Terry Pratchetts Scheibenwelt kennt man als Leser phantastischer Literatur, denn selbst wenn man um die Bücher mit den eigenartigen Titelbildern einen Bogen macht, sind sie in den Bereichsregalen üblicher Buchhandlungen nicht zu übersehen. Und zur Scheibenwelt weiß man auch, dass man sich ein beliebiges Buch auswählen und es – ohne die geringste Kenntnis der umfangreichen Welt – lesen und genießen könnte. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert Die neunte Expansion, die ambitionierte Science Fiction Reihe des Wurdackverlags.
Eingebettet in dieses Universum, das sich in Nutzung und Ausarbeitung momentan eine Schriftstellerin und vier Schriftsteller teilen, liegt mit dem »Haus der blauen Aschen« der erste Roman einer Trilogie von Niklas Peinecke vor. Die Astrophysikerin Farne stößt während langweiliger Routinearbeiten auf den braunen Zwergstern ERC 238, von dem vor langer Zeit ein ungewöhnliches Signal ausging. Die Umstände wecken ihr Interesse, so dass sie alles daran setzt, eine Expedition zu diesem Stern, den sie kurzerhand Ercan nennt, auszurüsten. Mit von der Partie sind ihr alter Freund Hanner als Geologe, zwei Piloten, ihr vertrauter Freund und Kollege, die starke KI Karman, sowie die Ärztin Parka Laer, die unter zweifelhaften Umständen in die Mannschaft rückte, als der ursprünglich vorgesehene Arzt bei einem Tauchgang verloren ging.
Und von Anfang an scheint die Reise unter einem unglücklichen Stern zu stehen, denn verschiedene Interessengruppen stören immer wieder die Pläne, eine unbekannte Agentin drückt Farne einen »Roten Koffer« in die Hand, und es finden sich unverhofft vermehrt Hinweise auf die mythischen Hondh, deren Existenz sie bisher anzweifelte.
Niklas Peinecke ist der deutschen Szene durch seine ausgefallenen Kurzgeschichten bekannt, mit denen er sich schon in preiswürdige Bereiche vorwagte. Zuletzt veröffentlichte er eine Sammlung seiner besten Kurzgeschichten unter dem Ebooktitel »Rache ist eine schwere Schaufel«, bevor er mit »Das Haus der blauen Aschen« seinen ersten Roman schrieb. Diesem kommt nun die interessante Aufgabe zu, dem Kosmos der »Neunten Expansion«, die durch Dirk van den Booms Roman »Eine Reise alter Helden« das Licht der Welt erblickte, Leben einzuhauchen, den Charakter des shared universe zu verdeutlichen und die Erwartungen der Leser zu übertreffen, denn noch geht es um den Erhalt der Spannung und die
Etablierung der neuen Reihe. Es ist natürlich immer spannend zu sehen, wie sich ein Kurzgeschichtenautor in seinem ersten Roman verhält, der als Medium naturgemäß ganz andere Anforderungen stellt.
Die Schwerpunkte des Romans sind teilweise bekannte Plot-Treiber wie die Entdeckung eines unglaublichen Artefaktes mit allem was dazugehört. Verschollene Erbauer, um deren Verbleib man Rätsel und Handlung anlegen kann. Der Grund für dieses ungeheuerliche Projekt – eine polygonale Struktur aus Streben zu konstruieren, deren Oberflächen zur Besiedlung vorgesehen sind. Welche Katastrophe die Erbauer verschwinden ließ und welche Bedeutung ihre Hinterlassenschaften haben.
In diese Plot-Handlung eingebettet liegt die Geschichte um das Wesen der Künstlichen Intelligenzen im D9E-Kosmos, die KI, derer sich Peinecke mit großem Feingefühl und von einer ungewöhnlichen Seite her annimmt. Die KI, die Problematik ihres Daseins und ihre Stellung in der Evolution – die Evolution als solche, ihre Stellung zum unbiologischen Leben und der ganze Rest. Das macht das tiefe Gefühl in diesem Roman aus und lässt die paar kleineren Schwächen in Protagonistenzeichnung und Handlungsstringenz schnell vergessen.
So ganz nebenbei finden sich Antworten auf Fragen, die Van den Boom in seinem ersten Roman aufgeworfen hat und die eine Verbindung zum großen Hintergrund um das Geheimnis der Hondh herstellen. Die Situation auf der Erde findet ein gehöriges Erklärungsfundament, wobei man hier auch schon ein paar Stolperstricke aufgespannt hat, die es im weiteren Verlauf der Reihe zu beachten gilt. Zum Beispiel hat die Zerstörung des Dämpfers durch die Interceptor keine nennenswerte Auswirkung auf den Zustand der Bevölkerung, da durch seine Langzeitwirkung eine grundlegende Festigung hervorgerufen worden sein muss, wie die Medikerin an Bord der Cursor eindrucksvoll belegt. Die Frage nach der Ansteckung der Interceptorcrew stelle ich mal gar nicht.
Zum Handlungsaufbau des vorliegenden Romans fällt auf, dass es in Anbetracht der Infiltrationsmöglichkeiten durch die Dämpfertechnik schwer ist, dagegen zu sein. So hätte der Mediker einfacher »umgedreht« werden können, als sein inszenierter Tauchunfall sich darstellt. Auch die hintergründigen Hände, die die »Roten Koffer« verteilen, haben mit Sicherheit große Probleme, langfristig der Infiltration durch die Hondh zu entgehen.
Ein Punkt gewinnt den Kitschpreis des Jahres: Die Übergabe des Roten Koffers, der schon eine direkt bezeichnete Reminiszenz ist, spielt sich außerordentlich Bond-o-gen ab. Nebst Farnes Fähigkeiten im Nahkampf ist sie damit die perfekte Besetzung für die Rolle der nicht kleinzukriegenden Widerstandskämpferin. Ihre Vergangenheit um die verlorene Liebe verstärkt das ganze außerdem, obwohl man auf diesen ersten Abschnitt des Romans auch hätte verzichten können, um dagegen zum Beispiel die Einführung der Antagonistin ordentlicher zu gestalten. Interessant jedoch an dieser Episode ist die philosophische Betrachtung der Evolution, die auch später nochmal thematisiert wird.
Herausragend dagegen ist die KI-Situation zu beurteilen. Hier merkt man das Herzblut Peineckes, ohne dass diese Thematik dem Roman aufgepfropft erscheint. Sie fügt sich homogen ein in das insgesamt doch stimmige Bild, in dem die Differenzen an Bord der Cursor zwar immer präsent sind, eigentlich aber eine der Action gezollte Nebenrolle spielen und gegen das Geschehen im Artefakt und um Karmans Wesen weniger stark ausgeprägt bleiben.
Die Vielschichtigkeit eines Romans, der oberflächlich gesehen einer geradlinigen Handlung folgt, ergibt sich aus den Nuancen der Hintergrundbilder. Sie lebt durch die aufgeworfenen und beantworteten Rätsel: Man will Ercans Geheimnissen auf die Spur und den blauen Aschen näher kommen, denn Peinecke versteht es, seine Protagonisten häppchenweise Fortschritte machen zu lassen, so dass nie der Eindruck entsteht, sie würden zu Seiten füllenden Zwecken auf der Stelle treten – das hat die Datendichte überhaupt nicht nötig. Bleibt zu hoffen, dass Peinecke hier kreativ und abseits ausgetrampelter Pfade agiert. Man will die Hondh aufspüren, die kuriosen Geldgeber einordnen können, und vor allem will man mehr über Karman, seine Entwicklung und die KIs dieses Kosmos im Allgemeinen wissen.
Broschiert, 250 Seiten
Titelbild: Alexander Preuss
ORIGINALAUSGABE
wurdackverlag.de
Umfangreiche Leseprobe beim Verlag!
Ein Interview mit Niklas Peinecke zu diesem Roman bei Deutsche-Science-Fiction.de!
Noch ein Interview bei Fantasyguide.de!
Der Autor vergibt: