„Tony Takitani“ ist ein Buch, das aus dem Rahmen fällt. Recht großformatig geschnitten, etwas minimalistisch gestaltet und für den Zyniker geradezu papierverschwenderisch gedruckt. Gerade mal 64 Seiten, gerade mal etwa eine Dreiviertelstunde Lesevergnügen, für die der geneigte Leser satte 16 €uro auf den Tisch zu legen hat. Ganz haarspalterisch betrachtet, sind das 25 Cent pro Buchseite oder gar 35 Cent pro Leseminute. Manch einer wird angesichts dieses Preis-/Lesezeitverhältnisses nicht nur schlucken, sondern gleich die Finger von dem Buch lassen. Das ist einerseits verständlich, andererseits ob der Inhalte aber auch bedauerlich, denn „Tony Takitani“ ist ein waschechter Murakami, mit all seinen Qualitäten – nur eben in Kleinstausgabe.
Dass Haruki Murakami ein Ausnahmeautor ist, haben viele Leser schon längst begriffen. Er hat ein außerordentlich vielfältiges Repertoire, hangelt sich von Genre zu Genre, erzählt Romantisches, Visionäres und Fantastische, versteht sich aber auch auf ernste Themen mit dokumentarischem Charakter. Alles auf gleichsam hohem Niveau. Schon mit „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ oder mit „Der Elefant verschwindet“ hat Murakami bewiesen, dass er auch über die kurze Distanz zu erzählen und den Leser gefangen zu nehmen weiß. Mit „Tony Takitani“ liefert er einen weiteren Beleg dafür.
Darüber hinaus ist „Tony Takitani“ der erste Murakami, der nicht nur als Buch Eindruck machen kann, sondern auch als Kinoverfilmung. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung des Buches läuft auch der gleichnamige Film in den deutschen Programmkinos an, wenngleich auch sicherlich eher vor kleinem Publikum. Das mag wieder den Zyniker auf den Plan rufen, der einwirft, dass er für einen Buchkauf auch zweimal ins Kino gehen könnte, so teuer wie das Buch ist. Das lässt sich alles nicht leugnen und ob ein so hoher Preis für lediglich eine Novelle gerechtfertigt ist, da darf man sicherlich so manchen Zweifel hegen.
Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen der eigentliche Inhalt des Buches. Murakami erzählt wieder einmal eine Geschichte über Zwischenmenschliches – über Nähe und Isolation, über Liebe, Einsamkeit und Verlust.
Tony Takitani, Hauptfigur und Namensgeber der Geschichte, hat keine leichte Kindheit. Die Mutter stirbt drei Tage nach seiner Geburt, das Verhältnis zum Vater bleibt stets ein wenig unterkühlt. Obendrein wird er aufgrund seines amerikanischen Vornamens gehänselt, teilweise gar als vermeintliches Mischlingskind verspottet. Dabei ist Tony Takitani ein waschechter Japaner.
Seine Kindheit verläuft ansonsten unspektakulär. Der Vater verdient seine Brötchen als Jazz-Posaunist, während Sohnemann seine Leidenschaft für das Zeichnen entdeckt. Ganz akkurat und geradezu detailbesessen führt Tony Takitani den Bleistift. Dass er später technischer Zeichner wird, verwundert niemanden. Ähnlich akkurat und leidenschaftslos wie seine Zeichnungen, verläuft auch Tony Takitanis Privatleben. Er ist allein und lebt recht unspektakulär vor sich hin. Tony Takitani hat sich mit seiner Einsamkeit abgefunden.
Das ändert sich, als er eines Tages eine junge Frau kennen lernt. Schnell erkennt er, dass diese Frau für ihn etwas Besonderes bedeutet. Er verliebt sich in sie – eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Die beiden heiraten und Tony Takitani findet in seinem Leben endlich das, was ihm immer gefehlt hat. Der einzige Schatten, der dieses Glück trübt, ist die Besessenheit, mit der Tony Takitanis Frau Kleider kauft. Als ihre Kleider irgendwann schon ein ganzes Zimmer in Tony Takitanis Haus füllen, bittet er seine Frau, sich doch vielleicht ein bisschen zu mäßigen. Sie zeigt sich einsichtig, weiß um das Krankhafte ihrer Leidenschaft und verspricht sich zu bessern.
Kurz darauf verunglückt die Frau tödlich mit dem Auto. Tony Takitani ist untröstlich. Der Anblick des Zimmers voller Kleider ist ihm unerträglich. Er versucht all die abgestreiften Hüllen, die seine Frau zurückgelassen hat, wieder mit Leben zu füllen und macht sich auf die Suche nach einer 1,61 m großen Frau mit Kleidergröße 34 …
„Tony Takitani“ ist eine Geschichte, die einem so schnell nicht aus dem Kopf geht und somit ein typischer Murakami. Murakami ist ein Meister im Erzählen von Geschichten, die einem nicht aus dem Kopf gehen und so steht „Tony Takitani“ in bester Murakami-Tradition.
Schon nach wenigen Zeilen nimmt uns die Geschichte gefangen. Haruki Murakamis Erzählstil wird von einer merkwürdigen Poesie getragen. Seine Geschichten haben etwas Magisches, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann. Er fesselt, durch seine Art zu erzählen, durch seinen bedachten Umgang mit Worten, durch die Bilder, die er im Kopf erzeugt. Seine Erzählweise, die auf den ersten Blick ein wenig kühl und distanziert wirken mag, ist bei näherer Betrachtung das genaue Gegenteil: eindringlich und emotionsgeladen – aber eben auf ihre ganz eigene Art und immer wieder auch ein wenig verstörend.
Auch „Tony Takitani“ zeigt deutlich diese Mischung. Auf der einen Seite Distanz und deutlich spürbare Kühle. Auf der anderen Seite ein tiefer Einblick in Emotionales. Tony Takitanis Frau bekommt nicht einmal einen Namen, man erfährt nichts über ihr Leben, weiß nur um ihre Kleiderbesessenheit. Ihr Tod kommt plötzlich und unerwartet, geradezu beiläufig und gerade darin liegt bei Murakami so viel Wucht: |“In diesem Moment raste ein Lastwagen, der noch bei Gelb über die Kreuzung fahren wollte, mit voller Geschwindigkeit in ihren Renault Cinque. Ihr blieb nicht einmal Zeit, etwas zu spüren.“|
Tony Takitani ist fortan wieder allein. Und trotz der Kürze der gesamten Geschichte kann man sehr gut mit ihm fühlen. Diesmal erwischt die Einsamkeit ihn eiskalt. Isoliert steht er da, während das Leben vor seiner Tür weiterzieht und er scheint unfähig, daran teilzuhaben. Einsamkeit war ihm von früherer Zeit so vertraut und doch ist sie ihm so neu. Murakami schafft es mit ganz einfachen Mitteln, mit so wenigen Worten, dies einfühlsam zu vermitteln.
Es sind Erzählelemente, die recht typisch für Murakami sind. Liebe und Einsamkeit, Verlust und Isolation spielen oft eine Rolle in seinen Erzählungen und dennoch zeigt „Tony Takitani“ noch eine eigene Spielart. Unstrichen wird diese auch durch die Aufmachung des Buches. „Tony Takitani“ ist in zweifacher Hinsicht ein Kunstwerk – literarisch und visuell.
Das Buch mit dem dicken, schlichten Pappeinband ist angereichert mit Bildern aus der Verfilmung von Jun Ichikawa. Bilder, die schon einen recht guten Eindruck vermitteln und Lust auf den Film machen. Bilder, die all die Emotionen widerspiegeln, die auch Murakami auf erzählerische Art vermittelt. Entfärbt und in schlichtem, kühlem Blaugrau gehalten, erzeugen die Bilder ein absolut stimmiges Bild. € 16,- für eine 64-seitige Novelle mögen schon sehr teuer sein, aber zweifelsohne bekommt man dafür auch ein ungewöhnliches Buch geboten.
Haruki Murakami beweist mit „Tony Takitani“ einmal mehr auf eindrucksvolle, nachhaltig beeindruckende Art, dass er ein Meister des Erzählens ist. Man denkt auch nach dem Ende der Erzählung immer wieder an Tony Takitani zurück. So leidenschaftslos sein Leben auch wirken mag, er ist dennoch eine Figur, die einem immer wieder in den Sinn springt, aber das haben Murakami-Figuren auch irgendwie so an sich. Ein Murakami zieht nicht spurlos an einem vorbei – auch dieser nicht. Ein Autor, der Eindruck macht und eine Erzählung, die im Gedächtnis haften bleibt.
Murakami-Fans werden so auch weiterhin daran festhalten, den Nobelpreis für ihren Star zu fordern. Oder, wie ich es einst in einer Kundenrezension des Online-Buch-Giganten |Amazon| las: „Sie haben noch nie einen Murakami gelesen? Sie Glücklicher. Dann haben Sie das Beste ja noch vor sich.“