Orson Scott Card – Abyss – In der Tiefe des Meeres (Romanfassung)

Tiefsee-Thriller mit Bonusmaterial

In der Tiefe der Karibischen See zerschellt unter mysteriösen Umständen ein Atom-U-Boot der US-Marine. Ein Spezialisten-Team der Navy und die Männer und Frauen einer Bohrstation versuchen, den nuklearen Sprengkopf zu sichern und stoßen dabei auf rätselhafte Wesen aus der Tiefe… (abgewandelte Verlagsinfo)

Dieser Roman zum Film ist insofern ungewöhnlich, weil er sich am Endschnitt des Films orientiert, nicht am Originaldrehbuch des Regisseurs James Cameron. Dazwischen liegen Welten. So erfahren wir endlich, was es mit den Aliens aus der Tiefe auf sich hat und welche Vorgeschichte die wichtigsten Figuren dieses Drama haben. Außerdem findet sich jede Zeile des Filmdialogs auch im Buch wieder. Und endlich wird auch klar, warum Buddy Lindsey liebt. Es wird im Drehbuch nämlich nicht erklärt, wie der Autor im Nachwort schreibt.

Hinweis

Mein Bericht konzentriert sich auf die neuen Informationen und SETZT DEN FILM ALS BEKANNT VORAUS.

Der Autor

Orson Scott Card wurde 1951 in Richland, Washington, geboren. Er erlangte einen legendären Ruf im Science-Fiction-Genre, als er mit den ersten beiden Bänden der ENDER-Serie zweimal hintereinander den Hugo- und den Nebula-Award gewann.

Er hat bislang über 40 Romane geschrieben, etliche Kurzgeschichten, ein Dutzend Theaterstücke, ein Musical, hunderte von Hörspielen und mehrere Drehbücher für Videospiele. Sein umfangreiches Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, er selbst kommt des Öfteren zu Conventions in Europa. Und er hat, wie man hört, es geschafft, dass Andreas Eschbachs Roman „Die Haarteppichknüpfer“ im April 2005 in den USA erscheint – im Hardcover.

Er ist Vater von sechs Kindern , von denen eines an Zerebralparese starb. Heute lebt er mit seiner Frau Kristine und seiner jüngsten Tochter in Greensboro, North Carolina. Zwischenzeitlich stand er der „Kirche der Heiligen der letzten Tage“ (vulgo: Mormonen) nahe, hat sich aber inzwischen von ihr abgewandt. Aber es erklärt, warum er sich mit allen, selbst den obskursten Büchern der Bibel (Neues und Altes Testament sowie die Apokryphen) hervorragend auskennt.

Handlung

Buddy Brigman

Virgil „Buddy“ Brigman verliert seinen Bruder durch seine eigene Dummheit. Bud, sein Bruder Junior und dessen Kumpels feiern eine kleine Strandparty, als Bud etwas abseits in die Brandung am Strand von South Carolina geht und sofort von der starken Strömung mitgerissen wird. Binnen Minuten kämpft er in offenem Wasser um sein Leben, bevor Junior merkt, was los ist. Buddy sieht noch, wie Junior sich ebenfalls in die tückische Brandung stürzt, bevor er fast versinkt. Ein Fischerboot fischt ihn gerade noch heraus, doch Junior ist von der See verschlungen worden. Buddy gibt sich die Schuld und hat fortan einen Horror vor dem Ertrinken. Dennoch heuert er ausgerechnet auf einer Bohrinsel unter dem Meer an. Und das liegt an Lindsey Brigman, seiner Ehefrau.

Lindsey Brigman

Lindsey ist die einzige Tochter von Catherine Mary di Angeli, verheiratete Thomas, die aus der Art schlägt. Cathy hat ihre Töchter nach der amerikanischen Norm erzogen, nicht nach der italienischen ihrer Mutter, und sie alle gut verheiratet. Doch Lindsey ist der Liebling ihres Vaters und will Dinge BAUEN – hat man sowas schon gehört! Ihr Vater ist ein Ingenieur bei Xerox, hat aber auf seinem Speicher das Modell einer Hängebrücke, das er selbst entworfen und gebaut hat. Kaum hat die neunjährige Lindsey es erblickt, will sie wissen, wie es funktioniert und wie man so etwas baut.

Ihr Vater, einziger Mann in einem Weiberhaushalt, ist entzückt über diesen weiblichen Bruder im Geiste und fördert sie nach Kräften. Lindsey ist unaufhaltsam in ihrem Wissensdurst und ihrer Entschlossenheit, sich durch keinerlei Vorurteile von ihrem Traum abhalten zu lassen, bahnbrechende Erfindungen im Ingenieurwesen zu machen.

Deepcore

Ihre größte Errungenschaft ist die Konstruktion und der Bau der Unterwasser-Bohrstation „Deepcore“. Diese wird zwar vom Versorgungsschiff „Benthic Explorer“ versorgt, kann aber in 700 Metern Tiefe selbständig agieren. „Deepcore“ ist mit drei Unterwassertauchbooten sowie zwei ferngesteuerten Robotern, Big Geek und Little Geek, ausgestattet. Die Besatzung besteht natürlich aus Zivilisten, und Buddy Brigman mit seinem guten Händchen für Personal-Management hat die schrägen Typen ausgesucht, deren Vorarbeiter er ist. Gemeinsam mit ihm hat Lindsey, die ihn heiratete, den Betrieb von „Deepcore“ aufgebaut und dirigiert ihn jetzt von Houston, Texas, aus. Die Sturheit und Dickköpfigkeit Lindseys hat die Ehe zum Scheitern gebracht – so sieht er es jedenfalls. Aber noch sind sie nicht geschieden.

Lt. Hiram Coffey

Hiram Coffeys Vater verschwand schon früh von der Bildfläche des Jungen, und fortan hatte seine Mom das Sagen. Weil er sah, wie sie sich als alleinstehende Mutter für ihn abrackerte, tat er schon bald alles, was er konnte, um sie zufriedenzustellen und um ihr zu helfen. Was sie nicht befahl, tat er auch nicht. Alles ging gut, bis ein jugendlicher Rowdy namens Darrel Woodward es auf ihn abgesehen hatte und obendrein die Nachbarschaft terrorisierte. Eines Nachts schlug ihm Hiram Coffey einen Kohlebrocken über den Schädel und verschwand. Niemand wusste, wer für den plötzlichen Schwachsinn Woodwards verantwortlich war, doch fortan herrschte Ruhe im Viertel.

Doch als Hiram 17 war, heiratete seine Mutter wieder und er fühlte sich von ihr verraten. Die Navy nahm ihn in ihre Arme und er hatte wieder jemanden, dem er aufs i-Tüpfelchen gehorchen konnte. Er wurde in die Elitetruppe SEAL (Sea, Air, Land) aufgenommen und verlor dort nie einen Mann, selbst bei den riskanten Aufträgen in Beirut. Doch sein neuester Auftrag schickte ihn in die Karibik, in die Tiefe, und dort findet Hiram Coffey seinen Meister.

Die Erbauerinnen

Die Fremdwesen, die im 6600 Meter tiefen Cayman-Graben in der Karibischen See leben, nennen sich selbst „Erbauer der Erinnerungen“. Sie kamen vor langer Zeit von den Sternen, lange vor der Herrschaft des homo sapiens über die Erde. Sie erbauen auf der ganzen Welt in den Tiefseegräben Städte, um mit diesen nach Fertigstellung zu den Sternen zu fliegen. Dort suchen sie sich eine neue Wasserwelt, um weitere Städte zu bauen.

Im Unterschied zu den Menschen verlieren die Erbauerinnen ihre individuellen Erinnerungen nicht mit beim physischen Tod eines Einzelnen, sondern geben sie an die Gemeinschaft zurück. So mehrt die Gemeinschaft ihr Wissen über die Welt, der Tod eines Individuums zählt fast nichts. Mit spezialisierten Typen ihrer Spezies, Trägern und Schwebern, können sie das Wasserreich verlassen, aber die Erbauerinnen selbst sind auf hohen Druck angewiesen und können nicht höher als etwa 700 Meter unter der Wasseroberfläche emporsteigen. Zufällig ist dies genau die derzeitige Betriebstiefe von „Deepcore“.

In den letzten Jahren ist es den Erbauerinnen notgedrungen gelungen, die Kommunikation der Menschenwesen zu entschlüsseln. Diese Wesen laden nicht nur immer mehr giftigen Dreck in die Meere ab, sondern schicken sich auch noch an, sich gegenseitig zu vernichten. Das konnten die Erbauerinnen leicht an den unterseeischen Atombombenexplosionen feststellen. Ein Gleichgewicht der atomaren Abschreckung entstand, das jederzeit kippen konnte.

Als eine Seite der beiden Supermächte einen Satelliten ins All schickt, der gegnerische Atom-U-Boote orten kann, ist die Fähigkeit zum nuklearen Erstschlag gegeben. Um den Ausbruch des atomaren Holocaust zu verhindern, dessen Folgen die Meere vergiftet und entvölkert hätten, schicken die Erbauerinnen jetzt einen Schweber in die Umlaufbahn, der den Satelliten durch Überhitzung zerstört. Dabei wird jedoch leider der Schweber ebenfalls schwer verletzt. Er kann seinen Kurs nicht korrigieren, als er zur Basis im Cayman-Graben zurückkehrt und löst so eine Katastrophe aus.

HAUPTHANDLUNG

Das Atom-U-Boot „Montana“ befindet sich gerade auf der Rückfahrt zur amerikanischen Basis, als es den Cayman-Graben durchfährt. Das Sonar fängt plötzlich fremde Signale auf: feindliche U-Boote, die mit sechzig Knoten durchs Wasser jagen? Captain Kretschmer weiß nicht, was er davon halten soll, aber er geht vorsichtshalber tiefer. Sein Boot kann bis zu 330 Meter tief tauchen, wo der Wasserdruck bereits enorm hoch ist. Doch die „Montana“ hat keine Chance, den Canyonwänden des Grabens auszuweichen, als sie in den Wassersog des dahinschießenden Schwebers gerät. Der Wassereinbruch durch die Kollisionslecks füllt das Schiff binnen Minuten und es trudelt in die Tiefe – mit 92 Atomsprengköpfen an Bord.

Während die Marineleitung noch rätselt, warum ihr Boot gesunken ist („die Russen natürlich, wer denn sonst?“), ist doch völlig klar, dass jemand runtergehen muss, um die Geheimdokumente sicherzustellen, die jedes Atom-U-Boot mit sich führt. Die Top-Secret-Technik und die Codes dürfen auf keinen Fall dem Gegner in die Hände fallen. Die Wahl fällt auf ein SEAL-Kommando unter Lt. Hiram Coffey, dessen leitender Offizier DeMarco sein soll. Sie sollen zu „Deepcore“ tauchen, die sich nur 22 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt befindet und somit als erste und in dieser Tiefe als einzige zum Wrack gelangen kann. Deshalb nehmen die SEALs auch Lindsey Brigman mit an Bord ihres Hubschraubers und bringen sie zum Versorgungsschiff „Benthic Explorer“.

Dessen Kapitän ist nur zu gern bereit, seinem Vaterland zu helfen und somit auch dem SEAL-Team. DeMarco bleibt an Bord, während die vier SEALs an Bord des Tauchboots gehen. Lindsey sieht ihre einzige Chance, ein Wörtchen bei diesem Wahnsinnsunternehmen mitreden zu können und kapert einfach das Tauchboot, als dessen Fahrer sie sich ausgibt. Coffey stört es nicht, solange die komplette Ausrüstung mitkommt. Und ab geht’s!

In der Tiefe

Lindseys Versuche, die Militärs auszuhorchen, werden abgeblockt. Beim Versuch, in einen der Koffer zu schauen, verliert sie fast ihre Zehen. Die Anpassung an das besondere Luftgemisch, das sie in der Bohrstation atmen müssen, um ihre Lungen nicht durch den Druck zu schädigen, dauert acht Stunden – für die Ingenieurin eine Ewigkeit. Als sie die enge Kabine verlassen darf, hat sie für den Vorarbeiter Brigman, ihren Noch-Ehemann, nicht einmal ein „Hallo“ oder „Wie geht’s?“ übrig, sondern versucht sofort, das Kommando über „ihre“ Station zu übernehmen. Das klappt allerdings nicht. Und auch Coffeys Versuch in dieser Richtung scheitert. Der Grund sind die schrägen Typen, die Brigman angeheuert hat. Zivilisten! Sie lassen sich einfach nichts befehlen!

Für Buddy ist es schon schlimm genau, alles stehen und liegen lassen zu müssen, um der Navy zu helfen (die er als Sohn eines Navymannes durchaus versteht). Aber dann auch noch gesagt zu bekommen, was er tun und lassen soll, ist schon eine Zumutung. Seine Stärke besteht jedoch darin, nicht die Autorität, die er besitzt, zu zeigen, sondern seinen Leuten Vorschläge zu machen, die wundersamerweise stets befolgt werden. Was er jedoch inständig hofft, ist, dass Coffey und seine Leute durch die Druckumstellung nicht die NHDS-Krankheit bekommen: Zittern, Schüttelfrost, Paranoia und Wahnvorstellungen.

Er fährt „Deepcore“ 22 Kilometer zum Rande des Abgrunds, in dessen Tiefe die „Montana“ liegt. Weiter geht’s nicht. Mit ausgewählten Leuten begeben sich er, die SEALs und Lindsey zum Wrack hinab. Dort erlebt einer seiner Männer eine merkwürdige Begegnung mit einem Engel. Der Strom fällt aus. Und Lindsey verpasst die Gelegenheit, ein helles Fremdwesen zu fotografieren. Niemand glaubt ihr ihre Geschichte.

Über Wasser

Unterdessen bahnt sich weiteres Unheil an. Der Hurrikan an der Oberfläche steigert sich so stark, dass das Kabel, mit dem das Schiff mit „Deepcore“ verbunden ist, einen 40 Tonnen schweren Kran mit sich in die Tiefe reißt – direkt auf die „Deepcore“ zu. Außerdem kollidieren bereits die ersten amerikanischen mit russischen Kriegsschiffen, die alle die Unglücksstelle umkreisen. Ein bewaffneter Konflikt droht auszubrechen und das bedeutet: Atomkrieg.

Von DeMarco erhält Hiram Coffey den Befehl, seine Mission mit drei Phasen fortzusetzen:

1) Die Geheimdokumente an Bord der „Montana“ sicherstellen und vernichten sowie nach Überlebenden suchen.

2) Einen Atomsprengkopf sicherstellen und an Bord der „Deepcore“ bringen.

3) Mit dem Atomsprengkopf das Wrack der „Montana“ zerstören, damit es nicht dem Feind in die Hände fällt. (Die Explosion würde allerdings auch „Deepcore“ und alle Lebewesen in dieser Gegend vernichten.)

Coffey geht in Phase zwei und alarmiert damit die Erbauerinnen, die jedes Hantieren mit Atomraketen verhindern wollen. Aber können sie auch Phase Drei verhindern?

Mein Eindruck

Das Buch ist noch spannender und bewegender als der Film, und ich habe die 400 Seiten in nur einem Tag gelesen. Den größten Gewinn zog ich dabei aus denjenigen Textteilen, die in dem eh schon stark komprimierten Film fehlen, und zwar auch noch im längeren Director’s Cut.

Die Erbauerinnen

Seit jeher war es mir ein Dorn im Auge, dass die Fremdwesen, die im Buch erstmals als die Erbauerinnen vorgestellt werden, im Film nur eine Statistenrolle als ätherische Märchenwesen einnehmen. Dabei sind sie es doch, die erstens die ganze Rettungsaktion auslösen und zweitens ständig durch ihr Auftauchen Coffeys Verfolgungswahn erzeugen und verstärken, so dass er in Phase Drei geht, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Hier beschreibt der Autor Orson Scott Card, ein fähiger Romanschriftsteller (s.o.), endlich die Gedankengänge der Erbauerinnen und erklärt, wie sich die Fremdwesen verändern. Denn nicht Brigmans Ankunft bei ihnen stimmt sie so friedlich, sondern die ganze Vorgeschichte setzt ihren Lernprozess in Gang.

Gut und böse

Bekanntlich können sie ja Gedächtnisinhalte auslesen, das ist ihre Spezialität. Der erste, dem diese Gunst widerfährt, ist der Unterwasserhorcher Aaron Bates an Bord der „Montana“, den sie in der Sekunde seines Todes ihrerseits „abhören“. Er denkt voller Liebe an seine Frau und sein Baby. Dies ist für die Erbauerinnen der allererste Hinweis darauf, dass die Menschenwesen nicht immer nur einander töten, sondern auch lieben können. Diese neue Erkenntnis lässt sie zögern, die Menschen in „Deepcore“ pauschal zu verurteilen und zu töten. Stattdessen lernen sie, zwischen den friedliebenden „Deepcore“-Mitarbeitern und Coffeys Team zu unterscheiden. Zu ihrem Erstaunen gibt es auch unter den Militärs einen Mann, Monk, der an Coffey und seinem paranoiden Wahnsinn zweifelt. Monk hilft der Besatzung der „Deepcore“. Und die Erbauerinnen helfen dafür ihm.

So erklären sich viele kleine Details, die mir bisher Rätsel aufgegeben haben und die ihr für ausgemachten Hollywood-Blödsinn gehalten habe. Darunter ist der Tauchgang von Brigman und Catfish, die „Deepcore“ ohne Tauchanzug verlassen und ungeschützt und ohne Druckausgleich ins freie Wasser gehen, um den Moonpool zu erreichen. Dort bereitet bekanntlich Coffey alles für die Sprengung des Wracks vor. Wie können es die zwei Männer erstens ohne technische Hilfe und zweitens über diese Distanz schaffen? Die machen ja Superman noch etwas vor. Es geht nur mit der Hilfe der Aliens.

Die Warnung der Erbauerinnen

Dass die Erbauerinnen die Menschheit nicht durch eine 800 Meter hohe Tsunami vernichten, sondern die Riesenwelle kurz vor den Küsten der Welt zum Stehen bringen, sieht man nur im Director’s Cut. Dennoch verwundert die ganze Sache. Wozu und warum belassen es die Aliens bei dieser Warnung? Brigman ist kein solcher Schmusebär, dass er die Aliens mit ein paar getippten Worten an seine Frau und mit ein paar atemlosen Japanern in 6600 Metern Tiefe zu friedliebenden Menschenfreunden bekehrt hätte.

Ketzerei

Der Grund für die Verschonung der Menschen liegt in einer epochalen weiteren Erkenntnis der Erbauerinnen. Eine von ihnen hat realisiert, dass das Gedächtnis, jene heilige Erinnerung, eines Menschen mit seinem Tod stirbt und nicht weitergegeben wird (außer durch das Auslesen durch Erbauerinnen). Daher spielt es für ein Menschenleben eine weitaus größere Rolle, ob er auch eine ZUKUNFT hat. Diese Zukunft wird beispielsweise durch Kinder gewährleistet, vor allem aber durch ein langes Leben.

Wer aber sind sie denn, dass sie sich über die Menschen erheben und darüber urteilen können, ob dieser oder jener Mensch eine Zukunft haben soll oder nicht? Die Ketzerin, die diese Gedanken äußert, hätte eigentlich schon längst wieder resorbiert werden sollen. Aber in der Krise finden ihre häretischen Gedanken Gehör. Die Menschheit – und natürlich auch Brigman – bekommen eine letzte Bewährungschance, einen Aufschub.

Alle diese Gedanken lassen sich mit den Bildern des Films nur unzulänglich andeuten. Dass es unter den Aliens Abweichler gibt, können wir uns anhand des Films nicht einmal vorstellen. Darin liegt der eigentliche Wert der Romanfassung, die Card hier vorlegt.

Authentizität

Die technischen Details, die im Film und Buch erwähnt werden, beruhen nicht auf Science Fiction, sondern auf schon 1989 vorhandener Technologie. Selbst die die Flüssigkeitsatmungstechnik im Film ist authentisch und kein Spezialeffekt. Sie wird in Kap. 7 des Buches anhand von Quellen belegt. Auch die Informationen über das NHDS-Syndrom, das Coffey zum Verhängnis wird, werden detailliert belegt und begreiflich gemacht. Durch Informationen dieser Art wirkt das Buch realistischer als der Film selbst.

Die Menschlichkeit der Figuren

Der Hauptvorzug des Buches gegenüber dem Film liegt in der größeren Tiefe der menschlichen Figuren. Denn alle drei Hauptfiguren verändern sich ja im Laufe der Handlung. Ihre Beweggründe können im Film schlecht erkannt und nachvollzogen werden, sollen sie sich nicht in lächerlichen Monologen à la „Hamlet“ selbst erklären. Monologe sucht man auch im Buch vergeblich, denn diese Erklärungsaufgabe übernimmt der Autor als Erzähler selbst.

Nun ging mir endlich auf, warum es für Bud Brigman so einen großen Akt der Selbstüberwindung darstellt, wenn er Flüssigkeit atmet. Es erinnert ihn an sein Jugendtrauma des Ertrinkens und an seine Mitschuld am Tod seines Bruders. Beides muss er überwinden, und das ist wohl schwerste von allem.

Auch Lindsey Brigman, geb. Thomas, muss sich überwinden. Denn nur so kann sie in der Gemeinschaft der „Deepcore“-Crew und unter dem Angriff der aggressiven SEALs überleben. Sie geht auf Coffey los, so impulsiv wie immer, und übersieht die Pistole hinterm Rücken des Mannes. Brigman bewahrt sie vor einem frühen Tod. Er ist der stets besonnene Anker in ihrem Leben. Bis sie dies erkennt, muss er sich erst ebenso in Lebensgefahr befinden wie sie selbst. (Wenn der Atomsprengkopf in der Tiefe explodiert, geht auch sie drauf. Außerdem geht die Atemluft an Bord „Deepcores“ zur Neige.)

Coffeys Entwicklung von einem besonnenen SEAL-Führer zu einem paranoiden, unter dem NHDS-Syndrom zusammenbrechenden Einzelkämpfer ist nur im Buch richtig nachzuvollziehen. Wenn man zudem berücksichtigt, dass er von jenen Autoritätspersonen abgeschnitten ist, die ihm bisher Befehle erteilt haben, so kommt er einem zudem hilflos vor. Das bedeutet aber nicht, dass wir mit ihm großes Mitleid haben, als er in der Tiefe umkommt.

Die Nachworte

1) Von James Cameron

Was Cameron in seinem kurzen Nachwort erzählt, ist schier unglaublich. Hier handelt es sich nicht um eine simple „Romanfassung“ (novelization) des Films, sondern um ein eigenständiges Buch, das auf den Videobändern und dem Drehbuch beruht, die Card auswertete. Die ersten Kapitel jedoch, in denen der Roman die drei Hauptfiguren vorstellt, finden sich in diesen Vorlagen nirgends. Sie sind eigenständige Erfindung des Autors.

Das Besondere geschah danach: Cameron gab diese drei Figurenbiografien seinen Hauptdarstellern Mastrantonio (Lindsey Brigman) und Ed Harris (Buddy) zu lesen und sie übernahmen sie für ihre eigene Darstellung dieser Charaktere, weil sie sie so plausibel fanden! Sie befruchtete der Film das Buch und umgekehrt.

2) Von Orson Scott Card

Card berichtet, wie und warum er sich dazu bereiterklärte, dieses Buch zu schreiben – er weigerte sich nämlich stets, „Romanfassungen“ zu schreiben, die gleichzeitig mit dem Film als PR-Material auf den Markt geworfen werden. Das Manuskript wurde erst am 3. April 1989 beim Verlag abgeliefert, rund vier Monate nach dem vertraglich vorgesehenen Abgabetermin. Deshalb stimmt das Buch auch akkurat mit dem überein, was im Film (Langfassung) zu sehen ist. Das wäre bei einer vorab auf Drehbuchbasis hingeschluderten Romanfassung nicht möglich gewesen.

Card beschreibt, wie eng er mit James Cameron und dessen Assistant Director Van Ling zusammenarbeitete, um alle technischen Details mitzubekommen sowie die Motivationen der Figuren zu ergründen. So versichert Card, dass die Flüssigkeitsatmungstechnik im Film authentisch ist. Sie wird in Kap. 7 des Buches anhand von Quellen belegt. Durch Informationen dieser Art wirkt das Buch realistischer als der Film selbst.

Der Dreh in Gaffney, South Carolina, dauerte sechs Monate, und die Crew wie auch die Schauspieler wurden zu Teams zusammengeschweißt, die wesentlich bessere Arbeit leisteten als Einzelkämpfer. Hier erwiesen sich Mastrantonio und Ed Harris als herausragende Schauspieler von großem Mut und der Bereitschaft zu riskantem körperlichem Einsatz. Card habe seine Figuren nur nach dem Spiel dieser Darsteller glaubwürdig gestalten können. Nur durch Ed Harris’ Spiel sei ihm klargeworden, warum Bud Lindsey liebt. Das stehe nämlich nicht im Drehbuch.

Er dankt auch Michael Biehn, der seine Rolle so komplex anlegte, dass sein Coffey nicht zur Karikatur eines militärischen Bösewichts wurde, sondern zu einem Menschen, dessen Verhalten man nachvollziehen kann. Das gefiel mir am Film bislang ebenfalls nicht, aber jetzt ist mir Coffeys Verhalten begreiflich.

3) Die Liste der Rollen und Schauspieler

Card listet die 36 Schauspieler auf, die nicht nur im Film mitspielten, sondern mit ihrer Darstellung wesentlich zur endgültigen Textform des Buches beitrugen. Wer diese Liste vor dem Buch liest, macht sicher keinen Fehler, sondern kann den Figuren auch Gesichter zuordnen.

Dieses Bonusmaterial lässt sich zum Teil durch die Dokumentationen auf der Special Edition der DVD ergänzen.

Unterm Strich

Zum Glück für den Leser handelt es sich um einen richtigen Roman und nicht um eines jener armseligen Machwerke, die auf der Grundlage des Drehbuchs vor Fertigstellung des Films geschrieben werden und nur der Werbung dienen. Cards Roman ist ein eigenständiges literarisches Werk, das seinerseits den Film beeinflusst hat – was ja selten genug vorkommt. Der Roman liefert nicht nur eine tiefere Verständnisebene für die Erbauerinnen und die menschlichen Figuren, er ist auch genauso spannend und actionreich wie der Film von James Cameron selbst. Nur die vielen Druckfehler in der Übersetzung trüben das Vergnügen.

Taschenbuch: 415 Seiten
Originaltitel: The Abyss, 1989
aus dem US-Englischen von Thomas Schichtel und Thomas Görden
ISBN-13: 978-3404132461

www.luebbe.de

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