Chad Oliver – Brüder unter fremder Sonne

Der Alien-Livingstone: der Weg zur Verständigung

Auf dem neunten Planeten der Sonne Sirius stößt die Expedition der Vereinten Nationen zur ihrem Erstaunen auf menschenähnliche Wesen. Der Anthropologe Monte Stewart wird beauftragt, diese Wesen zu untersuchen und „Beziehungen zu ihnen aufzubauen“. Doch vor Ort wird das Lager von den Merdosi angegriffen. Was haben Stewart und sein Team falsch gemacht? Er muss alles auf eine Karte setzen – mit seinem Leben als Einsatz …

Der Autor

Chad(wick) (Symmes) Oliver, geboren 1928 in Cincinnati, Ohio, studierte Englisch und Anthropologie in Texas und promovierte in Los Angeles mit einer Arbeit über Anthropologie. Er hielt sich danach zu Forschungsarbeiten in Kenia auf. Sein erster Roman war „Mists of Dawn“ (1952). Sein wohl bestes Werk ist „Brüder unter fremder Sonne“ („Unearthly Neighbors“, 1960).

„Shadows in the Sun“ (1971, dt. Titel: „Die vom anderen Stern“) und „The shores of another sea“ (1971, dt. Titel: „Die Affenstation“) schildern ähnliche Schwierigkeiten beim Kontakt mit fremdartigen Kulturen: Im ersten Roman erweist sich eine texanische Stadt als getarnte Kolonie von Aliens, im zweiten geht es um eine extraterrestrische Invasion in Afrika und anschließende Kommunikationsversuche. Die deutschen Kritiker loben besonders Olivers Fähigkeit, anthropologische Theorien detailliert auszudenken und überzeugend in Literatur umzusetzen, auch wenn es ihm an thematischer Breite fehlen mag. Im angelsächsischen Raum, wo die naturwissenschaftliche SF dominiert, sehen ihn die Kritiker als stark unterbewertet an.

Handlung

Monte Stewart lebt glücklich und zufrieden als Professor der Anthropologie in Denver, Colorado, als ihn der Ruf des Schicksals ereilt. Mark Heidelman, die rechte Hand des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, besucht ihn und seine Frau Louise. Er zeigt Monte ein paar 3D-Fotos vom neunten Planeten des Sirius, wo die jüngste Expedition der Vereinten Nationen auf menschliche Wesen gestoßen sei. Nach Montes Theorie besteht dafür nur eine Chance von eins zu einer Million. Aber die Fotos und später die Filmaufnahmen überzeugen ihn davon, dass es sich wirklich um humanoide Wesen handelt. Aber seltsamerweise sind sie nackt, haben keine Häuser, keine Waffen und natürlich auch keine Städte.

Er nimmt den Auftrag an, mit seiner Frau Louise und einem ausgewählten Team von Wissenschaftlern zum Sirius zu fliegen. Darunter sind Biologen, Linguistiker – und ein Streithahn, der absolut nichts als gegeben hinnimmt: Don King. Mit einem überlichtschnellen Sternenschiff brausen sie zum Sirius. Es gelingt dem Sprachwissenschaftler Charlie Jenike kaum, die Sprache der Humanoiden zu entschlüsseln. Das ändert sich vor Ort.

Auf einer Waldlichtung schlagen sie ihr Lager auf, als wären sie hier zu Hause. Nach vierzehn Tagen erst gelingt der erste Kontakt. Es ist ein alter Mann, und er hat das Kommando über ein wolfsähnliches Wesen, das ihm das angebotene Fleisch apportiert. Doch eine Kommunikation kommt nicht zustande. Stewart ist frustriert, aber seine Louise und seine Tabakspfeife trösten ihn.

Als nächstes finden sie eine Begräbnisstätte mit Knochen eines Merdosi, doch Stewart verbietet dem Archäologen, Don King, die Knochen näher zu untersuchen. Das könnte als Entweihung und Frevel aufgefasst werden. Dann wird ein Dorf gesichtet, und die wichtigsten Wissenschaftler fliegen hin. Mit Hilfe eines alten Mannes kann der Linguist seine Sprachkenntnisse vervollständigen. Zu spät fällt Stewart auf, dass er einen kapitalen Fehler gemacht hat: Im Dorf ist kein einziger kampffähiger Mann!

Auf schnellstem Wege rasen sie zurück zum Lager, doch es ist zu spät. Neben den Leichen von Wölfen finden sie auch die leblosen Körper dreier Gefährten: Unter ihnen ist auch Louise. Don King und Janice konnten dem Angriff entkommen und finden den Weg zurück. Der trauernde Stewart ist von Trauer und Wut erfüllt, die sein rationales Denken hinwegspülen. Als einer der Männer der Merdosi sich zeigt, erschießen er und Charlie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Sieht so vielleicht vernünftige Anthropologie aus? Stewart verzweifelt an sich selbst. Alle müssen zum Sternenschiff zurückkehren.

Doch muss deshalb die ganze Expedition als gescheitert gelten? Stewart sagt sich: nein. Und zusammen mit Charlie Jenike, dem Linguisten, tüftelt er einen Plan aus, der vernünftig aussieht. Doch was heißt schon „vernünftig“, wenn man mit Träumen angegriffen wird?

Mein Eindruck

Wie sich herausstellt, kommunizieren die Merdosi mit Hilfe von Telepathie und Gefühlsübertragung (Empathie). Im Vergleich dazu ist die menschliche Kommunikation mit Hilfe von Worten eine armselige Krücke. Es gibt im Buch nur eine Ausnahme von dieser Regel: Stewart selbst. Er hat mit seiner Frau Louise in 18 Ehejahren eine Art wortlose Verständigung erzielt, die an Telepathie grenzt. Wahrscheinlich ist er deshalb der Einzige, der bei der zweiten Expedition nicht komplett den Verstand verliert, als er und sein Kollege Charlie Jenike mit Träumen angegriffen werden. Sie gehen einander sogar an die Kehle, doch die folgende Ernüchterung ist nicht von langer Dauer …

Es ist schon erstaunlich, durch welche Entwicklungsstufen der Autor seine Hauptfigur schickt, bis es so etwas wie Verständigung gibt. Stewart muss zum Neanderthaler werden, zum Steinzeitmenschen. Dann erst begreift er in der Begegnung mit Volmay, um was es in den Träumen der Merdosi geht: die Öffnung des Selbst, die Vertrauen schafft, das wiederum die Grundlage jeder Verständigung bilden muss. Er muss den Merdosi seinen Verstand öffnen.

Diese psychologische Entwicklung gipfelt in einem inneren Monolog, in dessen Verlauf Stewart auch die Blickwinkel von Angehörigen der Merdosi einnimmt. Er sieht sich selbst in einem anderen Licht. Erst dann weiß er, was zu tun ist. Aber die Öffnung eines Bewusstseins ist nicht nur ein Blick hinein, sondern auch eine Übertragung. Auf diese Weise entwickeln die Merdosi erstmals Pfeil und Bogen. Und wer weiß, vielleicht bleibt es nicht dabei. Stewart muss den Eingeborenen auch vor den Gefahren der Gewalt warnen. Die Gefahr besteht, doch er schätzt die Chancen höher ein.

Ob seine Arbeit als Dr. Livingstone der Merdosi Früchte trägt und sie mit den Menschen Freunde werden, hängt ganz von der Rückkehr des Sternenschiffs ab. Wird sie Freunde bringen – oder Soldaten?

Die Relativität des Menschseins

Der Autor macht in seiner Geschichte deutlich, dass es nicht einfach zu definieren ist, was einen Menschen ausmacht. Auch der Neanderthaler war ein Mensch, und doch hätten wir heute erhebliche Schwierigkeiten, mit ihm eine Verständigung aufzubauen. Dieser Prozess der Erkenntnis muss, wie Stewarts Entwicklung zeigt, durch einen Vorgang der Selbsterkenntnis ergänzt werden. Wer wollte bestimmen, wer menschlicher sei: wir oder der Neanderthaler?

Vielleicht haben wir uns ja inzwischen durch Überfeinerung so weit von den Wurzeln des Menschseins entfernt, dass wir schon gar nicht mehr den hohen Stellenwert von Träumen wahrnehmen oder anerkennen wollen. Freud hat uns gezeigt, dass Träume vieles bedeuten, ja, dass sie zu einem großen Teil unser Bewusstsein beschäftigen, und nicht so sehr das so hoch geschätzte „rationale Denken“. Die Wahrheit, die Stewart (wieder-)entdeckt: Wir sind nichts ohne unsere Träume. Wäre es nicht schön, wenn wir sie direkt übertragen könnten? Bob Dylan: „You can be in my dream if I can be in yours.“ Das meinte er wahrscheinlich nicht ohne witzige Hintergedanken.

Unterm Strich

Dass Science-Fiction nicht immer mit Raumschiffen und seltsam gekleideten Leuten zu tun haben muss, zeigen Romane von schreibenden Vertretern der so genannten „weichen“ Wissenschaften. Chad Oliver ist ein ausgezeichneter Anthropologe, der zudem fesselnd zu erzählen weiß. Weitere solche schreibenden Wissenschaftler sind u. a. Ursula K. Le Guin (Literaturwissenschaft, aber Tochter eines Anthropologen) und C. J. Cherryh (eine Historikerin). Beide setzten die erkenntnisorientierte Methode in packenden und erstaunlichen Romanen und Erzählungen um, die bis heute als führend im SF-Genre gelten.

Lesetipp

Der Autor, der mir als Erster in den Sinn kam, als ich Olivers Roman las, war jedoch Michael Bishop. Er hat sich viele Male mit dem unerkennbaren Anderen auseinandergesetzt, als Erstes 1979 in „Tod und Bestimmung unter den Asadi“, eine Novelle, die in den Roman „Transfigurationen“ eingebaut wurde, den ich für sehr wichtig halte. Weitere gelungene anthropologische Werke sind „Nur die Zeit zum Feind“ (1982, Nebula Award) sowie „Ancient of Days“ (1985, dt. bei |Heyne| als „Das Herz eines Helden“).

Chad Olivers Roman, den er später überarbeitete, ist sehr kurz: nur 140 Seiten. Und doch vermag er eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Verständigung mit anderen kann es nur geben, wenn beide bereit dazu sind und sich beide selbst erkennen. Der Schluss, den der Autor dem Abenteuer Stewarts verleiht, ist sehr tröstlich und für meinen Geschmack zu beschönigend.

Taschenbuch: 144 Seiten
Originaltitel:Unearthly neighbors, 1960 (revidiert 1984)
Aus dem US-Englischen von Werner Kortwich.
ISBN-13: 9783453304857 (Ausgabe 1977)

www.heyne.de

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