Norbert Sternmut – Strahlensatz. Gedichte

Verwandlung, Sonne und womöglich Hoffnung

Die Vorgänge des Liebens und Sterbens bewegen sich ins Ungewisse und Unbekannte, mal hoffend, mal bangend. Diese beiden Grundthemen bilden die Basis für den ersten und dritten Teil von Sternmuts jüngstem Gedichtband „Strahlensatz“. Dazwischen befindet sich mit knapp 40 Seiten Umfang ein Zyklus, wie er sich als größere Form in fast allen Sternmut-Lyrikbänden findet. Die spannende Frage lautet, wie die drei Teile zusammengehören und einander ergänzen.

Hintergrund

„Der Strahlensatz (man spricht auch vom ersten, zweiten und dritten Strahlensatz) oder Vierstreckensatz gehört zu den wichtigsten Aussagen der Elementargeometrie. Er befasst sich mit Streckenverhältnissen und ermöglicht es bei vielen geometrischen Überlegungen, unbekannte Streckenlängen auszurechnen.“ (Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Strahlensatz )

Aus meinem Interview mit dem Autor:

Matzer: Ihr jüngster Lyrikband „Strahlensatz“ (2018) ist streng dreigeteilt und symmetrisch aufgebaut – werden Sie inzwischen doch noch zum Anhänger des Klassizismus?

Sternmut: „Strahlensatz“ arbeitet im Unterschied zu früheren Bänden weniger mit Brüchen, Synapsen, Metaphern, Disharmonien. Der Band zeigt sich formal durchgearbeitet, symmetrisch, findet nicht selten zur Reimform zurück. Dennoch fällt der Band nicht völlig aus dem Rahmen. „Liebe“ und „Tod“ erscheinen erneut als zentrale Themen. Im Gegensatz zum Band „Fadenwürde“ kann hier nicht von „geprügelter Sprache“ gesprochen werden, gleichfalls haben sich zentrale Inhalte und Aussagen nicht verändert.

Matzer: Der Teil „Liebend“ eröffnet den Band – das ist schon mal ungewöhnlich für Sternmut; der Teil „Sterbend“ beschließt ihn – früher war es genau andersherum. Entwickelt sich Ihre persönliche Situation inzwischen überwiegend positiv?

Sternmut: Meine persönliche Situation entwickelt sich positiv, zumal es mir gelungen ist, über die Jahrzehnte in Projekten, in der Sprache, am Werk zu arbeiten. Noch habe ich nicht alles „erschöpft“, aber soweit wie möglich meine Arbeit getan. Weiterhin beherbergt mein Gehirn allerdings ausreichend Spannungspotential. Weiterhin besteht kein Mangel an Unruhe unter der Hirnrinde. Die Themen haben sich nicht erschöpft. Zur Zufriedenheit besteht im Ganzen beim Blick in die Welt kein Grund. Dennoch bin ich mir sicher, dass ich zur Ruhe kommen werde, und dieser Gedanke hat immerhin eine beruhigende Wirkung.

Matzer: Zwischen „Liebend“ und „Sterbend“ steht ein 40 Seiten langer „Zyklus“. Was ist dessen Hauptthema?

Sternmut: Das Hauptthema ist der „Zyklus“, das Kommen und Gehen; beginnend mit einem „Knall“, folgt der „Strahl“ den immer gleichen Gesetzmäßigkeiten in einem „Strahlensatz“.

Es ist von der Physik die Rede, die weithin bestätigt, dass die „Schöpfung“ ohne „Schöpfer“ ist, aus reinem Zufall entstanden, sozusagen aus dem Nichts heraus. Das trifft selbstverständlich meine philosophische Vorstellung in Bezug auf den Ausgangspunkt, Endpunkt und den „Zyklus“ dazwischen. (Allerdings wäre auch die Vorstellung eines „Schöpfers“ nicht zu unterscheiden von der Vorstellung des „Nichts“, von dem jedes „Ding“ eine Modifikation darstellt…)

Der Teil „Liebend“

Diese Gedichte sind in erster Linie eine Feier der Liebe. Das geliebte Du weist nahezu messianische Züge auf: Das Du ist Erlösung und Heilung, Ergänzung und Verheißung. Ihm zugeschrieben sind Licht, und Sonne, Wärme und Nähe. Das verwundert nicht, und Sternmut hat in diesem hohen Ton schon viele Gedichte geschrieben. Aber selten ließ er die Zeilen sich reimen und derart harmonieren.

Mit dem Gedicht „Ursprung“ (S. 24) dringt jedoch der Blick des Liebenden tief unter die Oberfläche der Erscheinungen und Erfahrungen.

„Das innere Kind geistert
durch Nacht und Traum,
ist Schaum und Mut,

die Welt in uns
zu wandeln, hinab, hinauf
durch Grenze und Membran
in zähem Lauf, zur Helle,
wird Ursprungs Ursprung
tausendfach verwandelt,

brennt die Flamme
auf der Welle wieder jung
im irren Maskenspiel,
Im ersten, letzten Atemziel
Zur höchsten, tiefsten Stelle.“

Der prophetisch-verheißende Ton, der stellenweise an den irischen Dichter William Butler Yeats (1865-1939) erinnert, preist die Ungebändigtheit und Unschuld des kindlichen Ursprungs des Ichs. Diese beiden Eigenschaften ermöglichen den Mut, sich zu verwandeln und in der Flamme der Liebe zu verbrennen, ohne verbrannt zu werden, sondern um Verwandlung zu erfahren.

Der „Zyklus“

Mit rund 40 Seiten macht der Zyklus knapp ein Viertel des Buchumfangs aus, was seine herausragende Bedeutung unterstreicht. Er besteht aus zwölf Teilen, die man auch als Gesänge bezeichnen könnte, in Anlehnung an die „Cantos“ eines Ezra Pound oder die Gesänge in T.S. Eliots „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Das_w%C3%BCste_Land„>The Waste Land“ (1922).

Der erste Gesang beginnt mit dem Urknall, geht weiter mit der Ursuppe (endlich Leben in der Ödnis) und den lebenden Toten, der Zeitstrahl weist in beide Richtungen, man kann es sich heraussuchen, denn so wie der Stern sich schon bei seiner Entstehung seinem Ende entgegenbrennt, so ist auch dem Körper des Menschen bereits das Ende einkodiert.

„Lass leicht sein,
Wurm, Weiher,
weißer Flieder, lass
gut sein, Traum, Ziel,
wenn der Wind der Tränen verweht,
dein Name sich steinigt.

Wen willst du abermals hören,
sehn, aus Quellen, wen,
niemals mehr, aus Zellen, was
brachte dich über die Runden,
wie, mit Narben, weshalb,
mit Wunden, wohin.“ (Seite 70)

„Also setzt die Seelensegel
In den Wind, was auch geschieht
Im Lichtkegel.“ (S. 83)

Der Teil „Sterbend“

Alle Dinge und Wesen müssen enden, doch das ist kein Anlass oder Vorwand, die Flinte ins Korn zu werfen. Ganz im Gegenteil: Eine Kündigung ist ein Neuanfang, ein Ausstieg nur ein Umsteigen auf andere Vehikel des zyklischen Werden und Wandelns.

Entlassung

Du gehst, jetzt gehst du
Mit neuem Mut, nach Entspannung,
Kunst, Einzel, Gruppe,

nimmst den Faden auf
ins brüchige Netz, einen Satz
vorm Wahnsinn,

streckst die Zuversicht nach vorn,
die Hand, das Aug, den Gedanken,
das Wort: verrückt,

sind wir, entlassen
mit Brief und Siegel,
spinnen den Faden erneut.“ (S. 105)

In existentialistischem Sinne (Camus, Sartre) ist der Mensch, der in ein Universum ohne Gott geworfen worden ist, aufgefordert, wie einst die Moiren Klotho, Lachesis und Atropos den Faden seines Schicksals selbst zu spinnen. Es ist die Ära der Stern- und Zeitschmelze angebrochen.

Strahlensatz

Wie es kommt, strahlend:
es kann kommen, kausal,

mit Bindeglied, die Wunde
erlernt ihr Lied, die Formel
erstarkt am Satzende,

sei es am Grab, im Spiegel,
auf Brücken, darunter, sei es
für immer, mit Umarmung
zur Knochensprache erhoben,

wenn wir uns reich
mit Liebe beschenken, gleich
und gleich ins Nichts geerdet,
ins warme Freiheitsdenken

mit einem hellen Versprechen
nach dem Schlachtenlärm,
strahlend als Lichtstreif.“ (S. 143)

Das Grab, das von Anfang Sternmuts Gedichte mit Trübsal und Grauen erfüllte, hat endlich seinen Schrecken verloren. Freiheit, Liebe, Teilen und Gemeinsamkeit – dies sind die Versprechen, die das Ich hoffen und weitergehen lassen. Aus dem Schenken und Teilen erwächst die Wärme, die den Lichtstreif ermöglicht.

Unterm Strich

Einem heiteren, geradezu sonnengelben Auftakt im ersten Teil folgt ein komplexer und sprachlich und gedanklich maximal herausfordernder Mittelteil. Das vom Autor (s.o.) selbst angesprochene Thema und Motiv des Zyklus wird hier inhaltlich umgesetzt, und wer will, kann auch die zwölf Gesänge den zwölf Tierkreiszeichen oder Aposteln zuordnen.

Inhaltlich und sprachlich ist die sich der Kernschmelze nähernde Sprache näher an Celan und Trakl dran als etwa an Goethes Spätphase. Der im Hintergrund schimmernde Gedanke ist das „ewige Stirb und Werde“, das schon Goethe zu einer zyklischen Weltschau veranlasste. Warum nicht auch Sternmut?

Der letzte Teil mit dem Titel „Sterbend“ ist alles andere als niederschmetternd, sondern greift die Energie eines Zyklus – siehe oben – auf, um aus jedem Ende einen Anfang zu kreieren. Insgesamt vermittelt der gesamte Band eine triadische Einheit des Konzepts, dass der Wandel mit seinem Sterben, Vergehen, Teilen und Wachsen eine Quelle der Hoffnung und Lebensfreude darstellt.

Wie die ausgewählten Textbeispiele hoffentlich vermitteln, sind die Gedichte, wiewohl stets hochverdichtet, durchaus auf den ersten Blick verständlich. Nur der Zyklus erfordert ein höheres Maß an linguistischer Anstrengung.

Nach Bänden mit düsteren Titeln wie „Nachtlichter“ und „Totentango“, die die Morbidität zu feiern schienen, ist dieser Band geradezu in hellstes Sonnengelb getaucht. Davon vermittelt das Titelmotiv, das wohl ein militärisches Vehikel im Scheinwerfer-Detail zeigt, eine kleine Andeutung. Die andere Seite der Medaille: Mit 18 Euronen zählt dieser Gedichtband nicht gerade zu den preiswertesten Lyrikbänden hierzulande. Er ist eben alles andere als Massenware.

Der Autor

Norbert Sternmut (= Norbert Schmid), geboren 1958, lebt in Ludwigsburg und arbeitet als Sozialpädagoge. Der Theaterautor, Rezensent, Maler, Lyriker und Romanschreiber erhielt Stipendien vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Gerlingen. Er veröffentlichte seit 1980 über dreißig Einzeltitel (siehe Liste unten) und ist in über 50 Anthologien vertreten. Als Maler trat er mit über 75 Ausstellungen an die Öffentlichkeit.

Mit zwanzig Jahren erkrankte Sternmut an Krebs, konnte die Krankheit aber überwinden. Beide Phänomene spielen fortan in seiner Lyrik ab 1980 eine Rolle. Der gelernte Werkzeugmacher wurde nach einem Studium zwischen 1982 und 1987 Sozialpädagoge und ist seit 1993 in verschiedenen Bildungsinstitutionen tätig. Mehr Infos gibt es auf seiner Website http://www.sternmut.de und in der Wikipedia .

Seit 1980 hat Sternmut eine ganze Reihe von Lyrikbänden veröffentlicht, darunter die von auf Buchwurm.org vorgestellten Bücher „Lichtpausen“, „Photofinish“, „Triebwerk“ und „Absolut, du“. In dem Bild & Lyrik-Band „88 Rätsel zur Unendlichkeit“ arbeitete er mit dem Grafiker Volker Funke zusammen: Die Rebus-artigen Rätselgrafiken harmonieren mit den frei assoziierenden Gedichttexten Sternmuts. Eine Webseite ergänzt das multimediale Werk auf der Zeit angemessene Weise.

Auf der Prosaseite ist eine Romantrilogie hervorzuheben, zu der „Der Tote im Park“ (1999), „Marlies“ (2003) und „Norman“ (2008) gehören. „Wildwechselzeit“ (2011), ein Tagebuch-Roman über die Beziehung zu Christof Schlingensief und dessen Tod, sorgte für lebhafte Debatten (siehe unten). Eine Reihe von z.T. phantastischen Erzählungen erschienen in dem Band „Das Zeitmesser“ (Rainar Nitzsche Verlag, Kaiserslautern, 1997).

Werke

• Augen und Steine. Gedichte 1984, Hutters-Verlag, ISBN 3-88877-039-4.
• In hundert Jahren. Gedichte 1984, Hutters-Verlag, ISBN 3-88877-040-8.
• Goldene Zeiten. Theaterstück 1985, Der Karlsruher Bote, ISBN 3-88256-178-5.
• Lauf der Dinge. Gedichte 1987, Hutters-Verlag
• Sprachschatten. Gedichte 1989, Verlag Edition Thaleia, ISBN 3-924944-16-4.
• Lichtpausen. Gedichte 1994, Verlag Günther Dienelt, ISBN 3-88397-153-7.
• Verfrühtes Auslösen des Zeitraffers. Gedichte 1995, Verlag Edition Thaleia, ISBN 3-924944-28-8.
• Sternmut. Gedichte 1996, Röhn-Verlag, ISBN 3-931796-15-9.
• Das Zeitmesser. Kurzprosa 1997, Verlag Rainar Nitzsche, ISBN 3-930304-21-X.
• Photofinish. Gedichte 1997, Verlag Edition Thaleia, ISBN 3-924944-36-9.
• Absolut, Du. Gedichte 1998, Verlag Edition Thaleia, ISBN 3-924944-42-3.
• Der Tote im Park. Roman 1999, Wiesenburg Verlag, ISBN 3-932497-28-7.
• Trainingscenter. Theaterstück 2000, Theaterboerse
• Metallica. Theaterstück 2001, Theaterboerse
• Keine Regeln für Sina. Roman 2001, Betzel Verlag, ISBN 3-932069-82-X.
• Marlies. Roman 2003, Wiesenburg Verlag, ISBN 3-932497-89-9.
• 88 Rätsel zur Unendlichkeit,Lyrik-Grafik-Kunstdruckband. Bilder von Volker Funné.[9] Wiesenburg Verlag, 2004, ISBN 3-937101-35-7.
• Triebwerk. Gedichte 2005, Verlag Edition Thaleia, ISBN 3-924944-69-5.
• Seelenmaschine. Gedichte 2006, Wiesenburg Verlag, ISBN 3-939518-34-4.
• Norman. Roman 2008, Wiesenburg Verlag, ISBN 978-3-939518-94-5.
• Fadenwürde. Gedichte 2009, POP Verlag, ISBN 978-3-937139-67-8.
• Nachtlichter. Gedichte 2010, POP Verlag, ISBN 978-3-937139-87-6.
• Wildwechselzeit -Tagebuch einer Beziehung. Roman 2011, Wiesenburg Verlag, ISBN 978-3-942063-25-8.
• Spiegelschrift. Gedichte 2011, POP Verlag, ISBN 978-3-86356-007-2.
• Schattenpalaver. Gedichte 2012, POP Verlag, ISBN 978-3-86356-032-4.
• Zeitschrunden. Gedichte 2012, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-045-4.
• Nachbrenner. Gedichte 2013, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-081-2.
• Sonnwend. Gedichte 2014, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-092-8.
• Pfeilschrift -Reflexionen über die Liebe. Gedichte und Prosa 2015, Wiesenburg Verlag, ISBN 978-3-95632-284-6.
• Atemecho. Gedichte und Bilder 2016, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-110-9.
• Totentango. Gedichte und Bilder 2017, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-145-1.
• Strahlensatz. Gedichte 2018, edition monrepos, ISBN 978-3-86356-199-4.

(Quelle: Wikipedia)

Taschenbuch: 9150 Seiten
ISBN-13: 9783863561994

www.pop-verlag.com

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