornherein auf die Inszenierung selbst abgestimmt sind, sondern wie in diesen Fällen tatsächlich eine unabhängige Rezeption des Stoffes an sich darstellen.

Vorab dargestellt sind die alten mittelalterlichen Quellen im Original mit der Prosaübersetzung und zwar in den Teilen, auf die Wagner in seinen Musikdramen Bezug nimmt: Textstellen aus dem Nibelungenlied, der Edda, der Snorra Edda, Thidrek-Saga und der Völsungen-Saga mit den unterschiedlichen Namensformen bzw. Personen im Nibelungen, im Altnordischen und bei Wagner.

So entfernt uns Wagner auch sein mag, ist doch zu bedenken, dass ohne ihn viele hervorragende Stoffe des europäischen Mittelalters nur noch einem kleinen Kreis von Kennern bekannt wären. Vor allem für die Geschichte von Siegfried und den Nibelungen und Parzival und dem Gral hat er mit seinem Werk mehr bewirkt als Generationen von Philologen, und er steht daher im Bereich dessen, was die moderne Wissenschaft als „schöpferische Rezeption des Mittelalters“ bezeichnet, ganz vorne an. Natürlich hat er in seinen Werken viel verändert. Im „Ring“ konzentriert er sich als Thema ganz auf Brunhild und Siegfried, übernahm dabei alles aus dem Altnordischen, was zu finden war und ließ den zweiten Teil um Etzel und Kriemhilds Rache ganz weg. Im Gegensatz zu seinen anderen mittelalterlichen Musikdramen hat er den „Ring“ aber am allerwenigsten verändert. Es bleiben auch bei ihm die Gegensätze zwischen Eros und Machtpolitik, zwischen dem unruhigen zerstörerischen Prinzip des Männlichen und dem bewahrenden Prinzip des Weiblichen. Aber da das Nibelungenlied als mittelalterliches Nationalepos der Deutschen gilt, geriet er bekannterweise wegen des rein germanischen Stoffes in den Sog der nationalen, schließlich nationalsozialistischen und chauvinistischen Interpretation und Ideologie. Wagners „Ring“ wurde zum Indikator der späteren deutschen Geistes- und Ideologiegeschichte, wenn auch sehr oberflächlich und paradox interpretiert.

Musik war schon immer bedeutsam für mittelhochdeutsche Texte. Die strophischen Texte sind singbar, aber leider sind Melodien des Nibelungenliedes und der Edda-Lieder nicht überliefert. Man hat versucht, das zu rekonstruieren, und der Hildebrand-Ton scheint einer Lösung formal am nächsten zu kommen. Im späteren Mittelalter wurde die Strophenform dieses Tones auch für eine Bearbeitung des Nibelungenliedes (so genannte „Fassung k“) sowie das Lied vom Hürnen Seyfried verwendet. Der Sänger Eberhard Kummer aus Österreich singt heute das gesamte Lied in dieser Weise in 31 Stunden. Gerade durch den musikalischen Vortrag erhalten viele stilistische Eigenarten des Nibelungenliedes erst einen einsichtigen Sinn, der der Literaturwissenschaft verborgen bleibt.

Wenig bekannt ist ein anderer Ort, wo heute noch in ununterbrochener Tradition seit dem späten Mittelalter die Geschichte von Siegfried und den Burgundern gesungen wird. Auf der Färöer-Insel im Atlantik wird innerhalb dreier Stunden in den Nibelungen-Balladen (Regin Smidhur, Brinhild, Högni) die gesamte Geschichte von Jung-Siegfried bis zum blutigen Ende am Hunnenhof erzählt.
Wagner dürfte dies sicher eher nicht bekannt gewesen sein, aber eine Ähnlichkeit ist schon erstaunlich, denn auch er hatte ja den alten hermetischen Stab-Reim wiederentdeckt und angewandt, den er als Instrument der semantischen Verdeutlichung sehr schätzte. Dabei griff er auch auf alte archaische urtümliche Wortbedeutungen zurück, die seine Kritiker als Neuschöpfungen hielten und ihm Missbrauch der deutschen Sprache vorwarfen.

Sehr aufschlussreich werden innerhalb des Buches tief gehendere Vergleiche zwischen den eingangs erwähnten Quellen zu spezifischen Handlungspassagen gezogen, wie dem Tod Siegfrieds, dem Vergessenstrank, mit dem Siegfried Brunhild vergaß (in der Nibelungensage nicht enthalten), und dem Streit der Königinnen. Dieser Streit kommt im „Ring“ nicht vor, dafür hat Wagner ihn in den zweiten Akt seines „Lohengrin“ integriert. Diese Textvergleiche zeigen auf, dass die mittelalterliche Stofftradition verschiedene Begründungen für die Geschehnisse bietet, die teilweise miteinander verbunden sind, sich aber teilweise ausschließen. Darüber hinaus finden im Zusammenhang dieser Gegenüberstellungen auch die im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Nachdichtungen Beachtung, wie die „Nibelungen“ von Friedrich Hebbel, das nach langer Nichtbeachtung ab Anfang der 80er Jahre fürs Theater wieder interessant und wichtig wurde; oder auch Henrik Ibsens „Nordische Heerfahrt“ (1858).

Interdisziplinär wird auch etwas über den Tellerrand geblickt und in einem größeren Kontext werden – neben dem zur gleichen Zeit entstandenen mittelalterlichen Rolandslied – die vergleichbaren Götter- und Helden aus der indogermanischen Frühzeit, bei den Griechen, Römern, Indern und Kelten und die Mythen des russischen Sprachraums noch hinzugezogen. Damit verlieren sich die Autoren aber nicht in der Vergangenheit, sondern kehren mit Betrachtungen über die Darstellung der zeitgenössischen Kunst, die bis hin zu den Nibelungenbildern von Johannes Heinrich Füssli geht, entstanden zwischen 1798 – 1820, in die Gegenwart zurück. In einem ähnlich gegliederten Schlussteil widmet sich das Buch noch einer umfangreichen Betrachtung des Gralsmythos.

[Richard Wagner]http://de.wikipedia.org/wiki/Richard__Wagner
[Nibelungenlied]http://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied
[Der Ring des Nibelungen]http://de.wikipedia.org/wiki/Der__Ring__des__Nibelungen
[Richard-Wagner-Festspiele]http://de.wikipedia.org/wiki/Richard-Wagner-Festspiele