Hoffnung für den Exodus zu den Sternen
„Zweitausend Schiffe rasen durch die Leere des Raums…
An Bord die letzten Überlebenden der Erde – auf der Suche nach einer neuen Heimat für die Menschheit…
Besatzung und Passagiere scheinen gefangen in einem zur Wirklichkeit gewordenen Traum…
Und die endlosen Tiefen des Alls bergen ein letztes, düsteres Geheimnis…
Für diesen außergewöhnlichen Roman erhielt Norman Spinrad, eines der herausragenden Talente der Science Fiction, 1975 den Jupiter Award.“ (Verlagsinfo)
Der Autor
Norman Spinrad wurde 1940 in New York City geboren, wo er auch die Universität besuchte. Er debütierte 1963 mit der SF-Story „The Last of the Romany“, arbeitete als literarischer Agent und freiberuflicher Schriftsteller. Mit seinen ersten Romanen „The Solarians“ (1966) und „Agent of Chaos“ (1967) erregte er keinerlei Aufsehen. Doch der Protagonist seines dritten Romans „The Men in the Jungle“ (1967) muss komplexe politische Abenteuer auf einem fremden Planeten durchleben und ist der erste einer Reihe von zynischen Anti-Helden Spinrads.
Großen Aufruhr verursachte der Autor mit der Mediensatire „Bug Jack Barron“ (1967/68), der in Moorcocks aufmüpfigem Magazin „New Worlds“ als Serie erschien und zu einer parlamentarischen Anfrage in Londons Unterhaus führte. Die GB-Regierung wollte dem Magazin daraufhin die Zuschüsse streichen. Dabei wirkt der Roman, den Sam Lundwall eine „Ansammlung von Obszönitäten“ nannte, heute völlig harmlos.
Danach folgten recht fetzige Erzählungen aus der Rock- und Drogenkultur Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Ein weiterer Schlagzeilen machender Roman war 1972 „The Iron Dream“ (Der stählerne Traum), dessen Übersetzung 1982 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Index gesetzt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht hob die Indizierung am 4.6.1985 wieder auf. (Die Begründung ist in „Science Fiction Media“ Nr. 15 vom August 1985 auf Spalte 23 auszugsweise abgedruckt.)
Der Kurzroman „Flammenritt“ (Riding the Torch, 1974) gewann dem Thema Generationschiffe ein paar neue Aspekte ab und wurde ausgezeichnet. „Eine Welt dazwischen“ (A World Between, 1979), das ich ebenfalls gelesen habe, überträgt einen Medienkrieg auf den Krieg der Geschlechter. Eine nicht sonderlich unterhaltsame Sache, wie mir in Erinnerung ist. Und „Songs from the Stars“ (1980, Lieder von den Sternen) und „The Void Captain’s Tale“ habe ich mir dann gar nicht mehr angetan.
Lediglich mit „Bilder um elf“, einer Satire auf Medien und Terrorismus in Deutschland (siehe meinen Bericht) sowie „Deus X“, einer Satire auf den Vatikan im Cyberspace-Zeitalter, konnte mich Spinrad wieder überzeugen, dass er wirklich ein guter, herausfordernder Autor ist.
„Russischer Frühling“ (ca. 1990) schildert eine friedliche Utopie nach dem Motto „Glasnost und Perestroika“ überall, „Das tropische Millennium“ (1999) porträtiert eine stark erwärmte Welt unter dem Klimawandel, und „Transformation“ (He Walked Among Us, 2002) ist eine nette Persiflage auf die Wiederkehr Jesu, den Messias von den Sternen und bildet eine Absage an alle Heilsprediger. Zuletzt erschien von ihm die Novellisierung zu dem Historienschinken „Druidenkönig“, das das Schicksal von Vercingetorix erzählt, den im Film ein etwas seltsam aussehender Christopher Lambert spielt.
Handlung
2040 Raumschiffe befinden sich auf dem Flug ins Irgendwo. Die Tiefe des Alls, so hoffen sie, soll ihnen eine zweite Erde bescheren, ein zweites Eden. Vor über 500 Jahren haben ihre Vorfahren es fertiggebracht, ihre heimatliche Erde in einem atomaren Holocaust zu vernichten. Die Saatschiffe bringen die letzten Überlebenden erst zu den näherliegenden Sternen. Doch alle Planeten, die diese umkreisen, haben sich bislang als unbewohnbar erwiesen. Das macht aber keine Angst, denn vor der Flotte erstreckt sich die bunt wie ein Regenbogen schillernde Grenzschicht aus zusammengedrängten Wasserstoffatomen. Jeder Tag bietet ein fröhliches Farbenspiel…
Die Flotte ist in deutliche Gruppen gespalten. Da sind einmal die ganz normalen „Trecker“, die einfach nur Party nach Party feiern, einander mit Senso-Programmen unterhalten und künstliche Umgebungen erschaffen. Zu ihnen gehören die Künstler Jofe D’Mahl und seine Geliebte Jiz Rumoku, die ein ganzes Schiffsdeck für sich beansprucht, das sie als künstlerischen Spielplatz benutzt. Jofe hingegen ist eine Art Autor-Regisseur, der Senso-Filme erschafft. Per eingepflanztem Senso-Modul kann jeder „Zuschauer“ mit allen Sinnen an diesen Ereignissen teilhaben.
An Bord der Hauptschiffe befinden sich die „Buddler“, wie Jofe diejenigen Typen nennt, die unbedingt eine Welt haben wollen, die sie besiedeln und nach ihrer Vorstellung gestalten wollen. Ihnen entgegengesetzt sind die „Raumtaucher“, die die Erkundungsschiffe bemannen, mit denen der tiefe Raum, die Sterne und deren Planeten auf Bewohnbarkeit und Leben abgetastet werden. Die „Raumtaucher“ sind ein seltsames Völkchen, findet Jofe. Sie verbergen irgendein Geheimnis…
Kurz nachdem Haris Bandoora, ein Sprecher der „Raumtaucher“ die Entdeckung einer erdähnlichen Welt verkündet hat, startet Jofes neuestes Meisterwerk „Die Wandernden Holländer“. Beeindruckt von dessen Qualität und Aussage fordert Bandoora Jofe heraus, doch selbst mal ein Scoutschiff zu besuchen, um die „Raumtaucher“ näher kennenzulernen. Wer weiß – es könnte sich ein Motiv für sein nächstes Werk ergeben.
Trotz des ihm bewussten Risikos, das er hinsichtlich seiner geistigen Gesundheit eingeht, nimmt Jofe die Herausforderung an. Sein Ego ist riesig, denn es ist alles, was er hat. „La réalité, c’est moi!“, sagt er im Still des legendären Sonnenkönigs. Zunächts wundert er sich, dass diese Raumtypen eigentlich gar nichts Sinnvolles tun, denn alle Systeme sind vollautomatisiert. Statt dessen faseln sie etwas vom „Ruf der Leere“. Was das sein soll, fragt sich Jofe ein ums andere Mal.
Einer der Raumtaucher hat den „Ruf der Leere“ gehört. Was jetzt, fragt sich Jofe. Er und Bandoora begleiten den Mann durch die Schleuse und schauen zu, wie der Mann, gehüllt nur in seinen Raumanzug, sich in die leere Schwärze hinausgleiten lässt. Die Scoutschiffe sehen die schillernde Seifenblase der Trecker nicht: Sie nehmen das Weltall so dar, wie es ist: leer, schwarz, gesprenkelt mit fernen Sternen.
Eines Tages ist es soweit. Jofe hört selbst den „Ruf der Leere“ und macht sich bereit, einen Tag im Nichts zu verbringen. Eine der Raumtaucherinnen fleht ihn demütig an: „Erlösen Sie uns, D’Mahl! Nehmen sie diese Bürde von uns!“ Was sie meint, ist die Diskrepanz zwischen der niederschmetternden Wahrheit, dass es keine einzige Erdwelt gibt, und der Selbsttäuschung, dass die Galaxis voll davon sei, wie die Trecker und Buddler glauben.
Der Tag, den Jofe in der umfassenden Leere des Alls verbringt, verändert ihn unwiderruflich. Doch wie soll dies den anderen Treckern helfen? Der „Ruf der Leere“ würde sie allesamt in den Wahnsinn treiben…
Mein Eindruck
Dies ist alles andere als ein Stück Pulp Fiction. Ursprünglich in Robert Silverbergs Anthologie „Threads of Time“ veröffentlicht, packt die Geschichte Jofe D’Mahls das Problem aller Generationenschiffe an der Wurzel an: die Frage nach der Selbstberechtigung dieses Trecks zu den Sternen.
Angesichts der unendlichen Ungastlichkeit des Alls scheint der Treck von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Da es kein Ziel gibt, das er erreichen könnte, ist der Treck nur eine Selbsttäuschung, der sich die Siedler hingeben. Sie sind die „Wandernden Holländer“ der Legende, wie D’Mahl es in seinem Sensofilm ausdrückt. Oder doch nicht?
Lehre der Leere
In einer Abfolge von plastischen Bildern malt der Autor ein Panorama der Wirklichkeit, der sich die Trecker und Buddler verschrieben haben. Als Antithese lässt er sodann seine Hauptfigur D’Mahl eine völlig entgegengesetzte Realität erkunden, nämlich die der „Raumtaucher“.
Die Lehre der Leere, so findet Jofe heraus, besteht darin, dass der Treck und alles Leben darin nur eine Verirrung, eine Laune der Natur darstellt. Und die wahre Natur, das ist die Leere. Nicht etwa das Nichts, denn dann würde auch die von Wasserstoff und Sternen erfüllte Leere nicht existieren. Leben, das wird Jofe hautnah klar, ist nur der Schmutzklecks, der zwischen der umfassenden äußeren und der ihn nun erfüllenden Leere hauchdünn existiert und sich für Gottes wahre Schöpfung hält, die dem Universum erst Sinn verleiht.
Nach dieser Abfolge von These und Antithese besteht Jofes Problem vor allem darin, eine Synthese zu finden. Seine neue Wahrheit würde die Trecker in den Wahnsinn treiben, nicht zuletzt seine Freundin Jiz Rumoku, die denkt, vor ihr liege das neue Eden, das man endlich besiedeln könne.
Synthese: Hiob
Doch dann stellt sich Jofe endlich den Konsequenzen, die sich aus dem Widerspruch des Erlebten ergeben. Wie schon in „Die Wandernden Holländer“ verarbeitet er seine Gedanken, Erlebnisse und Ansichten in eine fiktionale Form, die die Trecker ebenso verstehen können wie die „Raumtaucher“. Das Paradigma ist der biblischen Geschichte über den Mann namens Hiob entnommen, dessen Glauben an Gott auf die denkbar härteste Probe gestellt wird.
Doch diese Senso-Aufführung kommt keineswegs bierernst daher, sondern als lustige Farce. Gott, der alte Typ mit dem Rauschebart, wird von dem listigen Satan herausgefordert, Hiob zu prüfen. Hiob – das sind die Trecker, und Gottes ultimative Prüfung besteht in der Offenbarung, dass es keine zweite Erde gebe und auch nicht geben könne.
Das freut den Teufel ungemein, denn nun darf er auf etliche Seelen hoffen, die sich von Gott ab- und ihm zuwenden. Doch wer das Spiel gewinnt, soll hier nicht verraten werden.
Die Übersetzung
Birgit Reß-Bohusch übersetzte diesen Roman zuerst 1977 für den Heyne Verlag, bevor Lübbe ihn 1981 als Lizenzausgabe herausbrachte. Die Bedeutung der Sätze dürfte weitgehend dem Original entsprechen, und so liest sich der Text auch flott und fast reibungslos.
Was die Reibung verursacht, ist die unsägliche Textgestalt. Hier wurden Unmengen von Kommata, Anführungszeichen und Interpunktion vergessen, dass man stellenweise Phantasie braucht, um die Aussage zu verstehen. Hinzukommen hier und da Druckfehler, die auch die Wörter entstellen.
Auf Zitate wie jenes aus dem ROLLING-STONES-Song „Sympathy for the Devil“ – „Gestatten, dass ich mich vorstelle?“ („Let me introduce myself/I’m a man of wealth and taste“) – muss der Leser selbst kommen, denn eine Fußnote gibt es dazu nicht.
Ebenso muss er nachschlagen, was denn bitteschön das Besondere an einem „Wandernden Holländer“ sein soll. Das ist eine Zusammenziehung aus dem Wandernden Juden Ahasver, der zum ewigen Wandern verurteilt ist, und aus dem Fliegenden Holländer, der ebenfalls zu ewig ruhelosem Segeln verdammt ist. (Dazu gibt es ein schönes Hörspiel aus der Reihe GRUSELKABINETT.)
Zum Titel
„Flammenritt“ ist der – deutsche – Titel von Jofes abschließendem Sensostück. Das englische Original „Riding the torch“ ergibt etwas mehr Sinn, denn die Hauptschiffe des Trecks werden „torch ships“ genannt, da ihr Antrieb als „Fackel“ bezeichnet wird. „Die Flamme reiten“ bedeuten also auch, mit einem Fackelschiff zu reisen. Die Flamme ist aber auch die des Bewusstseins, des Egos, das in der Lage ist, eine neue Realität zu erschaffen. Darin besteht der ultimative Sinn der Sternenreise.
Unterm Strich
In einem dialektischen Dreischritt bewegt sich die Hauptfigur der Geschichte von der These zur Antithese, gerät in eine existentielle Sinnkrise und muss versuchen, eine Synthese aus diesen beiden widersprüchlichen Aussagen zu erschaffen. Wie ihm dies gelingt, begründet der Autor nicht, sondern zeigt es anhand des Senso-Stücks „Flammenritt“.
Dialektik
Ich begriff stets, was der Autor mir sagen wollte und konnte so der Handlung problemlos folgen. Natürlich ist von Thesen und Dialektik nicht die geringste Rede, wohl aber von Mandalas und ähnlichem fernöstlichen Schnickschnack, der anno 1974 noch ziemlich en vogue war, zumal unter Kritikern der bürgerlichen Gesellschaftsform (die ja leider letzten Endes die Oberhand behielt).
Die Aussage ist wertvoll und anrührend: Diese unsere Erde, sollte sie vernichtet werden, ist und bleibt unsere letzte Hoffnung. Es sei denn, es gelingt den Treckern einen Sinn für ihre Generationenreise zu finden, der zwei widersprüchliche Realitäten miteinander in Einklang bringt. Diesen Sinn zeigt Jofes zweites Senso-Stück auf, und zwar auf recht unterhaltsame Weise.
Die Rolle des Künstlers
Die unausgesprochene zweite Aussage besteht in der Definition der Rolle des Künstlers. Wie kann es ihm gelingen, zwei widersprüchliche Realitäten in seinem Verstand zusammenzubringen, ohne dem Wahnsinn zu verfallen? Wozu muss solch ein innovativ denkender, fühlender Künstler in der Lage sein? Die erste Antwort lautet „Immersion“. Er muss in die Realität der Antithese „eintauchen“, also in diesem Fall „Raumtaucher“ werden und die Leere erfahren.
Die zweite Antwort ist Selbstbehauptung, wie mir scheint. „La réalité, c’est moi!“ ist der Leitspruch für den Künstler, der die Rolle eines neuen Hiob spielt. Und diese beiden Aspekte soll der Künstler, der die geänderte Realität interpretiert, integrieren. Auf das heute übertragen, bedeutet dies wohl, dass sich der Künstler der sich ständig wandelnden Realität stellen muss, sich hinauswagen muss wie beim Bungee-Jumping – um dann mit seiner individuellen Sicht eine neue bzw. erweiterte Wahrheit mitteilen zu können.
Dieser Künstler ist nicht nur Seher und Prophet, sondern vor allem Erforscher und Erkunder, der mit den Mitteln seiner Kunst versuchen muss, die Herzen der Menschen zu erreichen. Dies muss er unbedingt tun, weil er sie liebt und ihre Zukunft ermöglichen will. Fehlt diese Liebe, dann ist seine Kunst nur Selbstbefriedigung, so wie jene, die Jofes Freundin Jiz praktiziert.
Man sieht also: In diesem relativ kurzen Stück SF-Prosa stecken eine Menge Ideen, die man trefflich diskutieren kann. Denn wir alle befinden uns auf einem Treck – auf einem nassen Felsbrocken, der sich mit irrer Geschwindigkeit in einem Sonnensystem dreht, das sich mit noch größerer Geschwindigkeit einem weit entfernten Sternbild nähert. MONTY PYTHON haben dazu einen wunderbaren Song geschrieben.
Der Autor vergibt:
Taschenbuch: 127 Seiten
Info: Riding the Torch, 1974
Übersetzung aus dem Englischen von Birgit Ress-Bohusch.
ISBN-13: 978-3404230037
www.luebbe.de
Der Autor vergibt: