Kampf gegen den Umwelt-GAU und um die eigene Identität
Eine junge Millionenerbin wird entführt, doch ihr gelingt die Flucht. Als sie sich in den gefährlichen Straßen einer fremden Stadt wiederfindet, sammelt eine Passantin sie auf. Doch Spanner, wie die Frau sich nennt, geht riskanten Geschäften nach – und zwingt die ihr verpflichtete Frances Lorien Van de Oest, dabei mitzumachen. Frances emanzipiert sich und haut ab. Sie arbeitet lieber ganz unauffällig in der städtischen Kläranlage. Aber wie lange kann das noch gutgehen?
Die Autorin
Die britische Autorin des preisgekrönten Romans „Ammonit“ (dt. bei Heyne) erhielt 1996 für den Roman „Slow River“ (dt. als „Untiefen“) den begehrten Nebula Award. Auch Griffiths Kurzprosa, die bislang nur verstreut erschien, kann sich sehen lassen. Sie befasst sich mit heißen wissenschaftlichen Themen in interessanter, kritischer Weise, die von humanistischer Grundeinstellung zeugt. Griffith bekennt sich zu ihrer Homosexualität und hat Anthologien von Erzählungen herausgegeben, die Homosexualität thematisieren.
Nicola Griffith wird als vielversprechende Nachfolgerin von Ursula K. Le Guin und James Tiptree (d.i. Alice Sheldon) angesehen. Sie hat auch die Krimis „The Blue Room“ und „Stay“ geschrieben. Sie ist Herausgeberin einer Jahres-Anthologie mit lesbischer und schwuler Science-Fiction. Der Lambda-Preis wird solchen AutorInnen verliehen. „Ammonit“ wurde mit den Tiptree- und Lambda-Preisen ausgezeichnet.
Handlung
Die 19-jährige Lore (nicht ihr richtiger Name) erwacht auf der Straße im strömenden Regen, ohne Kleidung, ohne Identität. Ihre Kidnapper haben sie ausgesetzt. Lore van de Oest war die Tochter eines der mächtigsten Männer auf dem Markt für Biotechnik (genmanipulierte Bakterien usw.). Doch jetzt ist sie ein Niemand, ihre Existenz in den weltweiten Datennetzen des Internets wurde gelöscht. Und sie will nicht zu ihrer Familie zurück, denn ein dunkles Geheimnis und die Tatsache, dass das Lösegeld für sie nicht bezahlt wurde, halten sie von der Kontaktaufnahme ab.
Auf der Flucht vor möglichen Verfolgern nimmt sie die Hilfe einer Frau namens Spanner an, deren illegale Geschäfte Lore in die Halbwelt der Großstadt führen. Unter falscher Identität fälscht sie Videos für Spendenaufrufe, die sie ins Internet einspeist, um die Spenden abzukassieren. Die erotische Beziehung zu Spanner verführt sie dazu, sich mehr als ein Jahr lang mit ihr zu prostituieren. Erst als sie den Kanal voll hat, wagt Lore den Absprung.
Sie beginnt in einem Klärwerk der modernen Art als einfache Arbeiterin (sie ist Milliardärin!) zu arbeiten. Dort werden die Bakterien der Firma van de Oest eingesetzt. Schon bald fällt sie der Vorarbeiterin Magyar durch ihre fundierten Kenntnisse in Sachen Sanierung mit biotechnischen Mitteln auf, und Magyar fühlt ihre Machtstellung, ihren Jon durch Lore bedroht. Als aber durch Sabotage ein Störfall das Klärwerk, das sein gereinigtes Wasser direkt an die Abnehmer weitergibt!, mit Ausfall bedroht, meistern Lore und Magyar den Ernstfall gemeinsam mit Bravour. Während Loresich im Hintergrund hält, lässt sie Magyar den Ruhm einheimsen. Hauptsache, sie selbst taucht nicht in den Medien auf, wo ihre Familie sie entdecken könnte.
In der nun entstehenden Liebesbeziehung zu Magyar findet Lore erstmals den Mut, sich ihrer Vergangenheit zu stellen: dem Kindesmissbrauch, den Intrigen, den Opfern der Macht des Clans. Sie entdeckt, wer sie wirklich ist. An dieser Stelle finden die drei Erzählstränge, die bislang parallel liefen, zusammen: 1) Lores Entwicklung im Alter zwischen 5 und 17, 2) Lore bei Spanner und 3) Lores Gegenwart nach der Trennung von Spanner. Lore findet den Mut zu einem Treffen mit ihrer Familie, an welchem aber Spanner nicht ganz unschuldig ist, und spricht sich mit ihrem Vater aus, dem sie die Augen über ihre feine Familie öffnet.
Mein Eindruck
In drei Handlungssträngen macht das Buch die Aufsplitterung von Lores Identität deutlich. So wird verständlich, welche Schwierigkeiten sie damit hat, eine integrierte Identität zu erlangen, ja, überhaupt jemand zu sein. Dies ist das Trauma, das für einen missbrauchten Menschen typisch ist. Und Lore, so erfahren wir gegen Schluss, wurde schon in frühester Kindheit von ihrer eigenen Mutter missbraucht – nicht von ihrem Vater, wie sie die ganze Zeit geglaubt hatte.
Auch ihre Stiefschwester Greta missbrauchte sie auf eine gewisse Weise: Sie ließ sie entführen und unterschlug das vom Konzern gezahlte Lösegeld. Mit dem Lösegeld konnten die Entführer wiederum Aktionen wie die Sabotage des Klärwerks, in dem Lore arbeitete, finanzieren. Eine teuflische Kausalkette, wie sie offenbar besonders globale Konzerne hervorbringen können.
Die Autorin verdeutlicht anhand des persönlichen Schicksals von Lore alias Frances, wie sich die Macht von monopolistischen Unternehmen konkret auswirkt: in Missbrauch, Raub der Identität und der körperlichen Unversehrtheit. Dabei können Konzernvertreter immer behaupten, dass sie keine Schuld trifft, denn wenn man es so gemacht hätte, wie sie es vorgesehen hatten, wäre ja nichts Schlimmes passiert. Doch wenn man es so gemacht hätte, wäre der Konzern noch reicher geworden als er es schon ist.
Statt ihr Thema theoretisch-philosophisch darzustellen, schafft Griffith es, ganz dicht dran am Geschehen und an der Psyche der Hauptfigur zu bleiben. Nur so nimmt der Leser Anteil an Lores Schicksal – ein Schicksal, wie man es vielleicht zuletzt nur in D.G. Comptons Roman „Tod live“ (1974, The Continuous Katherine Mortenhoe“, verfilmt mit Romy Schneider) mitverfolgt hat. Allmählich schälen sich die großen Zusammenhänge heraus, eben aus Lores Perspektive. Als dann die Integration ihrer Persönlichkeit unverhofft eintritt, ist dies ein wunderbarer Augenblick.
Kim Stanley Robinson, Autor von „Roter Mars“, ist zuzustimmen, wenn er ca. 1993 meinte: „Nicola Griffith ist ein junger, hell leuchtender Stern am Himmel der Science Fiction.“
Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: Slow river, 1995
Aus dem Englischen von Ingrid Herrmann-Nytko
ISBN-13: 9783453149144
www.heyne.de
Der Autor vergibt: