Auf der Karibikinsel St. Luke treibt ein unheimlicher Serienmörder sein Unwesen. Er hat bereits drei Menschen getötet und ihnen als sein Erkennungszeichen jeweils die rechte Hand abgehackt. Daher rührt auch der Originaltitel: Die menschliche Hand besteht aus „twenty-seven bones“.
Der Polizeichef der Insel, ein ehemaliger FBI-Agent, bittet seinen ehemaligen Kollegen E. L. Pender, der jetzt im Ruhestand ist, um Hilfe. Pender ermittelt mit der ihm eigenen Spürnase – schließlich hat er selbst schon zwei Serienmörder zur Strecke gebracht. Doch bei diesem neuen Auftrag gerät er erneut in Lebensgefahr.
Der Autor
Jonathan Lewis Nasaw (* 26. August 1947) ist ein Schriftsteller, dessen Romane man den Genres Horror beziehungsweise Psychothriller zuordnen kann. Er lebt in Pacific Grove, Kalifornien, USA. (Wikipedia) Die Detailkenntnisse aus dem Leben eines alt gewordenen FBI-Agenten im Außendienst und der Humor, mit dem er diese Figur zeichnet, lassen vermuten, dass Nasaw möglicherweise selbst einmal beim FBI war.
Werke
In deutscher Übersetzung sind bisher folgende seiner Romane erschienen:
E.L.-Pender-Reihe
Die Geduld der Spinne (Originaltitel: The Girls He Adored, 2001)
Angstspiel (Originaltitel: Fear Itself, 2003)
Seelenesser (Originaltitel: Twenty-Seven Bones, 2004)
Der Kuss der Schlange (Originaltitel: When she was bad, 2007)
Der Sohn des Teufels (Originaltitel: The Boys From Santa Cruz, 2010)
James Whistler-Reihe
Blutdurst 2005 (Originaltitel: The World on Blood, 1996)
Reich der Schatten 2006 (Originaltitel: Shadows, 1997)
Weitere Werke
Bisher noch nicht auf Deutsch erschienene Werke:
West of the Moon (1987)
Shakedown Street (1993)
Handlung
Ermittler
Der ehemalige FBI-Agent Edgar Lee Pender, Held der beiden vorhergehenden Romane Nasaws, gibt mittlerweile an der FBI-Akademie Unterricht in Verhörmethoden. Er ist bekannt, weil er zwei Serienmörder „zur Strecke gebracht“ hat. Leider verkauft sich sein Buch über seine Heldentaten nicht besonders gut. Und seine Liason mit Dori Bells, die er in „Angstspiel“ rettete, ist auch schon längst vorüber. Er trägt’s mit Fassung.
Daher greift er gerne zu, als ein alter Kollege namens Julian Coffee, der sich auch den 60 nähert, extra aus der Karibik heraufgeflogen kommt, um ihm „einen kostenlosen Urlaub auf einer der schönsten Inseln Amerikas“ anzubieten. St. Luke ist eine Erfindung des Autors, die aber Eigenschaften und Merkmale der drei amerikanischen Virgin Islands St. Croix, St. Thomas und St. John aufweist, die direkt östlich von Puerto Rico liegen. (Auf den Inseln lebte der Autor selbst eine Zeitlang.) Bevor die USA die Insel 1916 kaufte, gehörte sie den Dänen, und daher heißt die Hauptstadt Frederikshavn (Zum Vergleich: Die zwei Orte auf St. Croix heißen Frederiksted und Christiansted.)
Auftraggeber
Julian Coffee, der Polizeichef von St. Luke, hat ein Problem mit drei Leichen, die man teils per Zufall und teils nach einem Hurrikan gefunden hat: Ihnen allen fehlt die rechte Hand, die der Mörder ihnen abgehackt hatte. Und womit? Der Serienmörder hat schon den Spitznamen eines lokalen Buhmanns erhalten: der Machetenmann.
Coffee engagiert Pender nicht nur aus Freundschaft oder wegen dessen Kompetenz, sondern weil er einen Außenstehenden braucht, um den Fall aufzuklären. Sollte der Leichenfund bekannt werden, wäre es nämlich aus mit dem Tourismus, auf den die von Hurrikanen gebeutelte, relativ arme Insel dringend angewiesen ist. Der Zuckerrohranbau ist schon längst zusammengebrochen, und Tabak gibt es hier nicht (wohl aber ein paar versteckte Marihuana-Felder.) Die Nachfahren der Dänen mischen sich nun mit amerikanischen Aussteigern und Wanderarbeitern von den Down-Islands, wie die Einheimischen die Leute von den östlichen Karibikinseln abfällig nennen.
Pender stößt auf die Witwe eines der drei Getöteten, der aus Miami stammt. Sie sagt, dass Tex Wanger auf eine geheimnisvolle Schatzsuche auf St. Luke gehen wollte. Pender lässt die Telefonzelle vor dem Supermarkt von Frederikshavn, der Hauptstadt von St. Luke, überwachen, die Tex immer angerufen hat. Auch die Ermittlungen in den Slums der Stadt führen zunächst nicht weiter.
Was er nicht ahnt: Es gibt bereits ein weiteres Opfer und das nächste steht schon auf der Wunschliste der beiden Täter. Discobesitzer Andy Arena ist, wie Tex Wanger, ein Opfer seiner Abenteuerlust geworden und hat das Angebot einer „Schatzsuche“ in den Höhlen einer abgelegenen Schmugglerbucht mit dem Leben bezahlt. Natürlich ging sein Dahinscheiden aus diesem Leben nicht einfach so ruckzuck vor sich – wir haben das zweifelhafte Vergnügen, den beiden Tätern und ihrem Komplizen ganz genau über die Schulter schauen zu dürfen.
Was wir zu sehen bekommen, ist – über die üblichen Sadomaso-Aktivitäten hinaus – ausreichend bizarr, um das Buch zu einem Mystery-Thriller zu machen und den Titel zu rechtfertigen.
Jäger
Dr. Emily und Dr. Phil Epp sind zwei Anthropologen plus Archäologen, die durch ein einschneidendes Erlebnis vom rechten Weg abgekommen sind, nicht nur, was ihre Wissenschaft, sondern offenbar auch, was ihren Geisteszustand betrifft. Sie sind Psychopathen, wie sie im Handbuch stehen, und auch noch stolz darauf. Schließlich befinden sie sich auf einer Mission, die die ganze Welt umkrempeln wird. Und deshalb sehen sie keinerlei Anlass, mit ihrer Mordserie aufzuhören.
Das einschneidende Urerlebnis, das im Prolog genau geschildert wird, geschah bereits vor fünfzehn Jahren auf einer kleinen urtümlichen Insel westlich von Sumatra. Die Bräuche und Sitten der dortigen Nias hat der Autor genau aus der Fachliteratur entnommen, aber wohl reichlich frei weiterentwickelt.
Wenn der Nias-Häuptling nach tagelangem Sitzen und Singen endlich stirbt, hat sein designierter Nachfolger das Recht, seinen letzten ausgestoßenen Atem einzusaugen. Was für Katholiken die Hostie verkörpert, nämlich den „Leib Gottes“, verkörpert so ähnlich der letzte Atemhauch des Häuptlings: Es herrscht der Glaube, darin befänden sich seine Autorität und seine Weisheit, aber auch der spirituelle Ruhm des Verstorbenen. Gemeinsam machen sie seine unsterbliche Seele aus.
Sie wird vom rechtmäßigen Nachfolger eingesaugt. Als die beiden Epps die Zeremonie filmen, kommt es zu einem blutigen Zwischenfall. Im entscheidenden Augenblick stößt der jüngere der beiden Häuptlingssöhne seinen Bruder weg, saugt die Seele ein, wird vom Älteren niedergestochen, wirft sich in die Arme der überraschten Emily Epp und haucht ihr seinerseits den letzten Odem ein. Sekunden später tötet ihn sein Bruder. Emily grinst ihn blutverschmiert an. Sie ist offenbar in Verzückung.
Wirkt der Zauber wirklich? Diese Frage lässt ihren Mann Phil nicht mehr los. Nach 15 Jahren des fruchtlosen Einsammelns von letzten Atemzügen machen sich die beiden daran, die kostbare Beute aktiv zu jagen. Als Phil einmal eine Prostituierte auf die einzig korrekte Weise tötet und ihr den letzten Atemzug raubt, hat er ein ekstatisches Erlebnis. Er schreibt in seinem pseudowissenschaftlichen Erlebnisbericht davon, und die gute Emily ist davon mächtig angetörnt. Beide sind überzeugt, dass die eingesaugten „Seelen“ ihr Leben verlängert haben und wesentlicher Grund für ein erfüllendes Sexleben sind, weil das „Seelenessen“ die Potenz steigert.
Nun jagen sie gemeinsam, und der ältere Häuptlingssohn Bennie, der sie seinerzeit fast getötet hätte, hilft ihnen, die Opfer zur Strecke zu bringen, denn er hat seine eigenen Pläne mit den beiden Killern. St. Luke, wo sie seit sieben Jahren leben, scheint das ideale Jagdrevier zu sein. Es gibt viel Regenwald und verborgene Höhlen als Verstecke. Und wehrlose Beute in rauen Mengen …
Zweiter Auftraggeber
Mr. Lewis Apgard ist zwar mit einer reichen Frau aus der früheren Gouverneursfamilie verheiratet, doch er kommt nicht an ihr Vermögen heran. Er selbst hat sich verspekuliert, als der Dotcom-Crash erfolgte. Sie weigert sich, ein Wäldchen wertvollsten Mahagoniwaldes zu verkaufen. Seine missliche Lage hätte ein Ende, fände das Leben seiner Frau ein vorzeitiges Ende.
Als er von einem seiner Mieter, einem journalistischen Voyeur und Fotografen, gesteckt bekommt, dass auf der Insel ein Serienmörder frei herumläuft, sieht Lewis Licht am Ende des Tunnels: Er könnte solch einen tüchtigen Killer gut für seine eigenen Zwecke gebrauchen. Als er das Gesicht des vermissten Tex Wanger in der Zeitung sieht, fällt ihm ein, wo er den Mann schon einmal gesehen hat: in der Wohnung seiner Mieter, des Ehepaars Epps, das er gerne bei seinen sexuellen Aktivitäten beobachtet.
Doch die Epps und ihr indonesischer Begleiter Bennie, die er als Mördertruppe engagieren will, drehen den Spieß um: Sie brauchen, da ihnen die Polizei offenbar auf der Spur ist, selbst ein Alibi. Und der liebe Lewis, wenn sie ihm den Gefallen tun sollen, seine Frau zu töten, wird ihnen ebenfalls gerne einen Gefallen tun, nicht wahr?
Nun kommen die Dinge auf unheilvolle Weise ins Rollen, und Edgar Lee Pender steckt mittendrin.
Mein Eindruck
Ich gebe diesem Roman die volle Punktwertung. Ich habe mich nicht nur spannend unterhalten gefühlt, sondern sogar königlich amüsiert. Außerdem ist eine warmherzige Familien- und Liebesgeschichte enthalten, die mich bewegt hat. Wer in „Seelenesser“ nur den Killerthriller sucht, wird lediglich einen Bruchteil der Geschichte mitbekommen und das Beste verpassen.
Der soziale Mikrokosmos
Das Wichtigste an der Geschichte ist, dass der Mikrokosmos, den der Autor aufbaut, bis ins kleinste Detail stimmig ist und als echt erscheint. Ich war 1995 selbst auf einer ganzen Reihe von Karibikinseln, darunter der im Buch erwähnten, verarmten Insel St. Vincent und auf dem noch ärmeren Grenada (wo die US-Invasion stattfand), auf den Bahamas und Puerto Rico. Überall geht es – außerhalb der Hurrikansaison, versteht sich – recht locker und angenehm zu. Es gibt kaum Hektik wie in Miami und jeder versucht, das Beste aus seinem Tag zu machen.
Was heißt „Tag“? Die Nacht ist fast das Beste an der Karibik, besonders dort, wo sich die Lover suchen und begegnen. Und das bedeutet nicht immer Männlein und Weiblein, sondern auch Männlein und Männlein (besonders in San Juan auf Puerto Rico), Weiblein und Weiblein. Alles davon erscheint auch in dem Roman. Es gehört zur lockeren Lebensart der Karibik.
Und noch viel mehr gibt es zu finden. Das Buch ist nicht nur ein Sittengemälde, sondern auch eine Sozialstudie, die sich hinter der Thrillerhandlung verbirgt. Wie schon angedeutet, leben hier drei oder mehr Gruppen: Die landbesitzenden Weißen (aus Dänemark und den USA); die Einheimischen der Mittel- und Unterschicht; sowie das bunte Völkchen der Aussteiger. Sie leben ebenfalls in einer improvisierten Hüttensiedlung, die sich The Core nennt: amerikanische Wehrdienstverweigerer aus den Sechzigern und Siebzigern, etliche Waisen, Waffen- und Drogenschieber sowie anderes menschliches Strandgut aus den USA und anderswo. Eine der Frauen, die für das Funktionieren von The Core wesentlich sind, ist C. B. Dawson – zumindest nennt sie sich so. Und als sich Pender in sie verliebt, stößt er auf ein tiefes und düsteres Geheimnis, das ihm beinahe zum Verhängnis wird. Es hindert Dawson nämlich, der Polizei zu helfen.
Es ist sehr wichtig für das Interesse an der Geschichte, dass der Leser Anteilnahme fühlt für die kleine Familie von Holly Gold, der Masseuse. Ihre zwei kleinen Kinder werden stark in die Kriminalhandlung verwickelt. Da ist die ängstliche Dawn, die ihre richtige Mutter ebenso verloren hat wie ihr Bruder Marley. Marley ist ein Klassefußballer, obwohl er keine Arme hat. Er macht alles mit seinen gelenkigen und kräftigen Füßen. Als Pender in eine von Lewis‘ Buden am Core einzieht und eine Affäre mit Dawson, Hollys Freundin, beginnt, muss er sich vorsehen, nicht mit seinen Vorurteilen und seinem Mitleid seine Nachbarn zu brüskieren. Holly stößt ihm schnell Bescheid, was läuft und was nicht.
The Core wird ein ganz wesentlicher Bestandteil der Geschichte, wie auch für Penders künftiges Leben (sollte ihm das Überleben gelingen). Das Buch ist nicht zu verstehen, ohne die Besonderheit von The Core zu begreifen und zu akzeptieren.
Die Jäger
Denn die Aussteigersiedlung wurde soeben zum neuen Jagdgebiet der Epps auserkoren. Die trotz ihrer stämmigen 160 Zentimeter dominante Emily würde zu gern einen der Männer vernaschen, und ihr Mann Phil krallt sich als leichtes Opfer eines der kleinen Kinder. Lewis Apgard selbst muss hier sein Opfer suchen, um den Epps ihr Alibi zu verschaffen. Sie alle fallen wie Vampire über ein intaktes soziales Gebilde her, das in seiner Menschlichkeit das genaue Gegenteil ihrer Welt aus Macht und Gier darstellt.
Lewis Apgard giert zunächst nur nach Freiheit von seinem Weib und nach mehr Besitz. Dafür muss er aber einen hohen Preis bezahlen. Wie er entdeckt, ist er nicht nur ein Voyeur, sondern scheint auch am Morden Geschmack zu finden. Der Rausch der Macht – das wagt er seinem Psychotherapeuten Dr. Vogler nicht anzuvertrauen. Doch Pender kommt Lewis schnell auf die Schliche.
Und durch ihn auf die Spur der Epps und ihres schweigsamen Begleiters Bennie, der die Machete wie ein Fachmann schwingt. Emily ist nicht nur ebenso sexhungrig wie Phil, sondern ebenso skrupellos in der Auswahl ihrer Opfer. Allerdings hat sie mehr Köpfchen – und ein ganz besonders Druckmittel: riesige Brüste. Scherzhaft nennt Phil ihre „Großen“ daher Zeppeline und sie selbst Zeppo. Mit ihren „überentwickelten weiblichen Attributen“, wie Phil sich gewunden ausdrückt, verführt sie schwache Männer wie Lewis und Phil jedes Mal und bringt sie dazu, das zu tun, was sie will. Alle außer Bennie.
Der Humor
Ausdrücke wie „Zeppeline“ und „Zeppo“ weisen auf ein ganz besonderes Merkmal des Romans hin: seinen ironischen Humor. Diese Ironie reicht von schwärzestem Galgenhumor bis zu heiterem Augenzwinkern. Der Humor bringt uns die Wesenszüge nicht nur des abgebrühten Pender nahe, sondern auch die beiden Epps. Bei diesen wird der Humor häufig makaber. Für Gesetzeshüter wie Pender und Julian Coffee ist Humor aber eine Methode, das Grauen ebenso wie die Mühen des Polizistendaseins zu bewältigen. Es gehört zu ihrer Lebenseinstellung, mit Ironie auf Menschen und Mörder gleichermaßen zu schauen. Das klappt nicht immer gut. Aber mich hat dieser Humor erheitert, und zwar auf fast jeder Seite. Er gleicht das Grauen aus, das die Killer verbreiten.
VORSICHT SPOILER!
Humor taucht auch in dem auf, was nicht gesagt wird – und das ist eine ganze Menge. Deshalb wird nur derjenige aufmerksame Leser, der wirklich gut aufpasst, den Roman hundertprozentig erfassen. Es gibt beispielsweise ganz am Schluss eine Szene, in der der Leser zwei und zwei zusammenzählen muss, um den Witz zu verstehen. Einer der Mörder ist mit einem Beutel voll Geld und mehreren Beuteln voll Händen tot am Fuß einer Klippe gelandet. Pender, ganz in Gedanken, stößt darauf und ruft die Polizei.
Als Coffee die Bestandsaufnahme der Habe des Mörders macht, fehlt das Geld. Das wird aber mit keinem Wort erwähnt, sondern das muss der Leser selbst merken. Und er merkt es wahrscheinlich erst dann, als sich Holly, Dawn und Marley für eine Papiertüte an ihrer Haustür bedanken. In dieser war eine Menge Geld deponiert. Und davon hat Marley einen neuen künstlichen Arm erhalten. Und deshalb kann Pender nun strahlen, als wäre er der Weihnachtsmann …
SPOILER ENDE
„Seelenesser“
Der Begriff „Seelenesser“ erhält im Laufe der Handlung mehrere Bedeutungen. Nicht mehr nur der Akt, jemandem den Todesodem zu rauben, ist gemeint. Auch andere Menschen und sogar Institutionen können sich als „Seelenesser“ entpuppen. Man erkennt sie an ihren Opfern. Die Frau, die sich seit 30 Jahren „C. B. Dawson“ nennt, ist ein Opfer des FBI; sie muss sich vor der Polizei verstecken. Ihr Leben ist dementsprechend unterhöhlt und seiner Qualität beraubt.
Die Schrecken der Seele tauchen in vielerelei Gestalt auf. Ein wenig davon ist in den Erzählungen Lewis Apgards gegenüber seinem Psychiater zu finden. Apgards hat Albträume von einem sterbenden Schafbock. Er hat zudem seine Tante Agneta auf dem Gewissen. Der Schritt zum aktiven Mord ist nur ein kleiner, doch möglicherweise gibt es für ihn noch Rettung. Apgard ist deshalb so wichtig, weil er nicht eindeutig gut oder eindeutig böse ist, sondern die Linie in beide Richtungen überschreiten kann. Ein seltenes Phänomen in amerikanischen Thrillern.
Unterm Strich
„Seelenesser“ ist ein wesentlich besseres Buch als „Angstspiel“, das sich als Zirkus der Ängste mitsamt Dompteuren aufführte. Und in „Die Geduld der Spinne“ schockten überzogene Gewaltszenen den Leser. Zur hohen Qualität von „Seelenesser“ trägt bei, dass diesmal keine Verfolgungsjagd stattfindet, sonndern sämtliche Aktivitäten an einem Ort, nämlich der Insel St. Luke, stattfinden. Und diese wird als sozialer Mikrokosmos erfassbar.
Mit etlichen ihrer Bewohner habe ich Sympathie und Mitgefühl empfunden, besonders für Holly Golds Familie, für Dawson und Polizeichef Julian Coffee. Und sogar die Schurken im Stück sind in ihrer verdrehten Psychologie begreifbar geworden – was nicht heißen soll, dass man für ihre Untaten Verständnis aufbringt – siehe meinen Abschnitt „Seelenesser“. Selbst die Motive eines schweigsamen Mannes wie Bennie werden deutlich und verständlich herausgearbeitet. Er ist, wie der Held Ishmael in seinem Lieblingsroman „Moby Dick“, der Einzige, der seine Geschichte – nämlich die seines Volkes – erzählen kann. So trägt sogar dieser Mörder einen tragischen Zug.
Ich würde nicht sagen, dass ich den Roman verschlungen habe. Dazu muss man die Sätze viel zu genau lesen und auf Details wie etwa Kleidung, Dialoge und weggelassene Beschreibungen achten, vom schrägen, trockenen Humor ganz zu schweigen. Letzterer machte mir die Lektüre zu einem Vergnügen.
Das Finale ist natürlich gebührend spannend, aber das ist nicht die wichtigste Qualität, die das Buch aufzuweisen hat. Es sind seine Warmherzigkeit, seine Menschlichkeit und das Gefühl, dass der Schauplatz „stimmt“, das ebenso viel Vergnügen bereitet. Ich könnte mir deshalb vorstellen, das Buch gleich noch einmal zu lesen.
Wenn Nasaw so gut weiterschreibt, wäre er beispielsweise auch in der Lage, bewegende |historische| Romane zu schreiben, die sowohl stimmig als auch spannend sind. Es müssen ja nicht immer Thriller sein, die in der Gegenwart spielen. Caleb Carr hat es mit der „Einkreisung“ vorgemacht.
Taschenbuch: 478 Seiten.
Originaltitel: Twenty-Seven Bones, 2004
Aus dem US-Englischen übersetzt von Uschi Gnade
ISBN-13: 9783453430037
www.heyne.de
Der Autor vergibt: