Nur Erfolg zählt im Musikbusiness. Als ein bisher erfolgreicher Manager nicht mehr mithalten kann, bringt er einen Konkurrenten um. Was zunächst funktioniert, entwickelt eine verhängnisvolle Eigendynamik mit verheerenden Folgen … – Eher Gesellschafts-Komödie als Krimi, besticht „Kill Your Friends“ durch das Insiderwissen des Verfassers und die brutale Konsequenz der Handlung, die sich bar jeglicher Illusionen in nackter Gier und Bösartigkeit wälzt: eine Lektüre, die man einfach nicht aus der Hand legt.
Das geschieht:
London im Jahre 1997. Die Musikindustrie schwebt im Dauerhoch. Das Internet (und die damit verbundenen Raubkopiermöglichkeiten) ist noch eine vage technische Möglichkeit, die CD ein Medium mit rekordverdächtigen Verkaufszahlen bei minimalen Fertigungskosten. Die Plattenfirmen scheffeln das Geld in solchen Mengen, dass es nicht einmal ihren unfähigen Angestellten gelingt, es vollständig aus dem Fenster zu werfen.
Steven Stelfox ist ein zynischer Talentscout und Manager, dem Musik rein gar nichts bedeutet. Sein stolzes Gehalt gibt er für Drogen, Alkohol, Nutten und andere Laster aus und ist ständig in Geldschwierigkeiten. Den Job sieht er als Selbstbedienungsladen, seine Kollegen sind ausschließlich Konkurrenten, die es klein zu halten oder auszuschalten gilt.
Als in seiner Abteilung die Leiterstelle neu zu besetzen ist, macht sich Stelfox große Hoffnungen. Doch obwohl er es tunlichst vermeidet, Entscheidungen zu treffen, hat er in der letzten Zeit diverse Deals verpatzt, sodass man ihn übergeht. Stelfox ist entsetzt und wird vom Neid zerfressen, der ihn jegliche Zurückhaltung vergessen lässt. Er ermordet seinen Chef, stellt die Tat als fehlgeschlagenen Einbruch dar und macht sich bereit, in dessen Sessel Platz zu nehmen.
Aber Stelfox hat sich gleich mehrfach verrechnet. Die Firma wirbt einen seiner ärgsten Konkurrenten ab und setzt ihm diesen vor die Nase. Für Stelfox brechen harten Zeiten an, denn der neue Mann fordert echte Leistung. Außerdem hat er als Mörder diverse Spuren hinterlassen und eine Zeugin übersehen. Von allen Seiten bedrängt, flüchtet Stelfox in Drogenkonsum und Suff. Sein Ehrgeiz und seine kriminelle Energie leiden nicht darunter. Im Gegenteil: Was schon einmal fast geklappt hätte, lässt sich sicherlich mit mehr Erfolg wiederholen; man lernt schließlich aus seinen Fehlern …
Wo man singt, lass dich ruhig nieder …
„Kunst kommt von Können“, sprach einst Maler Max Liebermann (1847-1935), der es wohl einfach noch nicht besser wusste. Im 21. Jahrhundert wird Kunst jedenfalls gemacht, wenn wir Steven Stelfox Glauben schenken möchten, der leider schrecklich überzeugend ist. Der Blick auf die Hitparaden dieser Welt gibt ihm zusätzlich Recht. Zufall, Geld und Manipulation bilden die unheilige Dreifaltigkeit der modernen Musikwelt, die sich dort, wo der große Reibach gemacht wird, längst in eine Industrie verwandelt hat.
So wird Musik denn auch gesehen – als Produkt, das möglichst billig hergestellt und möglichst teuer verkauft werden soll. Künstlerische Ambitionen seitens der Musiker sind ungern gesehen, und das Publikum zählt nur als breite Masse, die gefälligst zu fressen hat, was man ihr vorsetzt. Man darf davon ausgehen, dass dies heute noch so aktuell ist wie 1997.
Ein wahres Pandämonium ist die Welt des Steven Stelfox. Pardon wird weder gegeben noch erwartet. Folgerichtig könnte John Niven auf die mörderischen Attacken seiner Hauptfigur verzichten. Bis der erste Mord geschieht, hat er uns schon bis zum Erbrechen mit Zynismus und blanker Bösartigkeit abgefüllt. Jeder Satz transportiert eine neue Gemeinheit, bis Fassungslosigkeit in Faszination umschlägt. In seiner schamlosen Übertreibung ist „Kill Your Friends“ (wie Bret Easton Ellis‘ „American Psycho“) auch Komödie, zumal der Verfasser seine generell absurde Story immer wieder in Richtungen treibt, mit denen man wirklich nicht gerechnet hätte.
Das tröstet darüber hinweg, dass „Kill Your Friends“ keinem besonders ausgeprägten roten Faden folgt. So konzentriert sich Niven keineswegs auf die Folgen, die Stelfox‘ Mord nach sich zieht, und erfüllt nur annähernd die Konventionen eines ‚richtigen‘ Kriminalromans, sondern schweift wieder ab und liefert weitere Episoden aus dem Irrenhaus Musikindustrie. Nun, auch literarische Genregrenzen sind dazu da, durchbrochen zu werden, und dies von beiden Seiten.
… denn böse Menschen kennen keine Lieder!
Wie könnte man „Kill Your Friends“ auch in das Korsett eines Krimis zwängen, wo alle Regeln einer zivilisierten Gesellschaft aufgehoben sind? Stelfox hat den Mord wie seine übrigen Ausfälle problemlos abgehakt. Ohnehin fühlt er sich über Gesetz und Moral erhaben, die nur für den Nine-to-Five-Pöbel gelten, den er zutiefst verachtet. Den Rest erledigen Kokain und Alkohol; wie soll sich Stelfox also mit seiner Tat auseinandersetzen, wenn er sich schon abends nicht mehr an den Mittag erinnern kann?
Er macht deshalb einfach weiter und darf sich bestätigt fühlen, denn der Tanz auf dem Vulkan geht um ihn herum fröhlich weiter. Die traditionellen Strukturen des Musikgeschäfts sind 1997 noch intakt: Große Konzerne bestimmen den Ton, während die unabhängigen Labels belächelt werden. Nur wenige Jahre später liegt diese Welt in Scherben – kein Verlust, sollte sie wirklich von lauter Stelfoxes geprägt worden sein.
Wie ‚echt‘ ist das Milieu, in dem sich Stelfox so wohl fühlt wie die Wildsau in ihrer Suhle? In einem Interview berichtet John Niven, dass dem zukünftigen Verleger von „Kill Your Friends“ das Manuskript ausnehmend gut gefiel. Der einzige Einwand sei als Frage formuliert worden: Habe Niven nicht gar zu sehr übertrieben? Ein Einwand, der diesen zum Lachen brachte, denn Steven Stelfox ist eine Kreatur, die Niven aus eigenen Erfahrungen schuf. In den 1990er Jahren war er selbst ein Stelfox gewesen.
Regeln gelten nur für Loser
Im wahren Leben verfluchen wir die Kotzbrocken, denen wir manchmal ausgeliefert sind. Als Figuren in einem Film oder wie in unserem Fall in einem Buch finden wir sie dagegen vergnüglich. Dieser Widerspruch muss wohl mit einem heimlich empfundenen Neid zu begründen sein: Tief in unserem Inneren wären wir zumindest manchmal gern das Schwein, das unverdrossen alle vor den Kopf stößt. Schadenfreude spielt natürlich ebenfalls mit.
Steven Stelfox führt sich stellvertretend für uns Leser auf wie die Axt im Walde (auch wenn er einen Baseballschläger bevorzugt). Er ist ein moralfreier Mistkerl durch und durch – nicht dumm aber verlogen, intrigant, rassistisch, frauen- und männerfeindlich und vor allem immer – und ausschließlich – auf den eigenen Vorteil bedacht. Wahrscheinlich könnte er seinen Job durchaus zur Zufriedenheit aller Betroffenen erledigen, doch daran denkt er keine Sekunde. Faul ist er nicht, dieser Stelfox, sondern unermüdlich in seinem Bemühen, der Arbeit aus dem Weg zu gehen und seine Kollegen schlecht dastehen zu lassen.
Falls er jemals Skrupel besaß, so sind sie unter einem wahren Schneesturm diverser Modedrogen begraben und von Alkoholfluten ertränkt worden. Nur so kann Stelfox die notwendige Kraft aufbringen, sich vor der Konkurrenz zu hüten, die ebenso gierig und heimtückisch wie er ist. Mord ist in diesem Pfuhl der logische nächste Schritt – womöglich ist es eher Zufall, dass ausgerechnet Stelfox der erste ist, der zu diesem Mittel greift.
Stelfox‘ Höllenfahrt ist äußerst unterhaltsam. Zartbesaitete Leser werden sich in Abscheu winden, zumal die ‚gerechte Strafe‘ und damit die beruhigende (und scheinheilige) Sicherheit, dass Verbrechen sich nicht lohnt, ausbleibt. Ihr Pech, denn da wir seinen Untaten nicht ausgesetzt sind, empfinden wir ein diebisches Vergnügen zu verfolgen, wie bei Stelfox eine Sicherung nach der anderen durchbrennt und er Amok läuft.
Die Welt verdient, was sie bekommt
Außerdem trifft es ja keine Unschuldigen. Die Musikindustrie, die Autor Niven uns hier vorstellt, bringt ausschließlich Stevens und Stephanies hervor. Aber auch außerhalb dieses ganz & gar nicht erlauchten Zirkels hält sich der Schaden in Grenzen. Stelfox & Co. vernachlässigen ihre Pflicht, die darin besteht, junge Künstler aufzubauen? Nein, tun sie nicht, denn diese Künstler sind in 999 von 1000 Fällen unfähige Schwachköpfe, die Niven in zum Schreien komischen Szenen vorführt.
Auch ihr Publikum verdient kein Mitleid. Es tanzt mit ums goldene Kalb und hofft irgendwann selbst zum ‚Star‘ zu werden. Dafür lässt es sich alles gefallen und mit massenkompatiblem Musikmüll abfüttern. In gewisser Weise ist „Kill Your Friends“ auch ein Blick hinter die Kulissen der aktuell erfolgreichen Casting-Shows à la „Deutschland sucht den Superstar“. Wieso man diesen dort sicherlich nicht finden wird (und will), erklärt uns Niven mit schonungsloser Deutlichkeit. Dummheit muss bestraft werden, so argumentiert das kulturbeflissene Establishment. Die Musikindustrie erspart sich solche fruchtlosen Diskussionen. Sie ändert höchstens ihre Taktik, nie aber ihre Menschenverachtung.
Am Ende steht Stelfox am Anfang eines Karriereflugs, der ihm die Realisierung quasi globaler Gemeinheiten ermöglichen wird. Als wir ihn auf S. 380 verlassen, ist seine Geschichte zu keinem echten Ende gekommen. Sie geht weiter wie bisher, aber wir müssen sie nicht länger verfolgen, da wir ihren Verlauf kennen. Zu sagen bleibt nichts mehr. Niven blendet deshalb einfach ab. Benommen greifen wir blindlings zu einem Roman von Agatha Christie oder Co., denn jetzt können wir den Trost einer heilen, wohlgeordneten Krimiwelt gut brauchen …
„Kill Your Friends“ – der Film
Unter der Regie von Owen Harris – der zuvor ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet hatte – entstand 2015 eine Verfilmung des Romans. Den Stelfox spielte Nicholas Hoult – Genrefans vor allem als Hank McCoy = Beast in den „X-Men“-Filmen bekannt -, in den Nebenrollen fielen Namen wie Roseanne Arquette oder Moritz Bleibtreu (!) auf.
Autor
John Niven, geboren 1968 in Ayrshire im Südwesten Schottlands, studierte Englische Literatur an der Glasgow University. Nach seinem Abschluss 1991 ging er ins Musikgeschäft, betrieb zunächst ein kleines Label für Dance Music. Ab 1994 arbeitete er als Marketing Manager für „London Records“ und wechselte später in die Sparte A&R (Artist and Repertoire), wo er für die Suche nach neuen Talenten und deren Betreuung zuständig war; auf seinem Erfolgskonto konnte er u. a. die Bands „Mogwait“ und „The Pernice Brothers“ verbuchen.
Der immense Druck, der mit seiner Arbeit verbunden war, forderte seinen gesundheitlichen Tribut. Niven verließ die Musikindustrie 2002 und begann zu schreiben – über Musik. Er verfasste Artikel und Essays für zahlreiche Magazine. 2006 debütierte er mit dem Kurzroman „Music from the Pink“. 2008 folgte „Kill Your Friends“, dessen Handlung sich auf Nivens Erlebnissen in seinen Managerjahren stützte.
John Niven, der inzwischen auch Drehbücher schreibt, lebt mit seiner Familie heute im englischen Buckinghamshire.
Taschenbuch: 398 Seiten
Originaltitel: Kill Your Friends (London : William Heinemann 2008)
Übersetzung: Stephan Glietsch
http://www.randomhouse.de/heyne
eBook: 1102 KB
ISBN-13: 978-3-641-13620-8
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Hörbuch-Download: 610 min. (ungekürzt; gelesen von Gerd Köster)
ISBN-13: 978-3-8371-3127-7
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Der Autor vergibt: