Diana Norman – An den Ufern der Dunkelheit

Schriftsteller Daniel Defoe gerät in ein Intrigengespinst, als er zusagt, nach einer verschollenen Frau zu suchen. „Anne Bonny“ ist womöglich eine Anwärterin auf den englischen Königsthron, weshalb sowohl die Regierung als auch die Opposition sie finden wollen, weshalb die Fahndung die gesamte bekannte Welt erfasst … – Ungemein spannendes, fabelhaft geplottetes und schnörkellos erzähltes Garn, das Geschichte und Thriller vorbildlich verknüpft sowie – noch erstaunlicher! – auf schaumige Liebesgeplänkel u. ä. Abschweifungen verzichtet: ein Pageturner!

Das geschieht:

London im Juli des Jahres 1706: Auf Englands Thron sitzt Queen Anne (1665-1714) aus dem Haus der Stuarts. Die Zeiten sind unruhig; religiöse Zwistigkeiten spalten das Land. Zwischen den protestantischen „Tories“, der Regierungspartei, und den katholischen „Whigs“, der starken Opposition, herrscht ein nur mühsam gewahrter Frieden. Einig sind sie sich höchstens in ihrer Ablehnung der Königin. Einen Thronerben gibt es auch nicht. Unterschiedlichen Parteien und politische Interessengruppen haben eigenen Kandidaten. Zu allem Überfluss tobt wieder einmal ein Krieg mit Frankreich, der beide Länder auszubluten droht.

Die Politik lässt den Kaufmann und Schriftsteller Daniel Defoe herzlich kalt, als er am Pranger steht. Schon wieder ist er bankrottgegangen, hat hohe Schulden und darf sich sicher sein, ins gefürchtete Newgate-Gefängnis geworfen zu werden. In dieser Situation wird er nach jedem Strohhalm greifen – und genau das wollen einige undurchsichtige Zeitgenossen ausnutzen. Zunächst bittet ihn der schottische Adlige Livingstone von Kilsyth um Hilfe. Er sucht angeblich eine junge Frau namens Anne Bard oder Bonny, die vor fünf Jahren spurlos in London verschwunden ist.

Auch die Regierung interessiert sich für Anne Bonny. Der mächtige Staatssekretär Robert Harley, neben Königin Anne die eigentliche Macht im Staate zwingt Defoe in seinen Dienst Der nimmt die längst erkaltete Spur am letzten bekannten Aufenthaltsort Anne Bonnys auf: der Pension der Wirtin Effie Sly. Die ist soeben ermordet worden. Effie war vermögend, weshalb ihr Neffe und Erbe Martin Millet, ein kriegsversehrter Ex-Soldat, aus dem Ausland anreist. Er lernt Defoe kennen. Die beiden Männer freunden sich an und beschließen, gemeinsam das Rätsel um Anne Bonny zu lösen, in das Effie Sly offensichtlich verwickelt war. Sie gehörte als „Dunkle Laterne“ zum weitgespannten Netz der Regierungsspitzel, über die Staatssekretär Harley gebietet.

Wo ist Anne Bonney? Warum wird wirklich so intensiv nach ihr gefahndet? Zwölf Jahre wird Defoes Suche dauern, ihn und seine Mitstreiter über den halben Erdball führen und immer wieder in Lebensgefahren bringen …

Angenehm enttäuschte Befürchtungen

Ein historischer Roman, der um das Jahr 1700 spielt … Was hat der Leser (gleich welchen Geschlechts) normalerweise zu erwarten? Schmucke Männer in weißen Flatterhemden und dralle Frauen im stramm geschnürten Mieder, die à la Shakespeare (in Hollywoods „Sinn-und-Sinnlichkeit”-Kitsch-Version) zwischen allerlei Tändeleien und Liebeskabalen über sonnengeflutete Wiesen tollen?

Aber halt: Die Handlung setzt ja in London ein. Das bedeutet wohl (zusätzlich) malerisches Elend, buntes städtisches Treiben auf schmutzig-idyllischen Gassen, Intrigen bei Hofe, in denen die Lieblingszofe einer liebeshungrigen und – Ach! – so einsamen Königin eine zentrale Rolle spielt? Und dann: der Hof Ludwigs XIV., des französischen Sonnenkönigs! Musketier-Romantik und nächtliche Oh-la-la-Eskapaden im Schlafgemach? Zudem geht’s noch in die Karibik: Piratenträume, tragische Sklavennot, feurige Mulattinnen, die stolz über Zuckerrohr-Plantagen schreiten?

Um es kurz zu machen: Keines dieser gruseligen Klischees wird man in diesem Buch wiederfinden, obwohl Umschlaggestaltung und Klappentext es gefährlich in die Nähe dümmlicher Herz-Schmerz-Schwarten rücken. Stattdessen rollt vor den Augen des verblüfften Lesers ein in Inhalt und Form überragender historischer Thriller ab, der es in Sachen Spannung und Dramatik mit jeder modernen Komplott-Story mindestens aufnehmen kann!

Im Bann einer echten Erzählerin

Der Ton macht die Musik – das ist eine alte Weisheit, die bei den Autoren von Historien-Romanen regelmäßig in Vergessenheit gerät oder vorsätzlich ignoriert wird. Sie meinen die Handlung durch den Einsatz ‚zeitgenössischer‘ Sprache unterstützen zu müssen und produzieren doch nur Schwulst und Schwafelei. Norman hasste solche Romane, die sie als „Gadzooks Literature“ verspottete. („Gadzooks“ ist eine Verballhornung des Fluches „God’s Hooks!“) Sie schreibt sachlich, fast nüchtern, ohne jede Sentimentalität oder gar Gefühlsdusel. Mit einer beiläufigen Souveränität, die wahres Talent verrät, wird die Geschichte durch knochentrockene, sarkastische Anmerkungen ergänzt und mit beißendem Humor gewürzt. Es ist ein echter Segen, dass der Übersetzer mit der Autorin jederzeit mithalten kann!

Die zahlreichen Schauplätze werden prägnant dargestellt, Ereignisse und Personen, seien sie nun historisch oder fiktiv, stehen völlig im Dienst der Handlung. Längen gibt es nicht in dieser Geschichte, die über 600 eng bedruckte Seiten läuft; schon das ist eine erstaunliche Leistung. Die Ereignisse werden erzählt, wie sie geschehen. Stimmung und Atmosphäre werden nie durch Wortgewaber herbeigezwungen, sondern entstehen aus der Situation heraus.

Wenn auch unter den Figuren die Schurken überwiegen, kann man ihnen eines nicht vorwerfen: Sie sind niemals eindimensional. Auf die ‚Helden‘ dies ebenso zu. Millet, Livingstone von Kilsyth, Ludwig XIV. – sie sind Menschen mit allen menschlichen Facetten, keine papiernen Gestalten, denen versimpelte Charaktereigenschaften aufgeprägt werden.

Schwulst über Bord!

Das trifft sogar auf die weiblichen Figuren zu, die eben nicht als ‚starke Frauen‘ um jeden Preis und wider alle historische Realität Kanonenboot-Feminismus in die ach so dunkle Vergangenheit tragen und hoch erhobenen Hauptes und mit flatternder Haarmähne innerlich zitternd, aber niemals zagend allerlei bösem, auf jeden Fall aber dummem Mannsvolk – meist für die Kirche tätig – Paroli bieten müssen. Figuren wie der „Fratz“, die „Wahnsinnige“ oder Königin Anne wirken nicht nur jederzeit überzeugend, sondern setzen durchaus Signale in einer Welt, die nun einmal den Frauen nicht die Möglichkeiten gewährte, über die sie heute gebieten, was aber auf der anderen Seite nicht bedeutete, dass sie völlig ohne Rechte oder Einfluss bleiben mussten.

Der allseits positive Eindruck setzt sich in der Handlung fort. Sie schlägt schneller Haken als ein verängstigter Hase, doch der Autorin gerät nie der rote Faden aus den Augen. Vom Leser lange unbemerkt entwickelt sich ein Drama auf gleich mehreren Ebenen, die im letzten Drittel unmerklich zueinander finden und in einem Finale münden, das nicht nur durch seinen Einfallsreichtum und seine Konsequenz beeindruckt, sondern tatsächlich überraschen kann.

Es gibt ihn also doch, den intelligenten UND unterhaltsamen historischen Roman. „Die Ufer der Dunkelheit“ ist keine große Literatur, sondern etwas Wertvolleres: ein Werk, das seine Leser weder mit stupiden Ketzerbraut- und Wanderhuren-Stereotypen noch als „Schlau-Mönch-löst-Übeltat-in-einer-Welt-voll-abergläubischer-Dummköpfe“ Reißbrett-Krimi langweilt und verärgt.

Autorin

Diana Norman wurde als Mary Diana Narracott am 25. August 1933 in London geboren. Weltkriegsbedingt musste sie schon in jungen Jahren selbstständig werden, verließ mit 15 Jahren die Schule und trat in die Fußstapfen ihres Vaters, eines Journalisten. Narracott machte sich rasch einen Namen und arbeitete bald selbst als Reporterin für diverse Zeitungen.

Nach ihrer Heirat mit dem Filmkritiker Barry Norman (1957) und der Geburt zweier Töchter kehrte Norman dem Journalismus den Rücken. Sie studierte (Mittelalter-) Geschichte und begann Historien-Romane zu schreiben; ihr Debüt („Fitzempress‘ Law“) erschien 1980. Seit 2006 erschienen unter dem Pseudonym Ariana Franklin die sehr erfolgreiche Serie um die mittelalterliche Totenleserin (= Privatdetektivin) Adelia Aguilar. Diana Norman starb am 27. Januar 2011 in Stevenage in der englischen Grafschaft Hertfordshire.

Taschenbuch: 601 Seiten
Originaltitel: Shores of Darkness (London : Michael Joseph 1996)
Übersetzung: Rainer Schmidt
http://www.fischerverlage.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)