Die Körperlotterie und andere Geschichten um Liebe, Sex, Erotik und Gender
Die Liebe verändert die Welt. Aber die Welt verändert auch die Liebe. Was also wird Zärtlichkeit in der Welt von morgen sein: ein elektronischer Impuls in einem Computerprogramm? Ein antikes Laster? Eine technische Disziplin durchtrainierter Hochleistungserotiker? Acht Autoren [schreiben] über Zukunft in Sachen Liebe. (Verlagsinfo)
Die Herausgeber
1) Michael Nagula hat sich als Herausgeber, Autor, Kritiker und Verfasser zahlreicher Vor- und Nachworte betätigt. Zu seinen bekanntesten Publikationen gehört „Atomic Avenue“, eine Anthologie über das Cyberpunk-Subgenre, die bei Heyne erschien.
2) Karl Michael Armer
Karl Michael Armer, geboren 1950, ist in der Werbung tätig und veröffentlichte ab 1977 SF-Stories sozialkritischen Inhalts. Dazu gehören „Mit beiden Beinen fest auf der Erde“ (1977), „Es ist kein Erdbeben, Ihnen zittern nur die Knie“ (1981), „Die Eingeborenen des Betondschungels“ (1984) und „Die Endlösung der Arbeitslosenfrage“ (1987). Weitere Stories wie „Durch das Weltall, schubiduwah“ erschienen auch in USA oder wurden wie „Umkreisungen“ mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
Die Erzählungen
1) Peter Carey: Die Chance (The Chance, Australien 1980)
Die Aliens sind gelandet und haben sich friedlich niedergelassen, um den großen Reibach zu machen. Die Fastalogier haben die genetische Lotterie eröffnet, die sie Die Chance nennen: Wer 2000 Intergalaktische Dollar setzt, gewinnt einen anderen Körper, eine andere Stimme. Die so Umgewandelten sorgen dafür, dass sich die zwischenmenschlichen Bande in Familie, Ehe und Nachbarschaft auflösen. Ganz klar, dass die Aliens siegen werden, so wie seinerzeit schon die Amerikaner mit ihrem Fernsehen für eine soziokulturelle Umwälzung gesorgt haben.
Der Erzähler ist ein Gärtner in einer australischen Stadt. Mit dem ältlichen, groben Körper, den er diesmal gewonnen hat und den man ihn „Lumpy“, also „Klumpen“ nennt, schlägt er sich so durch. Er bekämpft die Pflanzen nicht, die die Fastalogier eingeschleppt haben, sondern spielt lieber Karten. Bis er eines Tages eine junge Frau kennenlernt, die eine Revolutionärin aus besserem Haus ist, eine sogenannte Hup. Auch sie trickst sich durchs Leben. So hat sie etwa eine männliche Leiche besorgt und dafür benutzt, Almosen zu erbetteln. Mit dem gesammelten Geld kauft sie ihm Essen und Bier, denn er hat sein Bier mit ihr geteilt.
Wenig später teilen sie das Bett, und er zieht bei ihr ein und verliebt sich in sie. Aber was hat es zu bedeuten, wenn sie ihr Haus erst orange und dann himmelblau streichen lässt? Was haben die schrägen Gestalten in ihrem Wohnzimmer zu bedeuten? Lumpy hat ein geschärftes Klassenbewusstsein und merkt an den Manierismen dieser Typen, dass es Leute aus Carlas Klasse sind, die sich bereits einen Zweitkörper besorgt haben. Ein neugieriger Zwerg, eine hagere alte Schachtel – was verbirgt sich hinter diesen Fassaden?
Lumpy ist schockiert, als ihm Carla beichtet, dass sie sich per Lotterie ebenfalls einen Zweitkörper besorgen will und zweitens, dass die Hups den Aufstand gegen die Besatzer planen. Diese widersinnige Doppelstrategie will mal einer verstehen! Wie auch immer: Lumpy mag Carlas Erstkörper so, wie er ist und sagt ihr, sie könne sich die Lotterie abschminken. Eines Morgens ist sie weg, und zwar schon einen Tag vor dem Lotterietag (der nur zweimal pro Jahr stattfindet). Sie hat ihn überlistet…
Mein Eindruck
Mit einem scharfen Blick für die Eigenheiten von Charakteren verarbeitet der Autor in dieser Liebesgeschichte mehrere, scheinbar grundverschiedene Themen. Durch die Landung der Aliens sind alle Menschen Unterdrückte geworden und streben daher nach Befreiung. Carla will sich aber zusätzlich von ihrer eigenen Klassenzugehörigkeit der Oberklasse befreien und nimmt sich den Arbeiter Lumpy zum Freund.
Nicht zufrieden mit dieser sozialen „Errungenschaft“, will sie auch noch, wie ihre Freunde, einen Zweitkörper. Doch diese Wahl ist, da sie von den Aliens kommt, nicht ihr überlassen, sondern angeblich dem Zufall: Sie bekommt den verfallenden, fetten Körper einer älteren Frau. Carla ist todunglücklich. Unausweichlich ist jedoch auch der Aufstand der Hups. Und was macht ihr Freund Lumpy? Das darf hier nicht verraten werden.
Der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund, was Sexualität und Genitalien angeht. Denn seine Stärke ist, wie gesagt, ein scharfer Blick für die authentische Realität der menschlichen Existenz. Dies ist das Merkmal eines großen Erzählers. Er wurde zweimal mit dem Booker Prize ausgezeichnet und dreimal mit dem Commonwealth Writers‘ Prize. Schon zu Lebzeiten (2010) ehrte ihn die australische Post mit einer Briefmarke. Er lebt in New York City.
Mehr zu Peter Carey: https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Carey
2) Der See war voll künstlicher Dinge (The lake was full of artificial things, 1985)
Miranda macht mit bei einer neuen Methode eine Psychotherapie. Sie will über den Verlust Daniels, ihres Freundes an der Uni Chicago bis 1972, 30 Jahre später hinwegkommen und lässt sich verkabeln. Dr. Anna Matsui speist ihrem Gehirn die Daten ein, die sie in Miranda über Daniel gesammelt und erzeugt so eine Art Traum, der aber auf Erinnerungen basiert. Das Ergebnis ist zufriedenstellend: Daniel erscheint und ist so liebevoll zu seiner „Randy“ wie er nur kann. Aber bevor irgendetwas passieren kann, zieht Dr. Matsui den Stecker. Miranda ist irgendwie unzufrieden.
Bei der zweiten „Begegnung“ sagt Daniel hässliche Dinge zu ihr. Dr. Matsui ist klar, dass dies die Schuldgefühle und Vorwürfe sind, die sich Miranda selbst macht. Daniel sollte für den Vietnamkrieg eingezogen werden, doch, Unglück ahnend, hatte sich Miranda bereits mit Michael, dem Mathematiker, eingelassen. War das nun Feigheit oder Grausamkeit, fragt sie Dr. Matsuis Assistenten. Der sagt „Feigheit“.
Doch die Träume enden nicht in der Praxis. Kaum setzt sich Miranda aufs Fahrrad, überfallen sie die Visionen von Vietnam realer als je zuvor…
Mein Eindruck
Die Autorin verarbeitet sowohl die Zeit der Hippies anno 1970 (sie studierte 1969 an der wilden Uni Berkeley) als auch das Trauma des Vietnamkriegs, der bis 1973 dauerte und zehntausende junge Amerikaner das Leben oder die Gesundheit kostete. Am Ende gibt es keine mentale Hilfe für Miranda, denn sie wird in den Sog des Krieges hineingezogen. Interessant für dieses Auswahlband ist die Möglichkeit einer „Liebesgeschichte reloaded“. Leider besteht sie nur aus Erinnerungen, nimmt den Verlauf aller unglücklichen Affären und lässt sich nicht revidieren.
3) Frederik Pohl: Der Tag Million (Day Million, 1966)
Das Thema dieser Story ist einfach: Liebe zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau. Der Unterschied: Der Mann – nennen wir ihn Don, von aDONis – ist schon über 100 Jahre alt, weil er ständig durch den Raum fliegt, und zwar mit annähernder Lichtgeschwindigkeit oder sogar schneller. Und das Mädchen – nennen wir sie Dora, von S Doradus – lebt in der Tiefsee, woran sie optimal angepasst ist. Man merkt schon, dies ist nicht unsere Gegenwart. Nein, dies ist der Tag Million, also in etwa zehntausend Jahren. (Wir leben heute ungefähr 720.000 Tage nach Christus.)
Ach ja, fast hätte ich es vergessen: die Liebe. Don und Dora heiraten, indem sie ihre Identitätsaufzeichnungen austauschen. Danach gehen sie auseinander, können aber jederzeit auf die Aufzeichnungen zurückgreifen – was sicherlich viel befriedigender sein dürfte, als ständig vom jeweils anderen getrennt leben zu müssen. Und wem das komisch vorkommt, der denke mal daran, was Attila oder Dschingis-Khan über unsere Televisions- und Internet-Gegenwart denken würden….
Mein Eindruck
Dies ist wohl die berühmteste, satirische Story von Fred Pohl. Sie erschien 1966 im Magazin „Rogue“. Da es sich dabei um ein Herrenmagazin gehandelt haben dürfte, passt die Thematik „Liebe in der Zukunft“ sehr gut dazu.
4) Tanith Lee: Lieb‘ ist nicht Liebe (Love Alters, 1985)
Die Erzählerin lebt in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit Jenny zusammen, die möglichst bald Töchter haben will. Die Müttergeneration – also beide Mütter – übt nämlich erheblichen Druck aus: Es wäre an der Zeit, dass die beiden endlich Enkelinnen hervorbrächten – solche von der Babybank, versteht sich. Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes. Unsere Erzählerin verliebt sich.
Nein, nicht in ein anderes nettes Mädchen, wie es sich gehört, sondern in einen Mann. Nicht etwa in einen netten weiblichen Mann, sondern ausgerechnet in einen männlichen Mann, einen echten Macho. Grausam! Doch diesen Druse abzuwimmeln und loszuwerden geht nicht. Marco, der Chef, hält Druse, den Macho, für ein Genie und somit unentbehrlich für das neue Projekt bei „Computer Eyes“. Bei einer heftigen verbalen Auseinandersetzung gerät sie mit Druse aneinander, erzeugt einen Kurzschluss im System und wird erheblich verletzt. Druse kümmert sich angelegentlich um sie, bis zu behandelt wird. Es ist himmlisch.
Druse geht ihr nicht mehr aus dem Sinn, und schließlich stellt sie ihn zur Rede, um sich ihm zu offenbaren. Doch dazu kommt es nicht, denn Druse hat Gewissensbisse, weil er sich inzwischen in JENNY verliebt hat! Es ist niederschmetternd. Während er die Stadt verlässt, bleibt sie bei Jenny und heiratet sie, schon um die Mütter zufriedenzustellen. Ach, warum muss die Welt so grausam sein?
Mein Eindruck
Wie ihre Kolleginnen Suzy McKee Charnas („Alldera“-Zyklus) und Vonda McIntyre beschäftigt sich auch die sinnlichste Autorin unter ihnen mit den faszinierenden Möglichkeiten der Fortpflanzung. Sie kehrt in ihrem Zukunftsentwurf die Geschlechterrollen um, entwirft eine Gesellschaft, in der Homosexualität die Norm und Heterosexualität eine Perversion ist. Durch ihr Verlieben in einen Hetero wird die Chronistin zur Perversen, gleichzeitig durch einen Perversen, nämlich Druse, betrogen. Es hat eben alles seine drei Seiten.
Der O-Titel stammt aus dem Sonett 116 von William Shakespeare (Erstausgabe 1609), siehe S. 88).
5) Michael Blumlein: Die Gehirne von Ratten (The Brains of Rats, 1986)
Der Erzähler ist ein Urologe, der über die Macht verfügt, dass nur männliche Kinder geboren werden. Er ist verheiratet, hat eine kleine Tochter und zieht gerne Frauenkleidung an. Die Frauen sind eindeutig auf dem Vormarsch. In seinen Erinnerungen und Gesprächen berichtet er, warum Männer gerne männlich sind und andere Männer – angeblich auch er – eher weiblich und nachgiebig. Je nachdem, wer die Macht haben will. Die wollen auch manche Frauen haben, klar. Am Schluss bleibt offen, wie er sich entscheiden wird.
Mein Eindruck
Da die Geschichte keine Handlung aufweist, dreht sie sich quasi um sich selbst. Das ist nur begrenzt unterhaltsam. Aber es geht um das Thema Nummer eins, und das interessiert bestimmt jeden Leser. So behauptet der Autor, Jeanne d’Arc sei ein Mann gewesen und Päpstin Johanna im 9. oder 10. Jahrhundert eine Frau. Frauen, die nach Jahren als Männer klassifiziert wurden, stürzten ins Elend. Und viele weitere Beispiele.
Es gibt auch komische Momente, so etwa, als sich ein impotenter 62-jähriger eine Metallrute einpflanzen lässt, reihenweise Frauen beglückt, aber von seiner Frauen wg. Fremdgehens verlassen wird. Letzten Endes scheint die Ausprägung des Geschlechts von den Genen und den Hormonen bestimmt zu werden, die diese in entscheidenden Phasen auslösen. Alles in allem eine frühe Gender-Studie, mit einem futuristischen Aspekt als Drohung: Was, wenn es morgen keine Frauen mehr gäbe? Mit dieser Möglichkeit befassen sich bereits zahlreiche SF-Romane.
6) J.G. Ballard: Familienglück (The Intensive Care Unit, 1982)
In dieser Welt ist es streng verboten, anderen Menschen leibhaftig und in Person zu begegnen. Die Begleiterscheinungen einer solchen illegalen Begegnung wären höchst unhygienisch und emotional bedrohlich, da sind sich Nutzer der distanzierten Liebe ganz sicher, solche wie der Erzähler. Er ist praktischer Arzt und hat seine Praxis ganz auf die Diagnose und Behandlung via Fernsehen ausgerichtet.
Eines Tages wendet sich die junge Margaret an ihn, denn sie vermutet, einen Knoten in der Brust zu haben. Als Beweis entblößt sie ihre schöne Brust und hält sie in die Kamera. Der Arzt ist ziemlich von den Socken, aber dank des Monitors kann er seine professionelle Distanziertheit wahren. Aber es ist ein Anfang: der Anfang der Liebe zu Margaret und der Ehe mit ihr, aus der zwei künstlich befruchtete Kinder hervorgehen, Karen und David.
Alles hätte in schönster Ordnung sein können, doch der Arzt hat die hirnverbrannte Idee, dass es psychologisch nichts Zuträglicheres gebe als eine persönliche Begegnung. Das erste Treffen mit seiner Frau verläuft enttäuschend, denn sie sieht ganz anders aus als in ihrer geschminkten Fernsehdarstellung. Beim zweiten Treffen geht der Arzt noch einen Schritt weiter: Er lädt auch seine Kinder ein. Eine halbe Stunde später überträgt die sorgfältig aufgestellte Kamera ein blutiges Massaker…
Mein Eindruck
Der raffinierte Autor stellt die Verhältnisse, die noch in den sechziger Jahren geherrscht haben mögen (und ich erlebte sie selbst) auf den Kopf, indem er alle Menschen zu Schauspielern macht. Das wichtigste Medium ist das Fernsehen (heute „Video“ bzw. YouTube genannt), und folglich müssen sich alle Auftretenden telegen anziehen und herausputzen. Emotionen spielen dabei natürlich keine Rolle, denn alle wissen sich zu benehmen. Erst die leibhaftige Begegnung, die alle diese Regeln mit Füßen tritt, lässt den alten Adam und die alte Eva hervorbrechen. Ungezügelte, verwirrende Emotionen eruptieren in Akten der Gewalt. Noch nie habe der Arzt seine Familie so geliebt, lautet der letzte Satz.
Merkwürdig ist nur das Rätsel der Veröffentlichung dieses Textes: Sie erfolgte laut Credits anno 1982, doch die kulturelle Bezüge sind alle aus den mittleren sechziger Jahren (von Ophüls über Fellini bis zu Godard). Des Rätsels Lösung: 1982 erschien die Buchausgabe, der Erstabdruck war aber im Magazin „Ambit“ zu einem früheren, ungenannten Zeitpunkt. Aus der Biografie (s.o.) geht hervor, dass dies ab 1966 gewesen sein könnte.
7) Joanna Russ: Körper (Bodies, 1984)
Die Erzählerin richtet ihre Worte an einen gewissen James, der, wie sie, ein ungewöhnliches menschliches Schicksal erdulden muss. Weil schon seit zwei Jahrtausenden keine Menschen mehr geboren werden, ist die Wissenschaft dazu übergegangen, welche zu züchten. Wie die Erzählerin ist auch James (benannt nach dem Gedicht „Lady of Shalott“ von Walter Scott) in einem Tank herangezogen worden, bis sein Körper der eines jungen Erwachsenen war. Wie die aufgezeichneten Erinnerungen eines früheren Menschen des 20. Jahrhunderts auf sein Gehirn übertragen wurden, bleibt unklar.
Die spannende Frage lautet nun, ob dies die Erinnerungen eines homo- oder heterosexuellen Mannes waren bzw. sind. Nach einer Party, zu der sie ihn führte, wird das ziemlich deutlich. James ist entsetzt, denn er hatte eine erschütternde Offenbarung durch die Begegnung mit einem Geschlecht: „Er ist kein Mann!“ Dergestalt geschockt, begibt sich James auf eine Weltreise. Als er zurückkehrt, will er mit „Rosemarie“, wie er die Erzählerin nennt, schlafen. Kein Problem, denn das Geschlecht ist schließlich nur relativ…
Mein Eindruck
Schon in Aldous Huxleys dystopischem Klassiker „Brave New World“ (Schöne neue Welt) aus dem Jahr 1928 wurden identische Menschen in Tank herangezüchtet und mit Intelligenz „geprägt“. Interessanter ist da schon die Frage nach dem Zustand der Erde, die hier geschildert wird. Die Angabe lautet „2000 Jahre“ in der Zukunft, die Erde ist reichlich menschenleer, aber dafür kommt täglich der Bus: das heißt, ein Shuttle, das zwischen Mond und Erde hin und her pendelt.
Dieses Szenario entspricht Entwürfen, wonach die Erdbevölkerung auf die Orbitalstationen und auf die Siedlerwelten ausgewandert ist und nur wenige Zurückgebliebene hienieden ihr Dasein fristen. Warum das so ist, bleibt kein Rätsel, denn die Erdoberfläche scheint eine Wüstenei zu sei – die Wale sind schon längst ausgestorben. Wie die Wissenschaft die Mittel aufbringt, einen Menschen zu züchten, bleibt uns ebenso verborgen.
Der Stil der Erzählerin ist rein assoziativ statt argumentativ. Sie illustriert mehr als zu erklären. Deshalb bleibt viel der Phantasie des Lesers überlassen. Dieser Stil findet sich auch in „Welt der Frauen“ wieder, ihrem berühmtesten, aber keineswegs besten Roman. Am lesbarsten ist für mich immer noch ihre preisgekrönte Novelle „Seelen“ (1982), die den HUGO Award gewann.
8) Tom Maddox: Schlangenaugen (Snake Eyes, 1986)
George Jordan sollte von der US-Luftwaffe eigentlich in den „Krieg in Thailand“ geschickt werden, doch dazu kam es nicht. Sechs Monate später verfügt George aber immer noch über ein Cyber-Implantat, das als „die Schlange“ bezeichnet wird. Leider entfaltet dessen Schnittstelle zu seinem Gehirn ein unwillkommenes Eigenleben. So hat sich etwa ein Heißhunger auf Katzenfutter eingestellt.
Um das Ding loszuwerden, vertraut sich George der Firma SenTrax an. Er begibt sich in die Kreisbahn und an Bord der Raumstation Athena, wo SenTrax an Cyber-Implantaten forscht und entwickelt. Denn George ist bereits Nr. 3 mit so einem Ding. Nr. 1 hat sich lieber umgebracht, deshalb bleiben nur noch er und Lizzie aus dem SenTrax-Programm. George freundet sich schnell mit der spärlich bekleideten Blondine an, denn sie versteht sich aufs Flirten. Ihre Implantate sind Katzenkrallen.
Diese Begegnung hat die Künstliche Intelligenz (KI) namens Aleph, die bei SenTrax die Fäden zieht, vorausgesehen. Dr. Charlie Hughes, der Arzt, und CEO Innis sind zufrieden. Doch sie haben eine schlechte Nachricht: Sie könne die Schlange nicht von Georges Hirn abkoppeln. Sie können sie höchstens um Programme, die Aleph einspeist, erweitern und so quasi harmlos machen. Der darob nicht gerade glückliche George begeht bei einem Weltraumspaziergang einen Selbstmordversuch, doch auch diesen Zug hat Aleph bereits vorausgesehen…
Mein Eindruck
Der Plot basiert auf einer der ältesten Geschichten der Welt: die vom Garten Eden, der Schlange und der Vertreibung aus dem Paradies. Nur dass diesmal die Rollen etwas verschoben sind. Gott alias Aleph bedient sich der Schlange in Georges Kopf, um ihn zum emotionalen Äußersten zu treiben. Diese extremen Emotionen saugt Aleph gierig auf, um seine „Menschlichkeit“ zu erweitern. Nur durch ihre verbotene Liebe ist es den beiden Cyborgs George und Lizzie möglich, Aleph und seinen Handlangern (Engeln) für kurze Zeit den Stinkefinger zu zeigen.
Das ist kennzeichnend für den Cyberpunk: Die da oben haben vielleicht die bessere Technik, aber wir haben die Wut und den Willen zur Rebellion! Das wird in der nächsten Story noch viel deutlicher: Dies ist echter PUNK.
9) Nachwort: Futur d’Amour
Liebe im Wandel der Zeiten ist das Thema dieser Anthologie. Sie ist aber auch das Thema der Science-Fiction seit 1928 gewesen, als ein Autor namens David H. Keller die Kurzgeschichte „The Little Husbands“ veröffentlichte. Prompt kam es zu Repliken darauf: „The Last Man“ (1929) und „The last Woman“ (1932). Immer wieder lassen sich die AutorInnen ulkige Methode der Fortpflanzung ohne das jeweils andere Geschlecht einfallen. Je nachdem, wie erfolgreich ihre Figuren dabei sind, wird das jeweils andere Geschlecht unterdrückt oder gleich ganz ausradiert. Keine halben Sachen!
Die literarische Lage überschritt diese Schwarzweißmalerei erst, als Autoren wie Theodore Sturgeon und Philip José Farmer sich vorstellten, wie es wäre, wenn ein Wesen, das einer anderen Rasse bzw. Spezies angehört, mit einem Erdling, ob weiblich oder männlich, Sex haben könnte und sogar Nachwuchs hervorbrächte. Diese ernsthafteren Versuche wurden leider allzu häufig durch die alte Pulp-Tradition, die spätestens 1912 mit E.R. Burroughs‘ „Eine Prinzessin des Mars“ einsetzte, immer wieder ins Pornografische abgedrängt. Autoren wie Farmer oder Silverberg, die für Geld schrieben, scheuten sich nicht, billige Erotiktexte rauszuhauen und sie unter einem Hauspseudonym zu veröffentlichen. Hauptanreiz: Die Herrenmagazine zahlten ein viel höheres Zeilen- bzw. Worthonorar als die armseligen SF-Magazine. Grund: Sie hatten eine viel zahlungskräftigere Klientel an Werbekunden.
Erst Ende der sechziger Jahre begannen Autorinnen wie Ursula Le Guin, Joanna Russ, Tanith Lee, Alice Sheldon (als James Tiptree jr.) sowie Vonda McIntyre Gegenentwürfe zu den Stereotypen zu veröffentlichen. Nicht selten wurde bei ihnen Sex und Liebe politisch: Sexuelle Befreiung bedeutet für Frauen fortan auch gesellschaftliche Befreiung. Das Thema der Homosexualität, obwohl im Gesetzbuch noch streng verboten (Paragraf 175), wurde immer wieder aufgegriffen und einfallsreich verarbeitet, etwa von Elizabeth A. Lynn und Marion Zimmer Bradley.
„Es ist schon auffällig, dass das Thema „künftige Formen der Liebe“ in der allgemeinen [non-SF-] Literatur so unzulänglich behandelt wurde. Aber man darf wohl vermuten, dass die Ursache vor allem darin liegt, dass man es weitgehend unter zwei Aspekten betrachtete: entweder als psychologisches Phänomen oder als physischen Vorgang.
Zwischen diesen beiden Polen der Liebe als Gefühlsverwirrung einerseits und körperlichem Ausgleichssport andererseits bliebt bisher kaum Raum für eine GANZHEITLICHE Betrachtung (meine Hervorhebung), die auch berücksichtigt, dass Liebe eine Reflektion sozialer, wissenschaftlicher und kultureller Veränderungen ist, die immer schneller vonstattengehen.“ Hier habe die Science-Fiction ihre Heimat, ihren angestammten Platz.
Mein Eindruck
Das Nachwort erfüllt zwei Aufgaben. Es beschreibt die Aufgabe dieser Anthologie sowie die Fähigkeit der Science-Fiction, Alternativen zu den Klischees über Liebe und Sex aufzuzeigen. Darüber hinaus beschreiben die Autoren die Literaturgeschichte dieses zentralen Thema innerhalb des SF-Genres.
Beide Ansprüche werden angeblich erfüllt, obwohl kein einziger Textbeitrag als Beleg herangezogen wird. Und warum wurden keinerlei Beiträge aus Europa ausgewählt? Geht es hier so prüde zu? Die beiden Herausgeber geben sich also keine Blöße, so dass man sie nicht verdächtigen kann, sie hätten ihren eigenen Anspruch nicht eingelöst.
Die Übersetzung
Obwohl die Texte bis zu 40 Jahre alt sind, sind sie doch noch gut verständlich, also keine Sorge. Mehr Sorge bereiteten mir indes die Stilfehler der jeweiligen Übersetzer, darunter auch die von M. Nagula selbst, der einige Texte übertrug.
S. 8: „dass wir ihnen massenweise zum Opfer fielen wie Südseeinsulaner, die man der gemeinen Kälte aussetzt.“ Mit dem englischen „common cold“ ist jetzt nicht Kälte, sondern ein Virus gemeint, nämlich der Schnupfen- und Erkältungsvirus oder -bazillus.
S. 25: „Ich war derjenige, der die Türen zum Hafen öffnete.“ Da der Hafen aber weit weg ist von Carlas Haus, macht diese Formulierung keinen Sinn. Nur das Original kann den Sinn liefern.
S. 103: „ein Chef mit einer hohen weißen Mütze“. Nicht einen Boss meint diese Beschreibung, sondern einen Chefkoch bzw. Küchenchef.
S. 105: „Und doch liebt er die Frauen. Er liebt es, sie zu machen.“ Nein, die armen Frauen werden nicht am Fließband hergestellt. „to make a girl“ bedeutet vielmehr, eine Frau rumzukriegen. Sogar die Stones sangen mal davon, in „Satisfaction“.
S. 115: „Kommun[i]kation“. Das I fehlt.
S. 118: „…mit (…) gesplitteten Bildschirmtechniken“. Nicht die Techniken waren gesplittet, sondern die Bildschirme. Gemeint ist die Split-Screen-Technik.
S. 121: „fün[f]hundert“. Das F fehlt.
S. 127: „Anna Tsetsaeyva“: Buchstabendreher. Korrekt sollte es „Tsetsayeva“, also „Zezajewa“, heißen.
S. 134: „Blume-am-Sti[e]l“: Das E fehlt.
S. 134: „die sich aus der Punschbowle erhob (der neben dem Kaviar)…“ Da die Punschbowle weiblich ist, sollte es „die neben dem Kaviar“ heißen.
S. 135: „Appelpuffs“: mir unbekanntes Gericht, wird als bekannt vorausgesetzt.
S. 137: „Visigoth-Eroberer von Rom“. Gemeint ist ein Westgote wie Alarich.
Unterm Strich
Zu einem anno 1989 recht happigen Preis von knapp 16 Märkern bietet die Anthologie faszinierende Blicke auf alternative Formen oder zumindest andersartige Voraussetzungen für Liebe, seien es zwischen einem oder zwei Geschlechtern. Die Beliebigkeit des Körpers ist auch Thema von Joanna Russ‘ Geschichte „Körper“, die ein Post-Holocaust-Szenario in ferner Zukunft malt, das aber fatal an Aldous Huxleys Welt in „Schöne neue Welt“ (1928) erinnert. So alt kann die Zukunft aussehen, wenn sie sich nicht an ihre Wurzeln erinnert.
Was ein Körperwechsel mit den Emotionen anrichten kann, schildert Peter Carey im ersten Beitrag. Interessanterweise verarbeitet auch Tom Maddox‘ Beitrag „Schlangenaugen“ das Thema Rebellion und Befreiung, obwohl seine beiden Protagonisten augenscheinlich nur das alte Adam-und-Eva-Motiv zu wiederholen scheinen.
Fred Pohls Beitrag „Der Tag Million“ zieht romantische Liebe durch den Kakao, J.G. Ballard karikiert familiäre Liebe in „Familienglück“ mit einem bitterbösen Ende. Karen Joy Fowler (inzwischen Bestsellerautorin) frischt eine abgelegte romantische Liebe per Technologie wieder auf, was, wie zu erwarten, nicht ganz hinhaut. Tanith Lee macht Homosexualität zur Norm, hetero zur Perversion. Und M. Blumlein erzählt von einem Arzt, der entscheiden muss, ob er will alle Frauen abschaffen will – wo er doch selbst „feminine“ Neigungen an den Tag legt.
Das informative Nachwort liefert eine kleine Literaturgeschichte des Themas Nr. 1 innerhalb der Science-Fiction als abgegrenztem Genre (wobei Elizabeth A. Lynn, Ursula K. Le Guin und Tanith Lee definitiv auch als Fantasy-Autorinnen großartige Werke geschaffen haben, etwa den ERDSEE-Zyklus).
Die vorliegende Anthologie will beide Seiten der Liebe, die psychologisch-emotionale und die physische, übergreifend darstellen. So sollen die Rollenklischees und kulturellen Barrieren überwunden werden. Das Buch wendet sich also an ein erwachsenes Publikum, das einen Geschlechtsakt als komplexes Geschehen, das auf mehreren Ebenen stattfindet, zu würdigen weiß, aber auch die Tücken andersartiger Formen von Sexualität.
Jeder Leser sollte selbst entscheiden, ob das Buch diese Aufgabe erfüllt. Warum wurden beispielsweise keinerlei Beiträge aus Europa ausgewählt? Geht es hier so prüde zu? Ich hätte liebend gerne eine Satire von K.M. Armer gelesen. Anno 1989 stellte das Buch immerhin eine beachtenswerte Alternative zu Erotik-Fantasy vom Schlage eines John Norman und zu reaktionären Sternenepen à la STAR WARS dar (Prinzessinnen mit Schneckenfrisuren! Geht’s noch?).
Taschenbuch: 187 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 978-3630618227
www.luchterhand.de
Der Autor vergibt: