Kem Nunn – Giganten – Wo Legenden sterben

„Surf-Roman“ – so manch einen dürfte schon allein die Bezeichnung an sich mehr als abschrecken, malt man sich doch als unbedarfter Leser beim Klang dieses Begriffs in seiner Phantasie vermutlich Bilder von sonnengebräunten Mädels im Bikini und muskulösen Jungs mit Surfbrettern unterm Arm aus. Dazu ein sonnenbeschienener Strand irgendwo in Kalifornien, eine sanfte Briese und im Hintergrund leises Gedudel von den Beach Boys – fertig ist das Klischee. Und ehe man sich versieht, ist man auch schon ganz zielstrebig an all dem vorbeigerauscht, was den so genannten Surf-Roman „Giganten – Wo Legenden sterben“ von Kem Nunn ausmacht.

Mit Klischeedenken solcherlei Art kommt man bei Kem Nunn nicht weit. Zugegeben, der deutsche Titel des Romans mutet so an, als wäre eher das Gegenteil der Fall, aber dafür kann der Autor ja nichts. Im englischen Original heißt der Roman „The Dogs of Winter“, was die im Surfjargon recht poetisch anmutende Umschreibung der kalten, großen Wellen ist, die im Norden Kaliforniens an die winterlichen Strände rollen. Bei der Erstausgabe des |DuMont|-Verlags wurde daraus „Wo Legenden sterben“, was der Heyne-Verlag zur Taschenbuchausgabe noch um ein reißerisches „Giganten“ ergänzt hat.

Was die Romane von Kem Nunn ausmacht, lässt sich am ehesten in den Worten der |Saturday Review| wiedergeben, die schreibt, dass Kem Nunn in etwa das für das Surfen tut, was Hemmingway seinerzeit für das Fischen getan hat. Nunn zieht den Leser tief in die Handlung hinein und lässt den Leser begreifen – all das dank seines großartigen Einfühlungsvermögens.

Überhaupt hat Kem Nunn für seinen Debütroman „Tapping the Source“ (zu deutsch „Wellenjagd“) viel Lob geerntet – und das aus der Literaturkritik und nicht aus der Surfszene, wohlgemerkt. Er wurde für den |American Book Award’s Best First Fiction| nominiert und wurde von Kritikern schon mit so klangvollen Namen wie Raymond Chandler, Don DeLillo und Nathanael West in einen Topf geschmissen. Das deutet schon an, dass hinter Kem Nunns Romanen doch mehr steckt, als die klischeebehaftete Bezeichnung „Surf-Roman“ vermuten lässt.

„Wo Legenden sterben“ ist ähnlich vielschichtig angelegt, wie es auch schon Nunns Debütroman war. Es geht nicht nur ums Surfen, auch wenn dieser Teil der Handlung natürlich eine wichtige Rolle spielt. Dennoch geht es Nunn ganz offensichtlich in erster Linie um die Menschen – um Menschen und Leidenschaften. Bei „Wo Legenden sterben“ steht vor allem ein Mensch im Mittelpunkt: Drew Harmon.

Früher als Surflegende gefeiert, ist der begnadete Big-Wave-Surfer in den letzten Jahren völlig von der Bildfläche verschwunden. Bis er sich eines Tages an den Herausgeber einer Surfzeitschrift wendet, mit dem Stoff für eine Riesenstory: Er behauptet, den legendärsten „Secret Spot“ Kaliforniens gefunden zu haben – „Heart Attacks“, eine Stelle, an der sich bis zu zehn Meter hohe Wellen brechen. Zusammen mit dem abgehalfterten Surf-Fotografen Jack Fletcher trifft er sich im Norden Kaliforniens, um die „Heart Attacks“ ins Visier zu nehmen.

Fletcher ist ein Fotograf, der genau wie Harmon seine legendären Jahre hinter sich hat. Früher war er einer der Stars der Szene, heute führt er ein armseliges Dasein, im Schatten der guten alten Zeit. Zusammen mit zwei jungen Profisurfern soll Harmon nun die Wellen der „Heart Attacks“ reiten, während Fletcher das Bildmaterial liefert.

Doch schon beim ersten Ausflug ins Meer geht einiges schief. Die Mission steht auf der Kippe und es gibt Spannungen innerhalb der Gruppe. Der sagenumwobene „Secret Spot“ liegt mitten im Indianerland und die Einheimischen sind nicht gerade erbaut über die Ankunft der Surfer. Umwelt, Mitmenschen – alles scheint feindlich gesinnt zu sein, und innerhalb der Gruppe verfolgt jeder seine eigenen Ziele. Am Ende jedoch zählt nur noch das nackte Überleben …

Kem Nunn setzt in „Wo Legenden sterben“ auf eine Mischung, die für viele Spannungspunkte sorgt. Er spinnt seine Erzählung über mehrere Ebenen, gliedert die Geschichte in mehrere Handlungsstränge auf und verknüpft im Finale alles gekonnt zu einem stimmigen großen Ganzen.

Das Thema Surfen nimmt nur den einen Teil des Plots in Anspruch, im anderen Teil geht es vor allem um die Problematik, die das alltägliche Leben der amerikanischen Ureinwohner mit sich bringt. Streckenweise spielt der Roman auf Reservatsgelände, wo ganz eigene Regeln herrschen und wo die Menschen ein ganz anderes Empfinden für Recht und Ordnung haben. Nunn lässt die beiden unterschiedlichen Kulturen aufeinander prallen. Diese Konfrontation birgt viel Spannung in sich. Er verwebt Indianermythen, Surflegenden und die harte Realität des alltäglichen Lebens zu einem überaus stimmigen Plot.

Kem Nunns Romane lassen sich wohl am ehesten mit dem Begriff „Surf Noir“ umschreiben. Genau wie zuvor auch schon „Wellenjagd“, zeichnet sich auch „Wo Legenden sterben“ durch eine recht düstere Grundstimmung aus. Nunn lässt den Leser in das Innerste seiner Protagonisten blicken und offenbart die dunklen Abgründe der Seele. Vor dem Hintergrund der sonnigen Surfgebiete Kaliforniens und den weißen Stränden der Pazifikküste entsteht daraus ein kontrastreiches Spiel.

Zusätzliche Spannung baut Nunn durch den eingeflochtenen Krimiplot auf. Parallel zum Haupthandlungsfaden entrollt sich die Geschichte eines Verbrechens, das seinen Schatten über die Figuren wirft. Man spürt als Leser, wie alles seinem unvermeidlichen düsteren Höhepunkt entgegenläuft, wie die Protagonisten auf die finale Konfrontation hinarbeiten, und das trägt enorm zur Spannung bei.

Zwischen all den ausgefeilten psychologischen Spielchen, die Nunn mit seinen Figuren betreibt, widmet er sich auch immer wieder ausgiebig dem Surfen. Dabei wird mit einer Menge an surfspezifischem Vokabular jongliert: Breaks, Line-ups, Swell, Set und Inside-Grinders. Manches davon erschließt aus dem Zusammenhang (zumindest erging es mir so, da ich mir einige Begriffe dank meiner Snowboard-Erfahrungen ableiten konnte), vieles bleibt aber auch ein wenig mysteriös. Ein Glossar, das die wichtigsten Begriffe übersetzt, wäre daher eine nette Geste gewesen.

Dennoch sind die Surf-Passagen des Buches nicht uninteressant. Nunn schildert all das sehr bildhaft und intensiv. Es ist unheimlich schwer, mit Worten zu beschreiben, was das Surfen ausmacht, dessen bin selbst ich mir aufgrund meines lediglich auf Surf-Videos basierenden Erfahrungshorizontes in Sachen Wellenreiten bewusst, aber Kem Nunn schafft es ganz gut, dies dem Leser in gewisser Weise begreiflicher zu machen. Natürlich wird das kaum jemanden interessieren, der nicht zumindest ein irgendwie geartetes Grundinteresse am Surfen hat und sei es auch nur in der abgewandelten Form auf Asphalt oder Schnee, aber wer sich anhand von „Wo Legenden sterben“ mal näher damit befasst, der bekommt tatsächlich einen etwas tiefer schürfenden Einblick – und der fällt gleichermaßen unterhaltsam wie spannend aus.

Auch sprachlich ist „Giganten – Wo Legenden sterben“ ein absoluter Genuss. Anders als der verhunzte Titel des Heyne-Verlags vermuten lässt, liest sich das Ganze nicht wie ein billiger Schundroman. Nunn formuliert sprachlich durchaus anspruchsvoll. Er schreibt sehr bildhaft und gleichermaßen schlicht wie wortgewaltig. Seine Beschreibungen sind treffend, seine Schilderungen der Figuren lebhaft und der ganze Roman ist außerordentlich atmosphärisch. Nunn versteht es vorzüglich, den Leser zu fesseln und tief in den Plot zu ziehen.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass sich hinter dem Buch mit dem unscheinbaren Titel eines klischeebehafteten Schundromans eine sehr vielschichtige und spannende Lektüre verbirgt, die mit einer Menge Tiefgang und interessant skizzierten Figuren daherkommt. Wer dann noch ein gewisses Grundinteresse am Thema Surfen mitbringt, der findet in Kem Nunns Romanen vorzügliche Unterhaltung und dürfte an „Wo Legenden sterben“ ebenso viel Freude haben wie an Nunns Erstlingswerk „Wellenjagd“. Für mich sind beide Romane gleichermaßen gelungen und einprägsam.

Taschenbuch: 416 Seiten
www.heyne.de