Newman, Kim – rote Baron, Der: Anno Dracula 1918

Ende des 19. Jahrhunderts war es Dracula, dem Erz-Vampir aus dem fernen Transsylvanien, gelungen, Königin Victoria von Britannien durch den „dunklen Kuss“ zu seiner untoten Sklavin zu machen und als Prinzgemahl die Kontrolle über das britische Weltreich an sich zu reißen. Unter seiner Herrschaft breitete sich der Vampirismus über alle gesellschaftlichen Schichten aus, nachdem bekannt wurde, dass der „Kuss“ ein praktisch ewiges „Leben“ garantierte. Dracula verwandelte Britannien in eine brutale Diktatur, deren Geschicke er – unterstützt von seinen „Kindern“, die er an den Schaltstellen der Macht strategisch günstig platzierte – mit eisernem Willen lenkte. In den späten Achtzigerjahren formierte sich eine Widerstandsbewegung, der es schließlich gelang, den Tyrannen vom Thron zu stoßen.

Dracula entkam den britischen Revolutionären; er floh auf den Kontinent, wo er umgehend damit begann, die verlorene Macht zurückzugewinnen. Während er von Königshaus zu Königshaus wanderte, verwandelte er die gekrönten Häupter Europas allmählich in Untote. 1905 schlug Draculas große Stunde, als er einen Bundesgenossen fand, der sich als idealer Strohmann erwies: Wilhelm II., deutscher Kaiser, der seinerseits von einem Weltreich träumte und bereit war, Deutschland wenn nötig mit Waffengewalt einen „Platz an der Sonne“ neben Britannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und den anderen europäischen Groß- und Kolonialmächten zu verschaffen. Dracula wurde Wilhelms Vertrauter und stieg bis 1914 zum Kanzler des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf.

Im Zuge seiner Expansionspläne erklärte Wilhelm II. 1914 dem Balkanstaat Serbien den Krieg. Bündnisverträge und Beistandspakte lösten einen Domino-Effekt aus, der nach und nach sämtliche Staaten Europas in den Konflikt zog, der sich, als die Vereinigten Staaten an die Seite ihrer europäischen Verbündeten traten, schließlich zu einem Weltkrieg auswuchs.

Im Frühjahr des Jahres 1918 tobt der Krieg mit unverminderter Härte. Besonders im Westen sprengt das Morden jede Vorstellungskraft. Die Front zieht sich quer durch Holland, Belgien und Frankreich. Um ihren Verlauf wird von der Entente (Britannien und Frankreich und ihre Verbündeten) und den Mittelmächten (Deutschland und Österreich-Ungarn mit ihren Bundesgenossen) gleichermaßen erbittert wie erfolglos gerungen. Der Krieg hat sich in einen Grabenkampf verwandelt, der warmblütigen wie untoten Soldaten täglich zu Tausenden das Leben kostet.

In dieses Pandämonium wagt sich Charles Beauregard, ein hochrangiges Mitglied des britischen Geheimdienstes. Agenten haben herausgefunden, dass Dracula auf dem Château du Malinbois im deutsch besetzten Teil Frankreichs eine Geheimwaffe entwickeln lässt: Hier ist das berühmte deutsche Jagdgeschwader 1 – der „Fliegende Zirkus“ des Flieger-Asses Manfred von Richthofen – stationiert. Diese Elite ist Objekt eines bizarren Experiments. Unter der Leitung des fanatischen Arztes ten Brincken arbeitet ein Team von Wissenschaftlern daran, in den Fliegern jene gestaltwandlerischen Kräfte zu wecken und zu entwickeln, die sämtliche Untote zumindest latent besitzen. Das Projekt ist erfolgreich; die Angehörigen des JG1 können sich in gigantische, fledermausartige Flugwesen verwandeln, die an Kraft und Wendigkeit jedem Flugzeug weit überlegen sind. Im Frühjahr des Jahres 1918 behaupten sie den Luftraum über dem Château du Malinbois. Dennoch kann Beauregard ein noch größeres Geheimnis lüften: Das Schloss wird Draculas Befehlszentrale sein, von der aus er eine unmittelbar bevorstehende, gigantische deutsche Offensive leiten wird …

Eine ausführliche Inhaltsangabe, die dennoch nur einen Abriss der Handlung darstellt: Schon die Schwierigkeit, den Inhalt des Romans „Der rote Baron“ auch nur annähernd zu beschreiben, belegt eindrucksvoll, welches komplexe und in jeder Hinsicht reiche Werk dem amerikanischen Schriftsteller Kim Newman (geb. 1959) gelungen ist – und dies bereits zum zweiten Mal, stellt „Der rote Baron – Anno Dracula 1918“ doch die (lose) Fortsetzung von „Anno Dracula“ dar, das im Britannien des Jahres 1888 spielte. In diesem ersten Band treffen wir an prominenter Stelle einen noch jungen, energischen Charles Beauregard, der sich der Revolution gegen den Fürsten der Untoten anschließt und bei der Vertreibung Draculas eine entscheidende Rolle spielt. Drei Jahrzehnte später ist es erneut (ein stark gealterter) Beauregard, der sich bemüht, den Grafen zu stoppen, der sein böses Spiel nun mit dem Deutschen Reich treibt und die gesamte Welt in einen Krieg stürzt.

Man sieht: Wir haben es hier nicht mit einem altmodischen, aristokratisch-bleichen Blutsauger zu tun, der ein rotgefüttertes Cape trägt, des Nachts Jungfrauen überfällt und sich darauf beschränkt, seine Allmachts-Fantasien aus den Grüften baufälliger Burgen heraus zu verwirklichen; kein Wunder, dass dieser in einer modernen Welt verlorene Dracula, wie wir ihn aus zahllosen mehr oder minder (meistens minder) gelungenen Filmen kennen, immer recht bald mit einem Pflock im Herzen endet.

Dass Dracula weit mehr sein kann als der simple Buhmann unterhaltsamer Mitternachts-Vorstellungen, hat eindrucksvoll Francis Ford Coppola in den Rückblenden seines „Dracula“-Films von 1992 bewiesen. Der zeitgenössische Vlad Tepes II. (1433-1477) war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein grausamer, sondern auch ein sehr erfolgreicher Herrscher, dem es als „Woiwode“ der (später rumänischen) Walachei über Jahrzehnte gelang, die mächtigen und expansionswütigen türkischen und bulgarischen Nachbarn in Schach zu halten. In der Wahl seiner Mittel war er gewiss nicht wählerisch, aber Kriegsherrn wie ihn gab es im Mittelalter viele. Der Erfolg gab ihm jedenfalls Recht und bewies, dass Vlad, der gefürchtete Pfähler, ein entschlossener und auch intelligenter Mann gewesen ist. Diese Eigenschaften sollte er sich eigentlich auch nach seinem Tode und der Wiederauferstehung als Vampir bewahrt haben. Insofern setzt Kim Newman dem „wahren“ Dracula ein literarisches Denkmal.

Newmans Dracula ist im Jahres 1918 noch immer ein rücksichtsloser, zu allem entschlossener Krieger – und ein Überlebenskünstler. Letztes lässt ihn immer wieder aus schier aussichtslosen Situationen entkommen. Ersteres wendet sich in „Der rote Baron“ allerdings zum zweiten Mal gegen Dracula. In der modernen Welt des 20. Jahrhunderts ist ein Kriegsherr nach mittelalterlichem Muster eindeutig ein Anachronismus. Dracula spielt geschickt die Königshäuser Europas gegeneinander aus, und als Oberbefehlshaber der deutschen Armee weiß er die technischen Errungenschaften seiner Zeit einzusetzen. Dennoch ist er in seinem Denken noch immer dem Mittelalter verhaftet, in das er geboren wurde. Der Krieg, den er 1914 entfesselte, wie er es seit Jahrhunderten tut, um sich zu nehmen, was er mehr als alles andere begehrt – die uneingeschränkte Macht nämlich -, entgleitet schließlich seiner Kontrolle, weil nicht einmal er einen Weltkrieg steuern kann. Am Ende steht Dracula einmal mehr vor den Scherben seiner Vision. Freilich wird ihn das nicht abhalten, es aufs Neue zu versuchen.

Mit erstaunlicher Sicherheit weiß Autor Newman die reale Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts mit seiner erfundenen Historie zu verquicken. Plötzlich scheint es durchaus logisch zu sein, dass die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo, die 1914 den Weltkrieg auslösten, fielen, weil seine serbischen Untertanen es nach jahrhundertelangem Kampf gegen die „Nosferatu“ nicht ertrugen, von einem Untoten regiert zu werden. Auch die Schrecken des Grabenkrieges werden plastisch geschildert. Dass in Newmans Welt „normale“ Menschen und Vampire mit- und gegeneinander kämpfen, wird beinahe nebensächlich angesichts der mörderischen Eigendynamik, die der Krieg längst entwickelt hat.

Vor dem grimmigen Kriegs-Spektakel muss Newmans eigentliche Geschichte notgedrungen ein wenig verblassen. Der „Fliegende Zirkus“ des Barons von Richthofen und seine Verwandlung in wahre Dämonen der Lüfte ist fast ein enttäuschend „normaler“ Einfall, wie man ihn in jedem x-beliebigen Horror-Roman finden könnte. Aber auch jetzt besticht „Der rote Baron“ durch die sorgfältige, beinahe dokumentarische Schilderung des Kampfes gegen den berüchtigten „Roten Baron“, der sich zwar als blutdürstige, gleichzeitig aber tragische Gestalt entpuppt, die um die Aussichtslosigkeit ihres Tuns durchaus weiß.

Wie der erste Teil der „Anno Dracula“-Serie gewinnt die Fortsetzung einen besonderen Reiz aus der Tatsache, dass Autor Newman nicht nur Personen der Zeitgeschichte auftreten lässt, sondern wie selbstverständlich Charaktere zum Leben erweckt, die völlig fiktiv sind und den Werken anderer Schriftsteller entnommen wurden. So kann es geschehen, dass in einem Feldlazarett der Entente H. G. Wells‘ Dr. Moreau neben H. P. Lovecrafts Herbert West, dem „Wiedererwecker“, am Operationstisch steht, Jules Vernes Ingenieur Robur seine Kampf-Luftschiffe über Paris schweben lässt oder Norbert Jacques‘ Dr. Mabuse das deutsche Kriegspresseamt leitet. Aber auch Personen, die tatsächlich gelebt haben, sieht man in Kim Newmans alternativen Welt des Jahres 1918 in völlig neuen Rollen; da kann es dann geschehen, dass der untote, im Exil lebende Schriftsteller Edgar Allan Poe in den Sälen des Prager Gerichts dem Schreiber Franz Kafka begegnet, bevor er im Auftrag Dr. Mabuses nach Frankreich reist, um dort eine Biographie des Flieger-Helden Manfred von Richthofen zu verfassen, dessen „Burschen“ Fritz Haarmann und Peter Kürten heißen … Solche an sich absurden Paarungen präsentiert Newman in rascher Folge, doch er konstruiert sie so geschickt, dass man ihrer niemals überdrüssig wird.

So ist „Der rote Baron – Anno Dracula 1918“ ein würdiger zweiter Band einer Reihe, die Kim Newman 1998 zu einer Trilogie ausgebaut hat: „Judgement of Tears – Anno Dracula 1959“ (auch unter dem merkwürdigen Titel „Dracula Cha Cha Cha“ veröffentlicht) beschreibt die Abenteuer des Vampirfürsten und seiner Gegner in der Ära des Kalten Krieges und des Rock ’n‘ Roll; allerdings spielt dieser Roman in Italien, ist vom Grundton wesentlich humorvoller angelegt und erinnert an eine Dario-Argento-Version von Fellinis „La Dolce Vita“.