Anthony O’Neill – Der Hüter der Finsternis

Im schottischen Edinburgh geht ein Gewalttäter um, der Lebende wie Tote in Stücke reißt. Ein verbitterter Gelehrter und ein Totengräber kommen einer Geheimgesellschaft auf die Spur, die gute Kontakte zum Höllenfürsten Luzifer unterhält – … Mystery wird hier mit dem Historienkrimi gekreuzt; entstanden ist ein unterhaltsamer und durchaus anspruchsvoll konstruierter Roman, der zu den Glanzstücken seiner Gattung gehört.

Das geschieht:

In der schottischen Metropole Edinburgh wütet in diesem Jahr 1886 eine Bestie mit unmenschlichen Kräften. Zwei unglückliche Schotten hat sie zerfetzt und zerfleischt, einen dritten aus seinem Grab gezerrt, in dem er seit Jahren ruhte. Leider wird die Polizei der Stadt vom stellvertretenden Chefinspektor Carus Groves geleitet, dem mehr an seinem Ruhm als an der Aufklärung von Kriminalfällen liegt. Dennoch konsultiert Groves die junge Evelyn Todd, als diese behauptet, über das Zweite Gesicht zu verfügen, denn ihm sitzt der Bürgermeister im Nacken, der endlich Ergebnisse sehen will. Außerdem kennt Evelyn ein interessantes Detail: An den Schauplätzen seiner Untaten hinterlässt der Täter eine kryptische Nachricht, die den Gemeuchelten ein altes Verbrechen vorwirft.

Inzwischen werden an anderer Stelle der Stadt zwei ungleiche Männer in den Fall gezogen. Thomas McKnight, Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Edinburgh, ist ein einsamer, verarmter, zutiefst verbitterter Mann, dessen Zynismus ihn zusätzlich von seiner Umgebung isoliert. Ausgerechnet in dem jungen, gesellschaftlich tief unter ihm stehenden aber überaus intelligenten Totengräber Joseph Canavan hat er einen Freund gefunden.

Gemeinsam kommen die Gefährten der „Spiegelgesellschaft“ auf die Spur, einem geheimen Orden, der sein obskures Ziel einer ‚sündenfreien‘ Welt mit Hilfe okkulter Praktiken verfolgt. Ein Opfer ihrer grotesken ‚Experimente‘ ist offenbar Evelyn Todd, die sich nur dunkel einer entsetzlichen Kindheit im längst niedergebrannten Fountainbridge-Waisenhaus erinnert, wo es ganz sicher nicht mit rechten Dingen zuging. Womöglich ist sie geisteskrank und selbst der Ursprung des Übels, das sie ahnungslos über die Stadt bringt, sinniert McKnight, doch dann stellt sich heraus, dass diesem Fall mit Logik nicht beizukommen ist und den Gefährten stattdessen ein Abstieg in die Tiefen der Hölle bevorsteht …

Historische ‚Realität‘ im unterhaltsamen Zwielicht

In Schottland spukt es bekanntlich seit jeher mächtig. Das trifft auf die Highlands ebenso zu wie auf die wenigen Städte, die auf historischem und meist verfluchtem Boden errichtet wurden. Edinburgh trifft es besonders hart, denn hier waren und sind Schriftsteller ansässig, die sich gern und kundig mit den dunklen und übernatürlichen Aspekten des kommunalen Alltagslebens beschäftigen. Der Bogen spannt sich zeitlich von Sir Walter Scott bis Ian Rankin, und nunmehr muss man auch Anthony O‘Neill – obwohl in Australien geboren und weiterhin dort lebend – in diese erlauchte Runde aufnehmen. Der noch junge Autor legt mit „Der Hüter der Finsternis“ einen in jeder Beziehung fabelhaften Roman auf der Grenznaht zwischen Krimi und Phantastik vor.

„Crime & Mystery“ nennen die Angelsachsen dieses Genre, und sie lieben es sehr. Hierzulande schätzt man eher Romane, die sich thematisch in nur eine Schublade stecken lassen, doch Schriftsteller wie O’Neill könnten für Abhilfe sorgen. ‚Sein‘ Edinburgh ist eine Stadt zwischen Mittelalter und Moderne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben industrielle Revolution und Aufklärung auch Schottlands Hauptstadt erreicht, sie wachsen und sich verändern lassen. Gerade werden die Gasleuchten durch elektrische Laternen ersetzt; die Lampenanzünder werden bald der Vergangenheit angehören.

Die Kunst der (drastischen) Andeutung

Für die bestialischen Morde an diversen Würdenträgern wird ein wahnsinniger Täter verantwortlich gemacht, wobei Wahnsinn als Geisteskrankheit definiert wird. Doch die Schicht der Rationalität ist noch sehr dünn. Darunter haben sich Relikte einer ganz und gar unaufgeklärten Vergangenheit prächtig erhalten. Schon bald hält Inspektor Groves Evelyn Todd für eine Hexe, die er gern wie in der guten, alten Zeit auf der Folter ‚befragen‘ würde. Auch Professor McKnight kommt ins Grübeln, als ihm auf offener Straße ein leibhaftiger Drache begegnet …

O‘Neills Kunst besteht aus der Vermeidung der meisten Klischees, in denen viele phantastische Romane verenden. Sie lassen das Grauen allzu leibhaftig auftreten und geben es dadurch in der Regel der Lächerlichkeit preis. Hier wählt der Verfasser einen ungewöhnlichen Weg, den man freilich nicht rühmen kann, ohne dem Leser allzu viel über die Geschichte zu verraten. Solche Vorabaufklärung verdient sie nicht, denn sie ist gut und in ihrer Auflösung durchaus unkonventionell.

Vor allem stellt sie des Lesers Verstand auf eine gewisse Probe, denn die metaphysischen Einschübe, in denen sich Professor McKnight so gern verliert, gibt der Verfasser nicht ohne Grund in voller Länge wider: Sie bilden den Schlüssel zu dem eigenwilligen Konzept, das O‘Neills Version des „Exorzisten“ zu Grunde liegt. Seine Version der Hölle und des Teufels ist ebenso einleuchtend wie erstaunlich. Darüber hinaus ermöglicht sie ein weites Spektrum farbenfroher Spezial- und Splatter-Effekte, die als solche sonst recht albern wirken würden.

Masken und Mummenschanz

Durch O‘Neills Schauerspiel bewegen sich interessante Figuren, deren Tun und Treiben der Leser gern folgt. Fern jeglichen Klamauks gelingt dem Verfasser mit Carus Groves eine Gestalt, die gleichzeitig liebenswert und lächerlich ist. Die Polizei ist vor allem im klassischen Kriminalroman notorisch unfähig und wird gern als Hort nützlicher Trottel dargestellt, die höchstens zum Absperren eines Tatorts taugen. Auch Groves ist ein Mann beschränkten Talents und intellektuell keine Leuchte. Aber er hat Ehrgeiz und sieht sich selbst in hellem Licht. Sorgfältig führt er Buch über seine Arbeit, die bereits ein Entwurf für seine späteren Memoiren sind, mit denen er taktisch gut geplant auf den Buchmarkt will, sobald er endlich berühmt geworden und den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft hat, nach dem er sich so sehnt.

Um kein Risiko einzugehen, formuliert er das tatsächliche Geschehen in seinem Sinne um, eliminiert Fehler und hebt seine eigene Rolle dort hervor, wo kluge Entscheidungen getroffen wurden. Der gar nicht so dumme Groves ist folglich ein Mensch, der die Bedeutung der Medien und ihr Potenzial bereits sehr gut begriffen hat.

Thomas McKnight und Joseph Canavan verkörpern aus guten Gründen – erneut darf der Rezensent nicht deutlich werden – die Vernunft und das Mitgefühl. Sie stehen außerhalb der arg verkrusteten Gesellschaft und können deshalb hinter die Kulissen blicken. Dass sie dabei Dinge entdecken, die an der Ordnung der Dinge rütteln, überrascht sie ebenso wie den Leser, der bereits eine finale Lösung im Stil der „Oh-wie- ungerecht-ist-die-Welt!”-Reißbrett-Thriller der Anne Perry gefürchtet hat.

Evelyn Todd stellt den Dreh- und Angelpunkt unserer Geschichte dar. Sie ist Opfer eines ungewöhnlichen Verbrechens und Täterin zugleich. Diese Dualität weiß O‘Neill gut herauszuarbeiten und sein Publikum doch über Todds währe Rolle im Dunkeln zu lassen; wir Leser tappen dort ohnehin herum und stellen letztlich erfreut fest, dass wir vorzüglich an der Nase herumgeführt wurden.

Autor

Anthony O‘Neill ist irisch-australischer Herkunft und wurde 1964 in Melbourne geboren. Er gehört zu jenen Autoren, die das Klischee einer Schriftstellerlaufbahn erfüllen, d. h. schon früh ‚wissen‘, dass sie schreiben wollen, während wohlmeinende Verwandte, das Arbeitsamt und anderen Banausen sie zu ‚richtiger‘ Arbeit drängen. Dies führt dazu, dass sich die O’Neills dieser Welt durch eine lange Reihe seltsamer bis entwürdigender Underdog-Jobs hangeln müssen, bevor sie endlich durch Erfolg belohnt werden; in diesem Fall geschah dies 2001, als O’Neill mit „Scheherazade“, einer eigenwilligen Version von „1001 Nacht“, der literarische Durchbruch gelang. Der Verfasser lebt heute in einem Ort namens Murrumbeena im australischen Bundesstaat Victoria.

Taschenbuch: 443 Seiten
Originaltitel: The Lamplighters (New York : Scribner 2003)
Übersetzung: Marion Sohns
http://www.luebbe.de

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