Sarah Murgatroyd – Im Land der grünen Ameisen

Im August 1860 bricht in Melbourne eine große Expedition auf, die den Kontinent Australien durchqueren und die Nordküste erreichen soll. Die Reise durch 5000 Kilometer unwirtliches, kaum besiedeltes, feindseliges Land endet in einer Katastrophe, die acht Menschen das Leben kostet und sich in einen nationalen Skandal verwandelt … – Kritische Neubewertung einer historischen ‚Großtat‘, die das zeitgenössische Denken berücksichtigt, die Wahrheit hinter verklärenden Worten sucht und zu einem eher bestürzenden Resultat kommt: gut recherchiertes, spannend geschriebenes und mit trockenem Witz belebtes Sachbuch.

Inhalt:

Das 19. Jahrhundert ist in Australien eine Zeit des Aufbruchs. Aus der ehemaligen Sträflingskolonie wurde eine selbstbewusste, stolze und vor allem reiche Gemeinschaft. Sie herrscht über ein Land, das so groß ist wie die Vereinigten Staaten von Amerika – nominell jedenfalls, denn tatsächlich halten sich die wenigen Bewohner in einem schmalen Landstrich entlang der australischen Küsten auf. Das Innere ist weitgehend unerforscht und wird gnädig den ‚wilden‘ Aborigines – den eigentlichen Australiern – überlassen.

In den großen Städten ist das Establishment unruhig. Womöglich gibt es im Zentrum Australiens Schätze oder reiches Weideland, das man sich aneignen könnte! Jemand müsste nachschauen, und im Jahre 1860 ist es so weit. Nachdem bisher hauptsächlich Abenteurer die australische Wildnis erkundet haben (und nicht selten dort verschwunden blieben), beauftragt die „Royal Society“ der Stadt Melbourne die „Victorian Exploring Expedition“ damit, den Kontinent von der Süd- bis zur Nordküste zu durchqueren, wissenschaftlich zu ergründen und vor allem auf lukrative Einnahmequellen zu prüfen. Unter dem Kommando des ehemaligen Polizeiinspektors Robert O’Hara Burke beginnen 18 Männer auf 23 Pferden und 26 Kamelen (!) die lange und gefährliche Reise.

Von Anfang an geht praktisch alles schief. Die „Royal Society“ denkt ausschließlich an ihren Ruhm und Nutzen. Von der Ausrüstung einer Expedition haben die selbstgefälligen Mitglieder keine Ahnung. Gentlemen von guter Herkunft sollen teilnehmen. Ihre Eignung ist Nebensache. Das Ergebnis entspricht dieser ignoranten Haltung. Burke ist guten Willens, wird aber zerfressen von Ehrgeiz. Er will seine Mission erfüllen – oder sterben! Unbarmherzig treibt er die Expedition voran, überfordert die Tragtiere, hinterlässt eine breite Spur fortgeworfener Ausrüstungsgegenstände, verbraucht zu viel Proviant, trifft falsche, einander widersprechende Entscheidungen, überwirft sich mit seinen Gefährten, stößt die grundsätzlich hilfsbereiten Aborigines vor den Kopf, beharrt halsstarrig auf sichtlich falschen Anordnungen.

Die auf menschliches Versagen basierende Katastrophe nimmt unbarmherzig ihren Lauf. In seiner Hast teilt Burke mehrfach die Gruppe, prescht schließlich mit drei Begleitern in die endlose australische Weite – ohne Kenntnis des Geländes, ohne ausreichende Vorräte, ohne Reserven. Unendliche Qualen strafen die selbst ernannten ‚Entdecker‘ Lügen. Sie erreichen die Nordküste, aber ihre Kräfte sind erschöpft, die Lebensmittel verzehrt. Den Rückweg haben sie sich selbst verbaut, kein Hilfsteam erwartet sie. Burke und seine Männer erleben die Hölle auf Erden, die sie sich selbst geschaffen haben. Ein Happy-End wird es nicht geben, selbst der Tod bedeutet keine Erlösung. Was als national gefeierter Triumphzug begann, endet als gewaltiger Skandal, der weitere Pechvögel ins Verderben reißt …

Entdecken – erobern – scheitern

Die europäischen und später amerikanischen Entdecker des 15. bis 19. Jahrhunderts galten ihren Zeitgenossen als kühne Helden, die sich stellvertretend für ihre Landsleute in ärgste Gefahren begaben und für ihre unglaublichen Entbehrungen zu Recht gefeiert wurden. Diese Sichtweise hat sich lange gehalten. Erst im späten 20. Jahrhundert begann man, die historischen Wundertaten einer historischen Überprüfung zu unterziehen. Seither stellt sich die zu entdeckende Welt mehr und mehr als Spielfeld für ruhmsüchtige Stümper, Ignoranten, Dummköpfe, Menschenrechtsverächter, Ausbeuter und andere unerfreuliche Gestalten heraus.

Sarah Murgatroyd schildert eine berühmte Episode der australischen Entdeckungsgeschichte. Ihre Absicht ist es nicht, dem daheim verehrten Burke seinen Heldennimbus zu rauben. Objektiv hat dieser Mann Großartiges geleistet. Die Tragik seines Lebens besteht darin, dass dies mit einem Leiden verbunden war, das definitiv nicht nötig gewesen wäre: Bessere Vorbereitung, Einsicht, Lernbereitschaft, vor allem die Fähigkeit oder wenigstens die Bereitschaft, sich auf das fremde Land und die Aborigines einzulassen – so wäre Burke als lebendiger Held in die Geschichte eingegangen!

„Im Land der grünen Ameisen“ – ein seltsamer deutscher Titel; im Text finden diese Insekten keinerlei Erwähnung – ist weitaus mehr als eine gelungene Rekonstruktion der Burke-Expedition von 1860/61. Murgatroyd schwebte mehr als die Darstellung einer isolierten Episode vor. Sie bettet das Geschehen in die Geschichte Australiens ein. Vor diesem Hintergrund gewinnen Burkes unverständliche Handlungen plötzlich auf ihre Weise Sinn.

Forschung als Feigenblatt

So konnte Murgatroyd eindeutig nachweisen, dass Burke mit einem ‚Geheimauftrag‘ auf Reisen ging. Die mitgeschickten Wissenschaftler galten den Drahtziehern in der „Royal Society“ nur als Strohmänner. Außer Sicht der Öffentlichkeit sollte sich Burke von ihnen, die durch ihre Untersuchungen das Tempo der Expedition drückten, rasch trennen und sich auf den Weg nach Norden begeben. Ein Sieg im Wettlauf um Australiens Nordküste würde der Kolonie Victoria, deren Repräsentanten die Mitglieder der „Society“ waren, gestatten, ihren territorialen Anspruch auf die noch herrenlosen Landstriche Nordaustraliens anzumelden. Um viel Geld und Macht ging es hier; die Forschung war da Nebensache.

Zum schmählichen Ende trug zweitens die Unfähigkeit der Reisenden bei, sich auf das fremdartige Land einzulassen, es nicht zu ‚erobern‘, sondern seine Gesetze und Regeln zu erfassen und sich daran zu halten. Der Blick auf die Aborigines hätte hier Wunder wirken können. Diese leben seit Jahrzehntausenden dort, wo die ‚weißen Herren‘ kläglich eingingen. Der Dünkel des 19. Jahrhunderts gestattete kein Fraternisieren mit den ‚Wilden‘. Stattdessen brachen die auf ihre Ahnungslosigkeit fast stolzen Eindringlinge manchen unnötigen Streit mit den Aborigines vom Zaun, die ihnen trotzdem immer wieder halfen. Dass wenigstens einer von Burkes letzten Gefährten überlebte, verdankte er den freundlichen ‚Eingeborenen‘. (Wenigstens dieser John King hat seine Lektion übrigens gelernt.)

Die rein sachliche Sicht auf die Burke-Expedition reicht aus, deren Glanz nachhaltig zu trüben. Murgatroyd schildert die unheilvollen Mechanismen, die zum Untergang führten, mit deutlichen Worten und trockenem Witz, hinter dem der Zorn auf den ewigen Sieg des Mammons über den Geist deutlich spürbar bleibt. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die moralischen Standards der Vergangenheit nicht mit denen der Gegenwart übereinstimmen, lassen sich die Mauscheleien der „Society“ nicht leugnen. Murgatroyd beendet ihre Darstellung nicht mit dem traurigen Ende der Expedition, sondern widmet dem Nachspiel breiten Raum – glücklicherweise, denn dieses ist mindestens ebenso interessant wie die Reise selbst.

Instrumentalisiertes Heldentum

Die Umwidmung des Burkeschen Scheitern in eine nationale Heldentat und die brutale, leider erfolgreiche Suche nach einem Sündenbock ist ein Lehrstück in Sachen Machtmissbrauch. Acht Menschen kostete das Abenteuer von 1860/61 das Leben; die Entbehrungen der Überlebenden lassen die Frage aufkommen, ob die Toten nicht mehr Glück als sie hatten. Burke stieg in den Olymp der Helden auf; praktischerweise war er nicht mehr am Leben und daher über lästige und unangenehme Nachfragen erhaben. Denen, die zurückkehrten, war dieses Glück nicht beschieden. Murgatroyd spürt ihren weiteren Viten nach, enthüllt lebenslange Traumata, wirtschaftliches Elend, Vergessen, frühen Tod.

Der historische Weg in die Wildnis wird durch zeitgenössische Zeichnungen, Stichen und Fotos illustriert. Die Verfasserin stellt ihnen moderne Karten sowie Bilder vom Zustand der Expeditions-Etappen heute gegenüber. Murgatroyd ist Burkes Reiseweg gefolgt. Heute ist das zwar immer noch strapaziös, aber keine Irrfahrt ins Ungewisse mehr. In der Wildnis haben sich erstaunlich viele Spuren der Vergangenheit erhalten. (So leben heute in Zentralaustralien 500000 wieder wildgewordene Kamele – die größte frei lebende Herde der Welt!) Der „Dig Tree“ des Originaltitels, der den Standort eines besonders berühmten Burke-Lagerplatzes markiert, ist sogar ein nationales Denkmal geworden und wird entsprechend gepflegt.

Für den deutschen Leser gewinnt die Burke-Story auch deshalb an Interesse, weil die Expedition gleich drei Landleute zu ihren Teilnehmern zählte. Ludwig Becker, der Maler, kam in der Wildnis ums Leben, während der Arzt und Botaniker Hermann Beckler und vor allem der für den Untergang der Burke-Gruppe verantwortlich gemachte William Brahe immerhin in die Zivilisation zurückfanden. Australien war schon damals ein Land scheinbar noch unbegrenzter Möglichkeiten, das viele Einwanderer aus aller Welt anzog. Der wohl berühmteste Entdecker vor Robert O’Hara Burke war übrigens Ludwig Leichhardt – ein Preuße. (Er nahm ein ebenso bitteres Ende wie sein Nachfolger.)

Autorin

Sarah Murgatroyd wurde 1967 in England geboren. Dort studierte sie Philosophie, Literatur und Journalismus. Schon während ihrer Universitätsjahre bereiste sie China und die Länder des Himalayas. Ab 1992 arbeitete sie als Auslandskorrespondentin für die BBC. Im folgenden Jahr ging sie nach Australien, um dort Nachrichten und Features für ihren Auftraggeber zu produzieren.

Während sie die Augen offenhielt, stieß sie auf die berühmte Geschichte von der Burke-Expedition – ein Ereignis, das in Australien eine ähnliche historische Bedeutung wie das Scheitern der Scottschen Südpol-Expedition oder die „Titanic“-Katastrophe von 1912 besitzt. Murgatroyd beschloss, die Wahrheit hinter der Legende zu rekonstruieren. Zwar gab es schon vorher Autoren, die energisch am Burke-Heiligenschein gekratzt hatten, aber Murgatroyd unternahm es, die Einzelbelege zu überprüfen, zu ergänzen und zu einem neuen Gesamtbild zusammenzustellen. Dafür scheute sie nicht den Aufwand, sich auf den Spuren der Burke-Expedition selbst in die Wildnis zu wagen. Die Unmittelbarkeit ihrer Erfahrungen lässt die besonderen Umstände des Geschehens von 1860/61 besonders eindringlich werden.

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: The Dig Tree (Melbourne : The Text Publishing Company 2002)
Übersetzung: Elke Hosfeld
http://www.randomhouse.de/goldmann

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)